Die Untermieter

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Hedda hatte immer schon eine Art Sonderstellung in ihrer Klasse. Vom ersten Tag an verhielt sie sich sehr schüchtern und zurückhaltend, den Jungen wie den Mädchen gegenüber. Eigentlich wollte sie gerne dazu gehören, aber sie traute sich einfach nicht, offensiv auf die anderen zuzugehen. Auch glänzte sie nicht unbedingt durch modische Auffälligkeiten, womit sie vielleicht noch Sympathien hätte einfangen können. Ihre Mutter legte keinen Wert auf hübsche Kleidung für ihre Tochter, da das nur unnötig Geld kosten würde. Hedda bekam gerade das, was wirklich erneuert werden musste, aber bestimmt keine große Auswahl, um eventuell abwechslungsreich kombinieren zu können. Freundschaften konnte sie auch am Nachmittag zu keinem Mädchen aufbauen, was die Hemmungen in der Klasse vielleicht zu überwinden geholfen hätte, da ihre Mutter es kompromisslos verboten hatte, irgendjemanden, auch kein Mädchen, mit nach Hause zu bringen. Als es dann mit den Jungs losging, war Hedda nur noch Luft für die anderen. Die Mädchen hatten genug damit zu tun, sich gegenseitig ihr neuestes Outfit zu präsentieren und sich über die Spielchen und Erlebnisse mit den Jungs auszutauschen. In sämtlichen Pausen hockten sie zusammen und kicherten und tuschelten. Da störte so eine wie Hedda nur, die eh nichts mit Jungs am Hut hatte und sowieso ‘rum lief wie aus dem letzten Jahrhundert.

„Aber was mach’ ich mir eigentlich Gedanken?“ setzte Heddas Mutter noch hämisch nach. „So hässlich, wie du aussiehst - dich nimmt sowieso keiner.“

Hedda spürte beängstigende Beklemmungen in ihrer Brust, sobald Elke die Wohnung betrat. Wie ein Damoklesschwert lastete die erdrückende Kritik auf ihr. Hörte sie auch nur den Schlüssel in der Tür, schloss sie sich sofort in ihr Zimmer ein, um sich nicht der völligen Vernichtung preiszugeben. Von Elke hatte sie nichts Gutes mehr zu erwarten. Für Hedda gab es keine Zweifel mehr. Elkes Zuneigung von einst, wenn es überhaupt je eine ehrliche gegeben hatte, war jetzt in Verachtung umgeschlagen. Dies am eigenen Leib spüren zu müssen, hatte Hedda als sehr grausam empfunden. Aber das letzte Gespräch war deutlich genug gewesen.

Das war nicht nett von ihr, kreiste es ihr ständig durch den Kopf. Mich so zu behandeln. Diese Heuchlerin.

Hedda musste sich vor Elke schützen. Sie wusste ja nicht, was sie sonst noch zu befürchten hatte.

Mittlerweile war Hedda sehr froh darüber, dass Elke nur noch zum Kleiderwechseln nach Hause kam. So konnte sie sich die übrige Zeit einigermaßen frei durch die Zimmer bewegen. Spazieren ging sie nicht mehr, das war vorbei, danach stand ihr der Sinn jetzt überhaupt nicht mehr. Wollte sie sich dennoch ein paar schöne Augenblicke verschaffen, ging sie in Elkes Zimmer und kniete sich vor deren Glasvitrine nieder. Wie gebannt, schaute sie dann hinein und war sofort magisch angezogen von jedem einzelnen Exemplar dieser wunderschönen Kleinode, die sie in eine berauschende Traumwelt führten und sie mitnahmen, weit fort von hier, auf eine unbekannte schöne Reise voller faszinierender Abenteuer. Diese kurzen Momente waren die einzigen, die Heddas Kümmernis in diesen Tagen zu besänftigen vermochten.

An einem dieser Tage, es war ein warmer Sommertag, öffnete sie das Fenster. Elke war an diesem Wochenende nicht nach Hause gekommen, und die Luft war sehr stickig in dem Zimmer. Hedda stellte sich an das offene Fenster und spürte den warmen Wind, wie er ein wenig frische Luft hereinbrachte. Warm und sanft streifte er ihr Gesicht. Sie schloss die Augen und fühlte sich ganz leicht, so leicht, wie lange nicht mehr. Hedda hielt den kleinen Elefanten mit der goldenen Verzierung in ihrer Hand. Sie hatte sich erlaubt, die Glasvitrine zu öffnen und ihn herauszunehmen. Mit ihren Fingern betastete sie die Unebenheiten dieser kunstvollen Schnitzerei. Der kleine Elefant sah wirklich wunderschön aus. In ihren Gedanken flog sie mit ihm weit über die Dächer davon in ein fernes Land.

