Dem Neuen entgegen leben

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ewige spuren

wind weht über

gegenwart

vergangenes

deckt sich auf

krieg brennt löcher

ins jetzt

vergessen verfällt

schmerz steigt auf

puls fliegt

im bombenhagel

tote schreien

hunger foltert

sterne fallen -

unmöglich der zeit

sie aufzufangen

es war zuviel

---------

eingebrannt

die spuren

der unmenschlichkeit

vergraben

unterm vergessen

die zermalmungen

doch spurensamen

suchen licht

schwarzes taucht auf

wir taumeln

im schmerz

unserer eltern

--------

krieg fand

ein ende

doch in uns

ist er endlos

atem bebt

noch immer

zersplittert

das einst und jetzt

ein engel aber

streut hoffnung

in uns

Rita Bauer

Geboren 1935 in Düsseldorf. Während des Krieges Aufenthalt in verschiedenen Ländern. Kaufmännische Ausbildung in der Fotobranche. Tätigkeiten noch in anderen Metiers. Von 1987 – 2002 selbstständig in einem Handwerksbetrieb und Studium der Klassischen Homöopathie.

Resümee oder Ein jegliches hat seine Zeit

Unser schönes Land hat sich – ohne Krieg – in siebzig Jahren zu einem blühenden Staat entwickeln können. Diesen Aufstieg habe ich als damaliges Kriegskind bis heute, mit achtzig Jahren, erfahren, durchlitten und letztendlich gemeistert. Das erfüllt mich mit Stolz. Auf diesen langen Lebensweg blicke ich immer wieder zurück. Dabei gab es Zeiten von Kummer, Armut und Sisyphus-Arbeiten.

Dazu gehört das Zusammenleben mit einem aus dem Krieg kommenden traumatisierten Vater, der nur ein einziges Mal über diese schreckliche Zeit gesprochen hat. Er schilderte kurz eine fast ausweglose Situation, in der er geschworen hatte: „Wenn ich hier lebend rauskomme, werde ich in meinem Leben nie wieder unzufrieden sein.“ Diesen Schwur hat er gehalten. Sonst sprach er nicht viel; er war ein stiller Vater.

Meine Mutter war während des Krieges Krankenschwester in heimatnahen Lazaretten und pflegte meist sterbende Soldaten. In dieser Zeit erkrankte sie an einer schweren Hirnhautentzündung und wurde mangels Medikamenten nie wieder gesund. Ich lebte in dieser Zeit in einem Kindersanatorium für lungenkranke Kinder. Alle Kinder, auch ich, waren mit der Milch von TBC-kranken Kühen infiziert worden. Endlose Liegekuren in einer langen Reihe von Liegestühlen mit dem Blick auf endlose hohe schwarze Tannen des Schwarzwaldes. Ich fühlte mich schrecklich alleine, und das Heimweh rang mir nicht mal mehr Tränen ab. Wir hatten immer Hunger, und es gab nur eine Mahlzeit am Tag. Ein fast ungenießbarer Brotauflauf.

Meine Eltern waren indes mit sich beschäftigt. Nach dem Krieg versuchte mein Vater alles – inklusive zusätzlicher Kuraufenthalte – damit meine Mutter wieder gesund würde. An einem Sonntagnachmittag saß er mit dem Uhrwerk seiner Taschenuhr in der Hand im Wohnzimmer und hatte Tränen in den Augen. Das wunderschöne goldene Gehäuse und die Uhrkette hatte er verkauft, um die letzten zusätzlichen Arztrechnungen zu bezahlen. Die Uhr war sein letztes Vermögen gewesen und zudem das einzige Andenken an seinen verstorbenen Vater.

Der Geist meiner Mutter verwirrte sich unter dramatischen Umständen immer mehr. Als sie nachts mehrmals nur leicht bekleidet, barfuß, weggelaufen war, konnten wir sie nicht mehr beschützen, und Vater brachte sie in die Psychiatrie der Landesklinik. Sie kam nie wieder zu uns zurück. Da war ich fast 14 Jahre alt, konnte eine Lehre in der Photobranche machen und war auf mich selbst gestellt. Meine drei Jahre jüngere Schwester wurde in einer Pflegefamilie untergebracht. Mein Weg zur Arbeitsstelle war morgens und abends je eineinhalb Stunden weit. Wenn ich nach Hause kam, war Vater manchmal da, lag auf der Couch und las. Gesprochen haben wir wenig.

