St. Pauli, meine Freiheit

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Dann gab es kein Amen mehr

Wie sollte es nach dem Abitur weitergehen? Viele Jugendliche aus meiner Gemeinde gingen auf Bibelschulen und wollten ihr Leben ganz in den missionarischen Dienst für die Sache Gottes stellen. Ich wollte den Wald retten. Das Waldsterben war in den 1980er-Jahren das wichtigste ökologische Thema. Aus Sicht der frommen Kreise, in denen ich aufwuchs, musste das allerdings eine vergebliche Mühe sein. Diese Erde werde untergehen, so stand es doch in der Apokalypse des Johannes.

Für mich aber war der Wald mein Freund, die Natur mein Zufluchtsort. Meine Einsamkeit, die ich als einer unter Vielen in der Gruppe schmerzhaft spürte, fand bei Waldwanderungen ihren Frieden. Ich habe mir damals eine Lodenjacke gekauft. Hoch aufgeschossen und schmal, wie ich war, muss ich in meinem grünen Mäntelchen eine merkwürdige Erscheinung gewesen sein.

Während mein Bruder seinen Wehrdienst leistete und Panzerketten schmierte, hatte ich schon mit 16 meine Verweigerung handschriftlich eingereicht. Damals musste man noch vor ein Komitee Uniformierter treten und die Beweggründe für die Verweigerung persönlich darlegen. Ich berief mich auf die Bergpredigt Jesu und das Wort „Selig sind die Friedensstifter“. Von meiner Gemeinde gab es keine Unterstützung für die Kriegsdienstverweigerung. Während sich andere Pastoren und Gemeinden gerade in den 70er- und 80er-Jahren ganz deutlich mit pazifistischen Haltungen zeigten, wurde bei uns nach dem Römerbrief des Paulus, 13. Kapitel, gelehrt, man solle der Obrigkeit untertan sein. Zudem verteidigte ja die Bundeswehr unser Land gegen den Überfall des Kommunismus, dem großen Feindbild der konservativen Christen. Aber wer den Dienst mit der Waffe verweigerte, der galt in meiner Gemeinde als Drückeberger. Einer, der keinen Mut hatte, einer, der den bequemsten Weg wählte.

Meinen Zivildienst leistete ich nach dem Abitur im Geistlichen Rüstzentrum Krelingen. Dieser Name muss alle, die nicht zu den inneren Zirkeln der Frommen gehören, vor den Kopf stoßen. Ein Zivildienstleistender im Rüstzentrum. Gemeint war natürlich die geistliche Rüstung nach Epheser 6,11: „Ziehet die volle Waffenrüstung Gottes an, damit ihr gegen die listigen Anläufe des Teufels zu bestehen vermögt.“

Das Rüstzentrum verstand sich als Glaubenswerk. Den über 20 Zivis wurde klar gemacht, dass es hier nicht um Dienst nach Vorschrift geht, sondern sich alle mit Herz und Seele einsetzten in einem Dienst für Gott. Das bedeutete 24 Stunden einsatzbereit, alle sechs Wochen ein freies Wochenende mit Familienheimfahrt.

Ich arbeitete mit psychisch Kranken und Drogenabhängigen in Therapiegruppen zusammen. Eine Baumschule gab den Rahmen. Rehabilitanden setzten Stecklinge mit zitternden Händen. Heulende Männer, Hippies aus den 70ern, die deutlich älter waren als ich oder auch Gleichaltrige, die schon viel durchgemacht hatten. Für sie da zu sein, sie zu lieben wie Gott uns in Jesus Christus liebt, das war meine Aufgabe. Ihre Verrücktheiten zu ertragen, ihre Launen, das war mein Alltag. Immer noch besser als Panzerketten schmieren, dachte ich. Und ich war auch stolz darauf, es für Gott zu tun. Für die Stabilen unter den Therapierten bildeten eine Putenfarm und ein Tischlereibetrieb den Rahmen. Die ersten Nachrichten von AIDS erreichten uns, der Virus tötete viele. Die Infizierten zu kasernieren und zu isolieren war politisch im Gespräch, als Forderung der Bauern auch in dem benachbarten Heidedorf. Unsere Einrichtung widersprach dieser Hysterie. Das fand ich stark. Mich bedrückte allerdings, dass der Virus als Schwulenseuche bezeichnet wurde und als Strafe Gottes. Heute verstehe ich, dass ich damals von vielen schwulen Männern umgeben war. Aber alles war tabuisiert.