In dem Moment trat Elke in die Tür. Hedda hielt die Luft an. Sie hatte sie nicht kommen hören.

„Was machst du in meinem Zimmer?“ Elke war sichtlich erstaunt. Ihr Blick wanderte von Hedda auf die offene Glastür ihrer Vitrine und dann wieder zurück zu Hedda.

Diese stand wie gelähmt am Fenster. Was sollte sie jetzt tun? Sie wusste sich nicht zu verhalten. Einfach aus dem Zimmer hinauszulaufen, erschien ihr absolut unmöglich, da Elke noch immer in der Tür stand. Die Vorstellung, ihr so nah zu sein und sich dem Risiko einer strafenden Reaktion aus nächster Nähe auszusetzen, machte sie unfähig, auch nur einen Schritt in Elkes Richtung zu wagen. Sie senkte den Kopf, um dem fordernden Blick auszuweichen, zu sehr fühlte sie sich ertappt, etwas Unrechtes getan zu haben. Die prekäre Situation und ihre verräterischen hektischen Flecken am Hals - deren aufsteigende Hitze sie nur allzu gut kannte - waren unmissverständlich.

Heddas Knie zitterten, ihr Herz klopfte wie verrückt.

Langsam drehte sie sich zum Fenster, um es wieder zu schließen. Sie beugte sich ein wenig hinaus, um mit ihrer ebenfalls zitternden Hand einen der beiden Fenstergriffe zu erreichen. Ihre andere Hand hielt immer noch den kleinen Elefanten fest umklammert.

Mit einem Male hörte sie hinter sich Elke weiter in das Zimmer hinein treten und direkt auf sich zukommen. Hedda zuckte zusammen und erschrak fürchterlich. In dem Augenblick glitt ihr unversehens der Elefant aus der Hand und fiel hinab in die Tiefe.

Hedda sperrte geschockt ihren Mund auf. Für Sekunden schien ihr Herz stillzustehen. Sie starrte dem Elefanten nach, wie er in rasender Geschwindigkeit hinabstürzte. Dann riss sie ruckartig ihren Kopf zu Elke herum, die jetzt mitten im Zimmer stand und immer noch auf eine Antwort wartete. Schweißperlen benetzten Heddas Stirn.

„Der Elefant ... er ...“, haspelte sie in panikartiger Erwartung auf das, was jetzt kommen würde, „er ... er ist mir aus der Hand gefallen.“

„Er ist was? ... Mein Elefant?“ Elke stürzte in einem wütenden Ansturm zum Fenster, schob Hedda unsanft zur Seite und beugte sich suchend hinaus.

Mit zusammengepressten Lippen und eingezogenen Schultern stand Hedda eingeschüchtert hinter ihr und fixierte ängstlich gebannt den vornüber geneigten Körper direkt vor sich. Im nächsten Augenblick befand Elke sich bereits im freien Fall. Hedda starrte erschrocken auf das offene Fenster vor sich. Bei dem Geräusch des Aufpralls zuckte sie unwillkürlich zusammen. Der Hauch einer fernen Erinnerung hatte sie für einen kurzen Moment gestreift, war aber ebenso schnell wieder verschwunden, wie er gekommen war.

„Wie kann man nur so leichtsinnig sein?“ Der Polizist schaute aus dem einen Fenster und blickte verwundert entlang der Scheibe des zweiten geschlossenen Fensterflügels. Zu Hedda gewandt sagte er: „Stellen Sie lieber den Putzeimer weg, bevor Ihnen noch das Gleiche passiert. Sie stehen ja noch richtig unter Schock, so bleich wie Sie immer noch aussehen.“ Er nahm den Eimer von der Fensterbank und reichte ihn Hedda.

Dann ging er durch das Zimmer. „Hatte sie Verwandte?“

„Das weiß ich nicht“, antwortete Hedda.

„Und irgendwelche Habseligkeiten?“

„Nein, nur ihre Kleidung.“

„Und was ist mit diesem Glasschrank hier?“

Hedda zuckte zusammen. „Oh, der Glasschrank ... der gehört mir“, antwortete sie hastig.

„Sehr schöne Sachen.“ Bewundernd beugte der Polizeibeamte sich zur Vitrine hinunter. „Sehr ausgefallen.“

Hedda atmete auf. „Ja, das stimmt, es sind wirklich schöne Sachen“, bestätigte sie mit einem leisen Lächeln im Gesicht. „Die habe ich mir alle von meinen Reisen mitgebracht. Ich finde, der Schrank macht sich in diesem Zimmer besonders gut.“

Er nickte und ging. „Das war’s dann wohl. Auf Wiedersehen.“

Das Jammertal

Wie sollte es jetzt weitergehen? Das Zimmer war wieder frei, und Hedda stand vor der Entscheidung, weiter alleine zu leben oder neu zu vermieten.

In sich versunken saß sie an ihrem Küchentisch und grübelte. Sie hatte sich einen Tee gekocht. Eigentlich hasste sie derartige Überlegungen, die von lebensentscheidender Bedeutung waren. Ob richtig oder falsch stellte sich ja leider immer erst hinterher heraus; nur war es dann bereits zu spät und sie musste mit den Konsequenzen leben. Und die waren meist nicht ohne. Aber das vorher schon genau abwägen und beurteilen zu können, war für Hedda schier unmöglich, da sie mit allen Entscheidungen endlos zauderte. Blitzeinfälle hatte sie leider nur sehr selten. So plagte sie sich oft sehr lange mit solchen grundsätzlichen Fragen wie dieser jetzigen Klärung ihrer weiteren Lebensplanung.

Hedda nahm die wärmende Teetasse in beide Hände und ließ den heißen, aromatischen Dampf in die Nase strömen. Sie dachte zurück an die Zeit, als ihr die Arbeit gekündigt wurde, an dieses öde Leben in Einsamkeit und Schwermut, völlig isoliert von allem, was lebendig war. So wie es jetzt aussah, war sie bedauerlicherweise zurückgekehrt an genau diesen Punkt. Die Aussicht allerdings, die Gefühle dieser Zeit würden wieder Besitz von ihr ergreifen, bestärkten sie in der Entscheidung, sich der drohenden Einsamkeit nicht wieder auszusetzen. Nie wieder wollte sie in einer derartigen Monotonie des tristen Daseins, in der die Sinne verkümmerten, weil das natürliche Licht an Bedeutung verlor und sie nur noch von starrer Finsternis umgeben war, dahinvegetieren.

Also hielt sie sich noch einmal vor Augen, welche Vorteile ihr die Zimmervermietung einbrachte. Das Zusammenleben mit Elke war eigentlich - unterm Strich betrachtet - für Hedda eine positive Erfahrung gewesen. Gut, es hatte einen Bruch zwischen ihnen gegeben, und das plötzliche Ende war auch nicht vorauszusehen gewesen; doch die gemeinsame unbeschwerte Zeit davor mochte sie auf keinen Fall missen. So vergnügliche Stunden wie mit Elke waren ihr in ihrem bisherigen Leben noch nie vergönnt gewesen. Und wenn sie ehrlich war, musste sie zugeben, dass sie mit Elke eine sehr glückliche Zeit hatte, auch wenn sie die Kränkung später aufs Tiefste getroffen hatte.

 

In Erinnerung an die mit Frohsinn erfüllten Tage ergriff Hedda ein starkes Verlangen, wieder in einen Taumel von Glückseligkeit und heiterer Stimmung mitgerissen zu werden. Da sie aber keine Person war, die sich auf den Weg gemacht hätte, das Glück zu suchen, geschweige denn, sich irgendwelchen anderen Menschen aufzudrängen oder gar selbst die Initiative zu ergreifen, jemand Fremden anzusprechen, musste sie einen unüblichen Weg beschreiten, um Kontakte zu knüpfen. Die Idee mit den Untermietern schien ihr daher nach wie vor am geeignetsten. Sie musste lediglich wieder ihr Zimmer in der Zeitung anbieten. Dann konnte sie in aller Ruhe zu Hause abwarten, bis sich die Interessenten von sich aus meldeten und zu ihr kamen.

Hedda nahm einen Schluck Tee. Doch es sollte schon wohldurchdacht sein, diesen Schritt ein zweites Mal zu wagen, wollte sie nicht noch so einen Reinfall erleben.

Unaufhörlich kreisten die Gedanken durch ihren Kopf. Eigentlich - wenn sie es so recht überlegte - hatte bei der Sache doch zweifelsohne sie die bessere Position. Genau genommen handelte es sich hier nämlich um ein Machtverhältnis zu ihren Gunsten. Schließlich war sie diejenige, die das Zimmer vermietete, in ihrer Wohnung. Vielleicht müsste sie nur an ihrem bisherigen Auftreten etwas verändern, damit ihre Untermieter sich ihr gegenüber nicht so respektlos verhielten, wie Elke es getan hatte.