Der Einsatzleiter der Zivildienstleistenden war ein Mann, der sieben Jahre in russischer Kriegsgefangenschaft in Sibirien zugebracht hatte. Ich habe gesehen, wie er den Ratten im Kartoffelkeller mit der Hand das Genick gebrochen hat. Dann hielt er das Tier wie eine Trophäe hoch und zeigte unter dem Applaus des Küchenpersonals grinsend sein Goldzahnsortiment. Zivis waren für ihn, den ehemaligen Wehrmachtssoldaten, alle zu verachtende Weicheier. Als wir im Winter eine Straße pflastern mussten, viel zu dünn angezogen bei Minusgraden und ohne Arbeitshandschuhe, ich schlotterte am ganzen Körper, meine Finger waren ohne jedes Gefühl, da passierte es: Ein befreundeter Zivi aus dem frommen Schwabenland schaute mir lange in mein trauriges Gesicht und gab mir schließlich einen Kuss auf den Mund. Mitten am Tag, während die Schneeflocken aus dem Himmel fielen, jede Flocke wie ein Gruß von ganz oben. Mich verwirrte das alles. Vielleicht habe ich das verdrängt, aber ich habe es nie vergessen. Einmal vertraute ich mich einem Seelsorger an und sprach ihm gegenüber unter Tränen und zitternd meine Befürchtung aus, ich könne schwul sein. Er beruhigte mich: ich solle nur eifrig beten, das sei eine Phase, die vorüberginge.

Später hatte ich mich verliebt in einen anderen Zivildienstleistenden. Ich hatte noch keine Sprache für diese Liebe zu einem Mann. Ich hielt das für tiefe hingebungsvolle Freundschaft. Mein Angehimmelter war in seiner Entwicklung deutlich weiter als ich und hatte einen Mann seiner Liebe, der war als Volontär in Taizé. In dieser ökumenischen Kommunität, vor der uns unser Pastorenpaar gewarnt hatte. Evangelisch und Katholisch – das ging doch nicht zusammen. Taizé sollte wichtig für mich werden.

Als Zivildienstleistender hatte ich 24 Stunden Dienst. Wenn einer der Bewohner eine Krise hatte, es waren psychisch Kranke mit Drogenerfahrungen, dann kamen sie über Nacht auf das Zimmer eines Zivis, damit die Betreuer ihre Ruhe hatten. Oft war ich ratlos überfordert. Die Ausbrüche, die Krämpfe, die stundenlangen Gespräche unter Tränen. Übermüdet musste ich den kommenden Morgen wieder funktionsfähig sein. Beten und arbeiten. Es gab kaum etwas, was man Freizeit nennen konnte. In seltenen Momenten lief ich kilometerweit in den Wald. Schwitzend und meine Lungen spürend, fragte ich mich selbst und betete es in den Himmel: Welchen Sinn macht das alles und wohin soll ich?

Erst langsam und zaghaft kam mir der Gedanke, ich könnte Theologie studieren.

In der Einrichtung gab es die Sprachschüler, die ein sogenanntes Vorstudium absolvierten. Das war eigentlich dazu gedacht, alle angehenden Pastoren so in ihrer Frömmigkeit zu festigen, dass sie ihren Glauben nicht an der Uni verlieren würden. Die Universität galt den Frommen als Hort des Unglaubens, manche nannten es den Herrschaftsbereich Satans.

Zu dem Studienjahr gehörte es, das Hebraicum und das Graecum zu erwerben, obligatorisch für ein Theologiestudium. Ich verabredete mit mir: Sollte es mir trotz meiner schlechten Erfahrungen mit Latein gelingen, diese zwei anderen antiken Sprachen zu lernen, würde ich den Mut für ein Theologiestudium aufbringen. Denn die angehenden Theologiestudierenden fand ich sympathisch. Sie teilten in nächtlichen Gesprächen bis zum Morgengrauen meine Fragen und meine Suche nach dem Sinn des Lebens. Ihr Mut und ihr frischer Geist taten mir gut. Noch mit Erde unter den Fingernägeln nach einem langen Tag in der Arbeitstherapie hatte ich bald Vokabelkarten in der Hand und lernte Hebräisch.

Jeden Moment, morgens als erstes, auch auf der Toilette, abends im Bett, bis mir die Augen zufielen und die Lernkarten aus der Hand. Und dann kam der Tag der Prüfung. Als Externer war ich zugelassen und ich machte es gut.