Hedda saß da und überlegte weiter. Der Schlüssel lag für sie in dem Wort Untermieter. Wenn also die Personen, die bei ihr einzogen, ihre Untermieter waren, dann müsste Hedda ja logischerweise die Obermieterin sein.

Sie stellte ihre Teetasse auf den Tisch und richtete sich kerzengerade auf. Ihre Augen funkelten. Wieso war sie da nicht schon früher drauf gekommen? Die Fakten waren so eindeutig und klar. Die anderen waren demnach abhängig von dem, was sie ihnen gewährte, wen und was sie in ihrer Wohnung duldete. In dem Wort Untermieter lag die genaue Zuordnung unten, demnach wäre sie oben. Das musste sie sich von nun an immer vor Augen halten und denen, die hier einziehen wollten, ganz klar zum Ausdruck bringen.

Ein leicht hämisches Grinsen lag in ihren Mundwinkeln. Es hatte schon etwas Erhabenes, diese neue Sichtweise der Verhältnisse: Endlich einmal zu denen gehören, die auf der Oberseite sind. Und außerdem, die monatlichen Mieteinnahmen wollte sie bei ihren Überlegungen nicht ganz außer Acht lassen. In ihrer jetzigen Situation war es nicht unerheblich, neben den bescheidenen Bezügen, die ihr das Arbeitsamt gewährte, ein paar Euro zusätzlich im Portemonnaie zu haben.

Also setzte Hedda wieder eine Annonce in die Zeitung.

Verena Martens gefiel das Zimmer sofort. Sie machte auch gleich beim ersten Kennenlernen einen sehr netten Eindruck. Hedda konnte sich gut vorstellen, diese Frau in ihrer Wohnung um sich zu haben: Eine ruhige freundliche Person, Nichtraucherin, nicht aufdringlich, die gerne mit einer anderen Frau zusammenwohnen möchte, um auch mal jemanden zum Plaudern zu haben. Besser hätte Hedda es gar nicht treffen können.

In dem ersten Gespräch erzählte sie Hedda, dass sie aus Berlin, aus Ostberlin stamme. Dort hätte sie ehemals eine eigene Zweizimmerwohnung gehabt, damals, als sie noch Arbeit hatte, in einem Konstruktionsbüro für Maschinenbau. Eine Liebe hätte sie dann vor zwei Jahren in diese Stadt geführt. Leider wäre diese vor ein paar Monaten zerbrochen, und somit sei das Leben in der gemeinsamen Wohnung unerträglich geworden. Von daher wäre es ihr sehr dringlich, etwas anderes zu finden. Beruflich hätte sich zum Glück schon eine Veränderung ergeben.

„Ich bin total froh, dass das Arbeitsamt mir eine Umschulung angeboten hat“, sagte Frau Martens. „Sonst würde ich wahrscheinlich nur frustriert herumhängen.“

„Und was lernen Sie da für einen Beruf?“ erkundigte sich Hedda.

„Na ja, Beruf ist wohl etwas hoch gegriffen“, meinte Frau Martens. „Das Ganze läuft ja nur über ein Jahr, dafür aber total intensiv. Es ist eine Umschulung im Graphikbereich, sehr vielschichtig. Vielleicht habe ich ja damit eine Chance, mir hier eine neue Existenz aufbauen zu können. Wer weiß? In der Werbebranche oder ähnliches, das wär’ schon toll.“

Hedda überlegte: „Aber dann wissen Sie noch gar nicht, wo Sie hinterher arbeiten werden, oder?“

„Nein, leider nicht. Man könnte sagen, dass ich mich derzeit in einem Schwebezustand befinde“, versuchte Frau Martens ihre momentane Situation zu erklären. „Es ist leider noch alles völlig ungewiss, wie es genau weitergeht, sei es beruflich oder auch privat. Und da ich vom Arbeitsamt nur auf Sparflamme gehalten werde, bleibt mir auch nichts anderes übrig, als so ein einfaches Zimmer wie dieses zur Untermiete zu nehmen, sozusagen als Übergangslösung.“

„Heißt das, Sie wollen hier nur kurz wohnen?“ fragte Hedda etwas besorgt.