Dann lernte ich Altgriechisch. Mein während der Schulzeit ertrotztes Neugriechisch half mir, aber es war dennoch hart für mich, auf das Niveau von Platons Schriften zu kommen. Ich war am Limit. Ausgerechnet da verliebte ich mich in einen hellblonden, bebrillten Jungen, der sowohl Frauen als auch Männer liebte und das ganz offen zugab.

Eines Abends wollte ich ihn spontan besuchen – Mobiltelefone gab es ja noch nicht –, ging einfach zu ihm und sah in das Fenster seines Zimmers. Was ich sah, entsetze mich. Er tauschte Zärtlichkeiten mit einer Frau aus, einer Schönheit aus dem Dorf. Ich konnte es nicht ertragen. Ich hatte doch gelernt, dass das Sünde sei, was ich dort sah. Aber ich war auch einfach eifersüchtig. Verwirrt lief ich zu meinem Studienleiter, vor ihm stammelnd, was ich dort gesehen hatte. Dass war eine unruhige Nacht. Über die Konsequenzen war ich mir gar nicht bewusst. Mein Freund wurde rausgeschmissen, und ich hatte ihn verraten. Als ich ihn später an seinem Studienort besuchte, war er mir gar nicht böse. Das sei das Beste gewesen, was ihm hätte passieren können, meinte er. Diese fromme Enge sei für ihn ohnehin nicht zum Aushalten gewesen, und dann lachten wir und spürten unsere Freiheit.

Täglich arbeiteten wir Zivis mit den Männern, die schon Psychiatrien und Entziehungskuren hinter sich hatten. Mit manchen freundete ich mich an. Manche Jungs waren ja kaum älter als ich, hatten aber schon harte Sachen mit Drogen erlebt. Jens war im dritten Lehrjahr in der Tischlerei. Als er bei einer Heimfahrt nach Bremen einen Rückfall mit Heroin hatte und zurück in der Einrichtung einen „Affen schob“, also alle Entzugserscheinungen von Krämpfen, Schlaflosigkeit und Übelkeit durchmachte und ich ihm beistand, da hatte der Hausvater kein Verständnis. Er habe seine Chance gehabt, sie aber nicht genutzt. Jens wurde rausgeschmissen. Der Hausvater gab ihm zwei Plastiktüten, mehr brauchte er nicht für seine Sachen. Ich fand das unglaublich hart und ungerecht. Wo sollte der Junge denn hin? Von niemandem konnte er sich verabschieden.

Ich habe dann herausgefunden, dass er bei Bekannten im Nachbarort untergekommen war, dort besuchte ich ihn auch. Dann war er wegen Gelbfieber im Krankenhaus, auch dort besuchte ich Jens. Wenige Wochen später kam die Nachricht, dass er sich aus Verzweiflung einen Goldenen Schuss gesetzt hatte. Da war Jens schon unter der Erde. Man hatte uns nicht über den Termin für seine Trauerfeier informiert. Mit Jens Tod hatte die ganze fromme Einrichtung für mich ihre Glaubwürdigkeit verloren. Ja, der Schnitt ging noch tiefer. Diese ganze Frömmigkeit empfand ich nun als verlogen. Von der Liebe Gottes reden und dann jemanden wie einen Hund davonjagen. Ich konnte mir selbst kaum zuhören, wenn ich betete. Meine frommen Worte klangen hohl. Ich war hungrig nach Wahrheit und fand sie nicht mehr bei den Frommen, mit denen ich doch aufgewachsen war.

 

Als ich eine freie Woche im Februar hatte, ergab sich eine spontane Mitfahrgelegenheit nach Taizé, eine ökumenische Kommunität, in der sich Jugendliche aus ganz Europa trafen. Mitten in der Nacht wurde ich an einer Autobahnraststätte rausgelassen, keine 20 Kilometer entfernt sollte dieses Dorf Taizé sein. So wanderte ich die ganze Nacht durch den Regen, der auf die burgundischen Weinberge fiel, mich auf den Beinen haltend mit Gebeten. Am nächsten Morgen kam ich in Taizé an, völlig erschöpft, aber glücklich.

In den kalten Februartagen waren wenige Dutzend junge Menschen dort, während sich im Sommer Tausende in diesem kleinen burgundischen Dorf versammeln. Ich traf den Peter, der mit meinem Stefan zusammen war. Die sehr einfachen Unterkünfte waren unheizbar, aber die Wärme der herzlichen Gastfreundschaft machte alles wett. Ich saß in den Andachten, sang die einfachen Gesänge mit und Tränen lösten sich. Die Lieder von Taizé wurden meine Gebete. Eine ganz andere Gebetssprache als die, die ich kannte. Ich erlebte das wie eine Befreiung von der Geschwätzigkeit. Einfache Worte, die genug Raum lassen für das Hören. Denn das ist es doch, das Beten: Nicht Reden, sondern Hören.

Eines Abends hatte der Prior der Kommunität die wenigen jungen Gäste zum Kakaotrinken eingeladen. Das sei eine besondere Ehre, wurde uns von den Volontären vermittelt. Frère Roger, damals schon ein alter Mann mit einem gütigen Gesicht, nahm sich tatsächlich Zeit für jeden. Wir wechselten ein paar Worte, ich weiß nicht mehr, was ich gesagt habe. Aber es war ein Moment miteinander schweigen und sich nahe sein. Dann zeichnete der weise Mann ein Kreuz in meine Handfläche. Diesen Segen spüre ich bis heute bei mir.

So sehr für mich die alte Frömmigkeit, mit der ich aufgewachsen war, zerbrochen war, fand ich jetzt Neues, und die Angst wich. Nachdem ich Hebräisch und Griechisch absolviert hatte, war der Weg frei zum Theologiestudium. Ich reiste einigen Studenten nach, mit denen ich mich angefreundet hatte. Ehrlich eingestanden: Es war besonders einer, in den ich mich verliebt hatte. Heidelberg war unser Studienort, ideal für alle verliebten Romantiker und Geisteswissenschaftler. Weit genug weg von meinem Dorf und der Enge, der ich entkommen war. In meiner Gemeinde wurde ja allen jungen Menschen angeraten, zur Bibelschule zu gehen. Das taten auch viele. Ich war der einzige aus dem Kreis, der evangelische Theologie an einer Universität studierte. Das wurde nicht gerne gesehen. Meine Eltern haben mir nicht besonders vermittelt, dass sie dahinter stehen würden. Waren sie stolz, dass beide Söhne jetzt Akademiker wurden? Meine Mutter hielt mehr von zupackenden Handwerkern. Schon über die Ärzte spottete sie als Krankenschwester. Die würden zwar meinen, alles besser zu wissen, hätten aber keine Ahnung. Hätten ihre Söhne nicht besser Klempner oder Tischler werden können? Mutter nahm kein Blatt vor den Mund. Mein Vater aber sah in unserem Weg das verwirklicht, was ihm als jungem wissbegierigen Mann verwehrt blieb. Die Weite der Bildung. Wie meine Eltern es geschafft haben, uns beide finanziell im Studium zu unterstützen, das weiß ich immer noch nicht. Aber ich bin sehr dankbar. Mein Bruder wurde Lehrer, ich wurde Pastor. Es war nicht ihr Stil, uns zu loben. Dann hätten sich ihre Söhne noch dem Stolz hingegeben und gemeint, etwas Besseres zu sein. Meine Schwester machte aus Sicht meiner Mutter wenigstens etwas Anständiges, sie wurde Krankenschwester, wie es meine Mutter war.

In Heidelberg hatte ich nur wenig Geld für eine Studentenbude. Mein erstes Zimmer war in einem Keller in Ziegelhausen. Ich hatte einige Plakate aufgehängt, doch der Raum war so feucht, dass diese sich nicht an den Wänden halten konnten. Als die Seiten der Bücher und Hefte sich vor Feuchtigkeit wellten, zog ich aus. Meine nächste Behausung war in Schlierhausen in einer Wassermühle. Das Klo war die halbe Treppe runter, zum Duschen musste ich ins Schwimmbad. Ein Ölofen erwärmte den Raum unzureichend.

Ich liebte die weiten Wälder in den Hügeln des Neckartals. Stundenlang lief ich bergauf, bergab. Dort fühlte ich mich frei und Gott nahe.

Einer meiner ersten Freunde in Heidelberg war Christian, ein Student aus Togo. Er war sicherlich der erste, der mich in Verbindung mit dem afrikanischen Christentum brachte, mit dem ich aber auch tiefe philosophische Gespräche führte. Einmal waren wir fein essen, nahmen aber beim Blick auf die Preise das bescheidenste Gericht.