„Das kann ich nicht genau sagen“, antwortete Frau Martens ehrlich. „Es ist, wie gesagt, alles offen, wie es weiter gehen wird. Ob ich später eine Arbeit finde oder nicht, das kann ich heute auch noch nicht abschätzen. So rosig sieht es im Moment jedenfalls nicht aus, das haben sie mir schon verkündet. Na ja, und was das Wohnen betrifft, zurzeit fände ich es jedenfalls ganz schön, mit jemandem zusammenzuwohnen, da ich mich in dieser Stadt noch nicht so eingelebt habe, dass ich mich alleine wohl fühle.“

„Aber hatten Sie nicht gesagt, Sie leben schon seit zwei Jahren hier?“ fiel Hedda ein.

„Ja schon, aber mein Freund und ich haben uns leider immer sehr abgekapselt von allem. Heute bedauere ich das natürlich“, gab Frau Martens zu verstehen.

„So, wie das klingt, was sie da erzählen, wird es wohl doch noch einige Zeit dauern, bis sich bei Ihnen eine Lösung gefunden hat, oder?“ versuchte Hedda ein wenig Klarheit in die Sache zu bringen. Sie hatte eigentlich gehofft, dass sich bei ihr eine melden würde, die vorhatte, länger bei ihr zu wohnen.

„Ja, ich denke schon.“ Frau Martens nickte wohlwollend mit dem Kopf. „So wie es aussieht, bleibt mir nichts anderes übrig. Grundsätzlich möchte ich ja doch großzügiger leben, als nur einen kleinen Raum zur Verfügung zu haben. Aber was soll ich machen? Also, Frau Siebert, wenn Sie damit leben können, dass es unklar bleibt, wie lange ich bei Ihnen wohne, dann würde ich das Zimmer gerne nehmen.“

Hedda war einverstanden. Am ersten September sollte der Einzug sein. Ein paar Tage vorher wollte die neue Untermieterin noch einmal vorbeikommen, um das Zimmer genau auszumessen. Bei dieser Gelegenheit - Hedda hatte ihr einen Kaffee angeboten - einigten sich beide darauf, sich bei ihren Vornamen zu nennen. Und da die neue Mieterin auch schon auf die fünfunddreißig zuging, und beide somit altersmäßig nicht allzu weit auseinander lagen, bereitete es Hedda keine Probleme, Verena zudem noch zu duzen.

„Ich würde gerne ein paar eigene Möbel mitbringen, wenn du nichts dagegen hast“, bat Verena, als sie sich noch einmal in dem Zimmer umschaute. „Die brauche ich unbedingt zum Arbeiten. Viel passt hier ja sowieso nicht mehr ‘rein. Die restlichen Sachen lasse ich dann im Keller bei meinem Freund ... äh ... Exfreund natürlich“, grinste sie Hedda für den Versprecher an.

Hedda hatte zwischenzeitlich die Glasvitrine aus dem Zimmer genommen und bei sich aufgestellt, so dass der Platz jetzt wieder frei war. Warum sollte die Neue also nicht auch etwas Eigenes hineinstellen? Hedda fand zwar, dass ihre Möbel ausreichen müssten, aber gegen ein wenig Individualität war natürlich nichts einzuwenden.

Verena brachte einen Schreibtisch und Stuhl, einen kleinen Schrank, eine Art Vertiko, einen Fernseher, ein etwas älteres Modell, dessen Rückwand sich bereits zum Teil gelöst hatte, und ein paar Topfpflanzen mit. Obwohl sie den runden Tisch von Hedda in den Keller stellten, wurde es doch etwas enger in dem Zimmer.

„Eigentlich entspricht es ja gar nicht meinem Lebensstil, so klein, so eng. Aber das wenige Geld. Wohl oder übel muss ich mich dem leider fügen“, seufzte sie laut vernehmbar.

Hedda ging durch den Raum und schaute sich um. „Wieso, ich finde es ganz hübsch.“

Am nächsten Morgen musste Verena gleich wieder ihrer Arbeit nachgehen, also zur Schule. Sie dürfe nur äußerst selten fehlen, da waren die Auflagen vom Arbeitsamt sehr streng, andernfalls hätte sie das Pensum nicht erfüllt und müsse zudem die Kosten rückwirkend erstatten, erzählte sie Hedda. „Es ist unwahrscheinlich anstrengend, aber ich muss zugeben, auch absolut interessant“, fügte sie noch schnell hinzu, bevor sie die Wohnung verließ.

Als Verena die Tür ins Schloss fallen ließ, saß Hedda immer noch am Küchentisch und trank ihren Morgenkaffee. Wie beim ersten Mal, als Elke eingezogen war, stellte sich wieder dieses wohlige Gefühl ein. Sie holte tief Luft und gab einen zufriedenen Laut von sich. Die wärmende Kaffeetasse in beiden Händen haltend, lächelte sie in sich hinein. Ja, sie freute sich, nicht mehr alleine zu sein. Ihr Entschluss, es noch einmal zu versuchen, war doch der Richtige gewesen.

Sie träumte ein wenig vor sich hin. In ihrer Phantasie stand ihr eine interessante, erlebnisreiche Zeit bevor. Sie träumte davon, mit Verena nachmittags gemütlich zusammen zu sitzen, ein paar selbstgebackene Kekse zu essen, Tee zu trinken und ein wenig über die Welt und das Leben im Allgemeinen zu plaudern. Sie stellte sich gemeinsame Ausflüge vor oder dass sie auch mal gemeinsam ins Kino gehen würden. Hedda war noch nie in einem Kino gewesen, alleine traute sie sich nicht und könnte es wohl auch nicht genießen. Aber zusammen mit Verena! Hedda erinnerte sich an das erste Gespräch, in dem Verena selbst betont hatte, dass sie alleine wäre und Kontakt suche. Sicherlich wäre sie sonst auch nicht in ihrem Alter noch zu einer Fremden in die Wohnung gezogen. In den prächtigsten Farben malte sich Hedda einen gemeinsamen Sonntag aus: strahlender Sonnenschein, blauer Himmel, saftige Wiesen, ein Blumenmeer wie im Bilderbuch – und mittendrin Verena und sie, vertieft in anregende Gespräche. Eine schöne Vorstellung. Mit verklärtem Blick verweilte sie in ihren Träumen.

Dann stand sie auf, ging über den Flur und öffnete die Tür zu Verenas Zimmer. Es sah wirklich gemütlich aus. Der Schreibtisch und die passende Kommode dazu, die jetzt Bürosachen enthielt, waren alte Möbel, aber noch gut erhalten. In die Türen waren feine Intarsien eingearbeitet, und die Schlösser hoben sich durch ausgefallene Messingbeschläge hervor. Verena hatte beim Einzug erwähnt, dass diese Möbel alte Erbstücke von ihrer Oma seien.

Hedda stand mitten im Zimmer. Ein sonderbarer Geruch stieg ihr plötzlich in die Nase. Sie konnte ihn nicht genau definieren, irgendwie durchdringend, stechend, vielleicht auch etwas modrig, jedenfalls sehr unangenehm. Ob es die Möbel der Oma waren? Hedda verzog ein wenig das Gesicht. Sie würde sich schon daran gewöhnen, beschloss sie dann und verließ den Raum.

Verena kam erst gegen Abend nach Hause. Hedda saß in der Küche am Küchentisch und schmierte sich ihr Abendbrot. Sie bot Verena höflich an, mit ihr zu essen, was diese auch dankend annahm, da sie bisher noch nicht dazu gekommen war, etwas einzukaufen und sich in der Küche einzurichten.

Verena hatte Lust, ein wenig zu plaudern. Die beiden kannten sich ja noch kaum, und so eine Gelegenheit, gemütlich beim Essen, war günstig, sich ein wenig näher zu kommen.

Sie erzählte von ihrer Schule, von den interessanten Fächern, den neuen Möglichkeiten, auf dem Computer graphische Zeichnungen und Trickfilme produzieren zu können. Und sie erzählte von ihrer Heimat, vom Osten, wie es früher war noch zu DDR-Zeiten und wie sich alles mit der Wende verändert hatte. Von den Hoffnungen auf ein freies, großzügiges Leben, die sich augenscheinlich für sie nicht wirklich erfüllt hatten, betrachtete man ihre gegenwärtige Situation, mit der sie sich nur schwer abzufinden schien. Ihr leidender Gesichtsausdruck bei ihren Worten machte es deutlich. Er brachte etwas Anklagendes zum Ausdruck, als wenn die Welt doch sehr ungerecht mit ihr verfahren würde. Andererseits erlebte Hedda Verena bisher als eine Frau, die sehr klar ihre Wünsche und Forderungen aussprach.

„Und was machst du immer so den ganzen Tag?“ fragte Verena nach einer Weile. „Du bist doch auch arbeitslos. Gibt es für dich keine Stelle?“

 

„Nein, leider nicht“, gab Hedda wehmütig zurück.

„Und hast du schon mal an eine Umschulung gedacht?“ brachte Verena als Idee.