Wie mussten wir lachen, wir armen Studenten beim Anblick von drei hausgemachten Ravioli. Unsere Wege sollten sich immer wieder kreuzen, auch später in Hamburg. Suchte ich zuerst noch Anschluss an einen Hauskreis im Stil meiner frommen Herkunft, so war mir das bald zu eng. In der Studierendengemeinde im Karl-Jaspers-Haus fand ich den freien Geist, den ich brauchte. Die ersten Semester habe ich jeden Morgen gebetet, dass mir die Vorlesungen und Seminare nicht den Glauben rauben mögen. Es hat einige Semester gebraucht, bis ich diese Angst überwunden hatte.

Meine Wohnsituation verbesserte sich, als ich in die Pfaffengasse 4 einzog. Ein kleines Zimmer in einem alten schiefen Haus mit knarzenden Dielen. Aber mitten in der Altstadt am Neckar gelegen. Hier war das Paradies meines Studentenlebens. Das Theologische Seminar befand sich nur ein paar Straßenzüge entfernt, und schon beim Brötchenholen traf ich andere Geisteswissenschaftler und hatte schon die ersten Diskussionen.

Ich war so gierig nach Bildung. Warum habe ich eigentlich Theologie studiert? Um den Dingen auf den Grund zu gehen. Es stand alles auf dem Spiel. Entweder finde ich ein Gottvertrauen, das mich trägt, oder ich werde Atheist. Meine Frömmigkeit war ja erschüttert. In diese Enge des Glaubens gab es kein Zurück. Fast peinlich war mir, mit wie viel Naivität im Bibellesen ich aufgewachsen war, erst langsam ging mir auf, wie eng und ängstlich mein Weltbild war. Ich habe nicht vielen davon erzählt und auch jetzt fällt es mir noch schwer, davon zu schreiben. Gleichzeitig weiß ich, dass es heute noch viele gibt, die in dieser engen Frömmigkeit leben. Ich will sie nicht verachten und nicht beleidigen. Aber ich danke Gott, dass er mich von frommer Überheblichkeit bekehrt hat und von Angst befreit. Aber das war kein einfacher Weg.

Einmal kam ich einen Samstagabend wieder mit in die Gebetsstunde meiner alten Heimat. Da saßen wir 20 Leute im Kreis und beteten reihum. Wer mit Amen endete, dessen Gebet wurde von den anderen mit einem kräftigen Amen bestätigt. Als ich dran war und Worte suchte und auch fand – aber es waren andere Worte, als sie in der Gebetssprache der Gemeinde üblich waren – da endete ich mit Amen. Und nur mein Bruder bestätigte mit Amen, er war der einzige. Die anderen schwiegen. Da gab es kein Amen mehr. Sie ließen mich spüren, dass ich nicht richtig lag. Ich gehörte nicht mehr dazu. Das war ein eiskalter Ausschluss aus der Gemeinde, mit dem ich lange zu kämpfen hatte.

Später hatte ich noch einmal versucht, mit meinem Pastor zu sprechen. Ich brauchte ein Empfehlungsschreiben für die Liste der Theologiestudierenden meiner Landeskirche. Schließlich hatte ich meine ganze Jugend über ehrenamtlich im Kindergottesdienst, in der Jungschar und bei den sommerlichen Zeltmissionen auf den Campingplätzen mitgearbeitet. Mein Pastor redet freundlich im Gespräch, fängt an, in eigenen Erinnerungen aus seiner Studienzeit zu schwelgen, so als wäre er mir und meiner Erfahrungswelt ganz nahe. Am Tag darauf halte ich das Empfehlungsschreiben in meinen Händen. Es ist in einem neutralen Umschlag. Ich soll ihn weiterleiten an das Landeskirchenamt. Nun bin ich einfach zu gespannt und öffne das Dokument, um zu lesen, welche empfehlenden Worte der Mann findet, der meine geistliche Autorität in der Kindheit war. Die Zeilen enttäuschen mich. Ich kann es gar nicht fassen. Das ist keine Empfehlung. Das ist eine Absage. Da steht „für den Gemeindedienst nicht geeignet“. Allenfalls eine wissenschaftliche Laufbahn traut mir der Seelsorger zu, der mich und meine Familie so gut kennt. Das trifft mich hart.

Vom Elfenbeinturm in den Busch

Zurück in Heidelberg stürze ich mich in die Welt des Wissens. Neues Testament bei Klaus Berger, dessen trockenen Humor ich geliebt habe, besonders bei seinen Nikolausvorlesungen. Sozialgeschichte des Neuen Testaments bei Gerd Theißen, dessen Buch „Im Schatten des Galiläers“ mir die Welt von Jesus geöffnet hat. Altes Testament bei Rolf Rendtorff. Ihm verdanke ich auch, schließlich als Gasthörer an der Hochschule für jüdische Studien eingeschrieben zu sein, wo ich wunderbare Dozenten hatte. Kirchengeschichte bei Ritschel und Ritter. Konfessionskunde hatte ich bei dem alten Friedrich Heyer, mit dem ich eine unvergessliche Exkursion 1989 zu den orthodoxen Klöstern des Balkans machte.