„Eine Umschulung? So wie du?“ Hedda schüttelte den Kopf. „Nein, ehrlich gesagt nicht. Ich wüsste auch gar nicht, was mich da interessieren würde.“

Verena runzelte skeptisch die Stirn. „Kannst dich ja mal erkundigen, irgendwas haben die bestimmt für dich.“

Insgeheim spürte Hedda eine innere Abneigung, alleine sich vorzustellen, sich noch einmal der schrecklichen Tortur einer Lehrzeit mit verbundenem Prüfungsstress unterziehen zu müssen. Mit Grauen dachte sie an die angstbesetzte Zeit zurück, damals nach dem Schulabgang, als sie täglich mit Magenschmerzen zur Arbeit ging, immer mit der Sorge im Bauch, den Anforderungen der Lehrstelle und der damit verbundenen Berufsschule nicht zu genügen, immer mit den Zweifeln im Kopf, irgendetwas falsch zu machen und den Abschluss nicht zu schaffen.

Als sie mit dem Abendbrot fertig waren, stand Verena auf. „Vielen Dank für das Essen“, sagte sie. „Morgen gehe ich dann endlich einkaufen und besorge mir selbst was.“

Hedda lächelte ihr nach, als sie aus der Küche ging. Es war wirklich schön, nicht mehr alleine zu sein.

In der Tür wandte Verena sich dann noch einmal kurz um.

„Ach, bei der Gelegenheit, ich wollte dir noch etwas zu heute Morgen sagen“, begann sie einleitend. „Ich habe eine viertel Stunde warten müssen, bis du im Bad fertig warst. Das geht nicht. Weißt du, es kann absolut nicht sein, dass du hier morgens um die Zeit das Bad besetzt hältst, wenn ich zur Schule muss. Das müssen wir anders regeln.“

Hedda lief es heiß und kalt den Rücken herunter. „Äh, ja“, stotterte sie etwas irritiert, „ja natürlich, daran habe ich nicht gedacht. Ich gehe dann eben nach dir ins Bad, wenn du fertig bist. Morgens habe ich es ja nicht so eilig.“

„Außerdem“, fügte Verena mit Nachdruck hinzu, „das habe ich dir noch gar nicht gesagt: Ich brauche einen Platz im Keller für mein Fahrrad. Letzte Nacht hat es draußen gestanden. Das geht auf keinen Fall, mein Fahrrad muss unbedingt in den Keller.“ Und damit verließ sie die Küche.

„Mach’ sofort die Tür auf und komm da ‘raus!“ Heddas Vater donnerte mit der Faust an die Badezimmertür. „Hast du mich verstanden? Ich sagte sofort!“

Einen bitterbösen Blick einfangend, schlich sie sich an ihm vorbei.

„Verdammt noch mal“, passte Heddas Mutter sie an der Küchentür ab, ehe sie wieder in ihr Zimmer verschwinden konnte. „Was fällt dir ein, das Bad zu besetzen, wenn du genau weißt, dass dein Vater zur Arbeit muss? Wie oft soll ich dir das eigentlich noch sagen? Du hast gefälligst zu warten, bis er fertig ist. Wie siehst du eigentlich aus?“ Ihre Mutter hielt sie an der Schulter fest und betrachtete mit finsterer Miene Heddas Kopf. „Was hast du mit deinen Haaren gemacht? Soll das ‘ne neue Frisur sein? Das eine sage ich dir: So gehst du mir nicht aus dem Haus!“

In Heddas Klasse waren zurzeit alle Mädchen auf einem Kosmetiktrip. Sie schminkten sich, lackierten ihre Fingernägel und stylten ihre Haare neu. Die Lehrer schmunzelten nur über diese neue Modewelle in der Klasse. „Vorpubertäre Phase“, blinzelten sie sich zu. Den Mädchen ging es weniger darum, den Jungen zu gefallen, als mehr um den Spaß, etwas Neues an sich auszuprobieren und sich großartig und vielleicht auch ein wenig erwachsener zu fühlen. Und wenn Hedda schon kein Geld für Schminksachen bekam, so wollte sie doch zumindest ihre Frisur etwas verändern, um nicht ganz abseits zu stehen. Es bereitete ihr sogar großen Spaß, sich im Spiegel zu betrachten und verschiedene Frisuren auszuprobieren. Sie entschied sich für einen ausgefallenen Zopf, so einen wie sie ihn bei einem Mädchen aus den höheren Klassen gesehen hatte. Sie band einen Teil ihrer Haare mit einem Gummiband schräg oben am Kopf zusammen. Wie ein Springbrunnen teilten sich die Haare und fielen zur Seite herunter.

„Das sieht ja richtig lächerlich aus“, setzte Heddas Mutter noch hinterher. „Und dafür besetzt du stundenlang das Badezimmer.“ Unsanft stieß sie Hedda von sich. „Sieh’ ja zu, dass du das wieder wegmachst. Du bist noch nicht mal zwölf und fängst schon an, dich den Männern anzubiedern. Muss ich dir das auch noch austreiben? Erledige lieber deine Sachen hier zu Hause. Du hast gestern die Küche nicht gewischt. Meinst du, ich merke das nicht? Die Wäsche ist auch noch nicht fertig gebügelt. Mach nur so weiter. Ich werd’s dir schon zeigen, wie du hier zu parieren hast. Du weißt genau, ich brauch’ nur ein Wort zu deinem Vater zu sagen, und er prügelt dich windelweich.“

Verena kam jetzt zwar regelmäßig nachmittags nach Hause, aber zu den ursprünglich angedachten Plauderstündchen kam es leider nicht mehr. Das ausführliche Gespräch am ersten gemeinsamen Abend hatte somit eine Ausnahme gebildet, sehr zum Bedauern von Hedda. Einzig, wenn Hedda ihr am Nachmittag oder Abend etwas anbot, ein Stück Kuchen oder einen Salat, setzte sich Verena zu ihr und sie unterhielten sich ein wenig. Mit der Zeit stellte Hedda allerdings fest, dass ihre Angebote Verena weniger zur Kommunikation dienten, als mehr dem Zwang Geld zu sparen, da sie ihre eigenen Vorräte dann nicht anzurühren brauchte.

Schon nach kurzer Zeit war Hedda es jedoch leid, ihre Untermieterin durchzufüttern, da auch die Gespräche sich sehr schnell als äußerst belanglos herausstellten. Verena fiel leider nicht viel mehr ein, als in erster Linie wiederholt ihre bescheidene Situation zu beklagen oder sich über irgendwelche ungerechten Behandlungsweisen von Behördenmenschen zu beschweren, von denen sie meinte, es seien einzig und alleine Schikanen, die sie an ihr ausübten, weil sie aus dem Osten käme. Als wenn das Thema nicht langsam hinfällig wäre. Schließlich ist die Mauer ja nicht erst gestern gefallen. Auch war Hedda es mittlerweile leid, die ständigen Zipperlein ihrer Untermieterin in aller Ausführlichkeit dargestellt zu bekommen, seien es nun Kopfschmerzen, Erkältungen oder Monatsblutungen. Derartige Jammertiraden hatte sie schon zur Genüge von ihrer Mutter ertragen müssen.

Um sich derlei unerquicklichen Gesprächen nicht mehr freiwillig auszusetzen, nahm Hedda ihre Mahlzeiten nur noch alleine ein, wenn nötig sogar in ihrem Wohnzimmer. Der leidende Ausdruck in den Augen und die betont vorgeschobene dicke Unterlippe in Verenas Gesicht, wenn sie zur Tür hereinkam, ließen Hedda jeweils schon vorher erahnen, welch ein Gejammer heute wieder auf sie zukommen würde, setzte sie sich erneut einem Gespräch aus. Sie zog es dann lieber vor, nach einem kurzen Gruß auf dem Absatz kehrt zu machen und das Weite zu suchen.

Abends zog Verena es vor, sich vor den Fernseher zu setzen. Da sie nur über wenig Geld verfügte, wie sie unverblümt wiederholt bemerkte, könnte sie sich nicht leisten auszugehen. Sie zog ihre Feierabendkleidung an, eine etwas unästhetische, alte, hellbraune, völlig ausgebeulte Trainingshose, legte sich auf das Bett, verteilte ihr Knabberzeug um sich herum und zapte sich durch die Fernsehprogramme. Somit stand sie Hedda nicht mehr zur Verfügung. Sie widmete sich voll und ganz ihrem Fernseher. Die Zimmertür ließ sie dabei allerdings offen stehen.

Hedda spürte deutlich ein Gefühl von Aversion gegen die permanente Berieselung durch diese verdammte Flimmerkiste. Sie suchte nach einer Erklärung dafür, schließlich hatte sie sich doch eigentlich mehr Leben in ihrer Wohnung gewünscht. Bedeutete der Fernseher gar eine Konkurrenz für sie? Da Hedda aber die Unterhaltungen mit Verena von sich aus mied, konnte es das eigentlich nicht sein. Es war eher die Unmöglichkeit, sich den Abend selbst gestalten zu können. Somit war der Fernseher samt Untermieterin als Störenfried und Eindringling zu bezeichnen, weil er, aufgrund der herüber schallenden Lautstärke, schlichtweg nicht zu ignorieren war.

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