In Siebenbürgen sahen wir, wie Menschen in langen Warteschlangen um Lebensmittel anstanden, nicht wissend, auf welches Produkt. Stundenlang. Man war zufrieden, war es Seife, war es Brot. In Rumänien waren wir umgeben von Geheimpolizei, die Stimmung war nervös. Auf den Campingplätzen trafen wir ausreisewillige DDR-Bürger, die über Ungarn weiter wollten, um die Grenze nach Österreich zu überqueren.

Meinen 24. Geburtstag feierte ich am 9. September 1989 in Sofia, einen roten Anstecker am weißen Hemd. Es war bulgarischer Nationalfeiertag, und eine Waffenparade marschierte durch die Hauptstadt. Wenige Wochen später sollte der Ostblock aus den Fugen geraten.

Der Höhepunkt unserer Reise war die autonome Mönchsrepublik Athos im Norden Griechenlands. Wild und urtümlich war der Athos damals. Ich war ja damit groß geworden, dass wir die Frommen sind und die anderen die Ungläubigen. Jetzt erlebte ich, dass wir in einigen Klöstern zu spüren bekamen, dass wir Protestanten als Häretiker angesehen wurden. Mit strengen Blicken wiesen uns Mönche den Vorraum der Kirche zu, um der göttlichen Liturgie beizuwohnen.

Das serbische Kloster Chilandar hat uns freundlich aufgenommen. Nächtliche Stunden habe ich im Flackern der Bienenwachskerzen und im Weihrauchduft vor der uralten Christusikone verbracht. Eine fremde Glaubenswelt, in der ich doch Tiefe und Vertrauen finden konnte. Bis heute zeichne ich das Kreuz in der Weise der Ostkirche auf meinen Körper. Von oben nach unten. Von rechts nach links. Und dann bleibt meine Hand auf meinem Herzen ruhen. Wenn die Orthodoxie doch nicht so konservativ und nationalistisch wäre!

Unvergesslich ist mir das klösterliche Anwesen Megali Jovannitsa, das der deutsche Mönch Vater Panteleimon mit schwäbischer Gründlichkeit wiederaufgebaut hatte. Wir halfen ihm im Olivengarten. Von diesem Gottessucher, der aus der Hektik ausgestiegen war, erlernte ich das Herzensgebet, eine uralte Gebetstechnik der Mönche, die mit dem Atmen arbeitet.

In Jugoslawien sahen wir, wie die Menschen ihre Geldscheine in die Brunnen warfen. Eine Hyperinflation hatte den Dinar abstürzen lassen. Wir ahnten nicht, dass auch dieser Staat in den Folgejahren auseinanderbrechen würde.

Zurück in Heidelberg: Als am 9. November 1989 die ersten Nachrichten vom Mauerfall zu hören waren, konnten wir es kaum glauben. Unsere litauischen Nachbarn brachen in Jubel aus und feierten in der kleinen Pfaffengasse. Bald zogen Hunderte zum Bismarckplatz, wo eine jubelnde Spontandemo stattfand. Mich hat der Erfolg der friedlichen Revolution tief beeindruckt. Waren es doch mutige Menschen, die von der Stasi bespitzelt wurden und sich nicht haben einschüchtern lassen. Es waren Kirchen, in denen sich zuerst Menschen zu Montagsandachten versammelten und deren Mut wuchs, anschließend Lichter auf die Straßen zu tragen. Schweigend. „Meine Kraft ist in den Schwachen mächtig“ (2. Korinther 12,9). An dieses Bibelwort muss ich denken. Das gefällt mir: Kirchen als widerstandsfähige Orte, als Orte des Vertrauens, wo Menschen träumen und hoffen dürfen, und dann das befreiende Handeln so selbstverständlich daraus wächst.

Unsere Familie war durch die innerdeutsche Grenze zerrissen. Die Schwester meiner Mutter war meiner Großmutter von den Nazis entzogen worden und ist als Zwangsadoptierte in der DDR aufgewachsen. Mein Cousin diente bei der NVA, mein Bruder bei der Bundeswehr. Zwei feindliche Lager, die sich im Kalten Krieg gegenüberstanden. Es macht mich dankbar, dass ich diesen historischen Moment erleben durfte. Auch wenn später mit der deutschen Wiedervereinigung nicht alles gut lief, und wir heute mit Erschrecken sehen, wie sich Nationalismus in Ost und West breit macht. Und wie viele neue Mauern und Grenzen zwischen Menschen und in den Köpfen errichtet werden. Damals spürten wir den Wind der Freiheit, der durch die Geschichte wehte.

 

Nachdem ich einige Bücher von Martin Buber gelesen hatte, knüpfte ich Kontakte zum Martin-Buber-Haus in Heppenheim an der Bergstraße, nicht weit von Heidelberg entfernt. 1923 hatte Buber dort seine philosophische Hauptschrift „Ich und Du“ verfasst.

Mich faszinierte das Dialogische Prinzip Bubers, der einmal schrieb, „ich habe keine Lehre, aber ich führe ein Gespräch“. In der Begegnung von Ich und Du trifft sich das Ewige Du, Gott selbst. Buber war Dialogiker und hatte verstanden, dass die Menschen Gott viele Namen gegeben hatten, es aber um das eine Prinzip ging: Ein Gott, der von keinem in Besitz genommen werden kann, sondern der sich ereignet. Ein Gott, der nicht gedacht werden kann abseits des Zwischenmenschlichen. Das fand ich überzeugend.

Wir gründeten einen Lesekreis an der Studierendengemeinde, um den jüdischen Religionsphilosophen gemeinsam zu lesen. Durch die Seminare an der Hochschule für Jüdische Studien entdeckte ich den reichen Schatz jüdischer Kultur und Geisteswissenschaft. Von einem Studienjahr in Israel hatte ich gehört, Freunde bereiteten sich darauf vor. Und bald saß ich fleißig mit ihnen zusammen und lernte Neuhebräisch.

In den Semesterferien wollte ich endlich nach Israel und den Sohn Martin Bubers, den 90-jährigen Rafael Buber besuchen. Ich hatte kein Geld für einen Flug. Also kam ich per Bahn nach Athen und lief über den Hafen von Piräus nach Haifa aus. Geschlafen habe ich an Deck. Israel war aufregend. Sengende Hitze und alles war so laut und aggressiv in meinen europäischen Ohren. Ich war unglaublich fasziniert und gleichzeitig abgestoßen von Jerusalem. Der Geruch von arabischem Kaffee und Gewürzen im Basar. Dieses Stimmengewirr auf der Via Dolorosa an einem Freitag, wenn die christlichen Pilgergruppen mit Holzkreuzen die Stationen des Leidenswegs von Jesus begehen, die orthodoxen Juden an die Westmauer eilten und die muslimischen Araber zum Freitagsgebet an der Al-Aqsa Moschee auf dem Tempelberg. Alle drei Glaubensrichtungen sehen sich als Kinder Abrahams und laufen doch aneinander vorbei. So viel ernsthafte Gottessucher, Freidenker und Individualisten. Andererseits so viel religiöse Rechthaberei und Selbstbehauptung. Auch die Christen mit ihren Streitigkeiten untereinander um Privilegien in der Grabeskirche gaben für mich kein gutes Beispiel. Heilige Steine und heilige Orte, um die erbittert gekämpft wird. Das kann für mich nicht im Sinne Gottes sein.

In Jerusalem ging mein Wunsch in Erfüllung: Rafael Buber, der den philosophischen Nachlass seines Vaters hütete, empfing mich. Zwei Stunden habe ich diesem beeindruckenden Mann zuhören dürfen, der als junger Zionist in den 1920er-Jahren einen Kibbuz gegründet hatte, während sein Vater noch lange an die deutsch-jüdische Symbiose glaubte und erst 1938 in das britische Mandatsgebiet Palästina auswanderte.

In diesen heißen Sommertagen in Israel kam die Nachricht, dass Saddam Husseins Irak das benachbarte Kuwait besetzte. Bald wurden Skud-Raketen auf Israel abgefeuert und Saddam drohte, die Juden mit Giftgas zu töten. Zurück in Deutschland sah ich, wie Gasmasken an die Bevölkerung Israels verteilt wurden. Da entschied ich mich mit schwerem Herzen gegen ein Studienjahr in Israel und habe das später bereut. Immer wieder habe ich dieses Land besucht und dort wunderbare Menschen kennengelernt, Juden, Christen und Muslime, Israelis und Palästinenser. Die meisten meiner Gesprächspartner hatten eine tiefe Sehnsucht nach Frieden und Zukunft. Als Deutscher ist es besonders gut, zuzuhören. Es braucht Geduld, die Widersprüche auszuhalten. Mich hat immer enttäuscht, wenn ich Deutsche gehört habe, die den Besserwisser gaben und schnelle Urteile über Israel sprachen. Ich denke, wir sollten gerade wegen der deutschen Geschichte eine besondere Verantwortung tragen.

1989 gärte es in Südafrika, das menschenverachtende System der Rassentrennung sollte bald zusammenbrechen. Nelson Mandela wurde nach Jahrzehnten im Gefängnis 1990 endlich frei gelassen. Mit ein paar Freunden, Christian Ayivi war dabei, gründeten wir ein autonomes Seminar Afrikanische Theologie. Wir wollten afrikanische Stimmen hören. Wir wollten wissen, wie die Menschen in Afrika glauben und wie sie die Bibel lesen. In meiner Gemeinde war Afrika allenfalls der finstere Kontinent, der von uns Europäern missioniert werden muss. Im Geistlichen Rüstzentrum wurde sogar die Meinung vertreten, dass die Rassentrennung gottgewollt sei. Mir wurde immer klarer, dass diese Frömmigkeit, in der ich großgeworden war und die immer gegen die Politisierung der Kirche anwetterte, selbst politisch war und zwar fest im konservativen Lager. Nun stand ich auf der anderen Seite.

Eine Welle der Hoffnung ging bis zu uns, dass sich Gerechtigkeit doch gegen übermächtige Gewalt durchsetzen kann. Das Christentum gehört doch nicht den Europäern, davon waren wir überzeugt. Es gab einen Professor, der seine Türen weit für uns öffnete: Theo Sundermeier, Religions- und Missionswissenschaftler, der lange in Südafrika und Namibia gelebt und gelehrt hatte. Ich verstand mehr und mehr, dass man mich völlig eurozentrisch erzogen hat. Als würde das Christentum alleine den Europäern gehören. Eine ganze Entwicklung der Theologien Afrikas, aber auch Lateinamerikas hatte man mir in der Gemeinde vorenthalten. Aber auch die Bürgerrechtsbewegung in den USA der 1960er-Jahre mit einem Martin Luther King an der Spitze hatte nie Erwähnung gefunden im Mund meines Pastors. Meinen heimatlichen frommen Kreisen war das alles viel zu links. Theologen, die die Machtfrage stellen und den Systemwechsel wollen – sind das nicht Kommunisten?

Theo Sundermeier verstand meine inneren Erschütterungen und mein Erwachen genau, weil er in seiner Jugend selbst ähnlich geprägt worden war und sich auch freikämpfen musste.

Seit den 60er-Jahren hatte sich eine Befreiungstheologie zuerst in der Katholischen Kirche, dann auch unter Protestanten entwickelt, die sich an die Seite der Armen stellte. Was die alten Propheten Israels und Jesus von Nazareth über Machtmissbrauch und Unterdrückung sagte, das wurde für die Befreiungstheologen zur Quelle der Interpretation der unterdrückerischen Machtverhältnisse in der Gegenwart. Befreiung aus unfreien Verhältnissen war der rote Faden, den die Befreiungstheologen in der Bibel fanden.

Gott selbst stellt sich an die Seite der Armen. Mich hat das als Student inspiriert zu einer Zeit, als in den Seminaren und Vorlesungen die feministische Theologie hoch im Kurs stand. Befreiung war das Lebensgefühl und unsere Generation war fest entschlossen, die Zukunft mitzubestimmen.

Gott steht an der Seite der Armen und Unterdrückten, diesen Grundsatz vertrat auch die Black Theology in Südafrika. Ihre Impulsschrift war das Kairos-Dokument, das 1985 von afrikanischen Theologen in Soweto herausgegeben wurde. Die Bibel wurde für die Gegenwart gelesen. Hatten wir das nicht auch getan in unseren frommen Kreisen? Ja, aber es blieb eben immer bei persönlichen Themen, alles hatte sich um das Sündenbewusstsein und die Heilsgewissheit des Einzelnen vor Gott gedreht. Gesellschaftliche Fragen kamen nicht vor. Und jetzt zu erleben, wie mit der Bibel die gesellschaftlichen Machtverhältnisse in Frage gestellt wurden – das fand ich faszinierend.

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