Mit 19 Jahren wurde ich von meinem Freund ungewollt schwanger und mein Vater zwang mich zu heiraten. Ich bekam einen Sohn und lebte lange 14 Jahre an der Armutsgrenze, in denen ich fast immer für das tägliche Auskommen sorgte. Mein Mann kam abends immer sehr spät angetrunken nach Hause. Ich hatte gelernt, auszuhalten. Keine Arbeit war mir zu viel oder unangenehm. Dann aber, irgendwann, ließ ich mich scheiden.


1936 – als die Welt für mich noch in Ordnung war

Mit 35 heiratete ich ein zweites Mal, durchlitt eine Krebserkrankung, hatte mehrere Fehlgeburten und eine Totgeburt. Wieder hatte ich einen Ehemann, der nicht mit Geld umgehen konnte, und ich weiß heute nicht mehr, wie ich es mit ihm ausgehalten habe. Ich durchlitt Mangel bei drei Konkursen meines Mannes. Auch hier sorgte ich mit vielen Arbeitsstellen für unser Auskommen und versuchte Pläne fürs Überleben mit meinem Mann zu entwickeln. Manchmal gibt es aber auch Situationen im Leben, in denen alle Ampeln auf Grün stehen. Wir lebten zu dieser Zeit im Südwesten von München. Durch Fügung und glückliche Umstände gelang es mir mit 52 Jahren, mich erfolgreich selbständig zu machen.

In einer Mittagspause führte mich mein Dackel beim Gassi gehen zu einem kleinen Jungen, der vor der Haustüre am Boden auf einer Decke saß und Spielsachen verkaufte. Mein Hund stupste mit der Nase an einen wunderschönen bunten Gummiball, der mir vor die Füße rollte. Genau so einen Ball hatte ich mir als Kind immer gewünscht – nun erfüllte ich mir diesen Wunsch. Wir handelten einen Preis aus, und ich gab dem Jungen das Doppelte. Der Ball lag viele Jahre auf dem Boden in meinem Büro – manchmal kullerte ich ihn.

Durch Heilung einer schweren Burn-out-Situation, mit homöopathischer Behandlung, lernte ich Jahre später diese wunderbare Heilweise kennen und ich begann berufsbegleitend das Studium. Die Hauptausbildung fand in Griechenland, auf der Insel Alonissos, bei der Internationalen Academie für klassische Homöopathie statt. Ich flog von 1996 bis 2000 zweimal pro Jahr für einige Wochen dorthin. Ich vergesse nie das Glücksgefühl – den Moment des Abhebens des Fliegers vom Boden. Dies war für mich die glücklichste Zeit meines Lebens. Lernen an einem wunderschönen Ort. Aude sapere – wage zu wissen, stand vor der Academie im Boden in Sandstein eingelegt. Ich konnte bisher vielen Menschen, und auch mir selbst, mit diesem Wissen helfen.

Während dieser Zeit war mein Mann bereits sehr schwer erkrankt und später als Pflegefall bei uns zu Hause. Das konnte ich fünf Jahre alles mit zwei Pflegediensten bewältigen. Als ich 67 Jahre alt war, übergab ich meinen seit 17 Jahren erfolgreichen Betrieb an meinen Meister. In der gleichen Woche starb mein Mann. Innerhalb einer Woche war mein Lebensinhalt – mein Betrieb und mein pflegebedürftiger Mann – nicht mehr da.

Wie wohl mein Leben verlaufen wäre, wenn es diesen schrecklichen Krieg nicht gegeben hätte? Wenn sich meine Eltern um uns Kinder hätten sorgen können? Wenn Krankheit, Not und Hilflosigkeit nicht so selbstverständlich meine Kindheit begleitet hätten?

Ich hätte gerne die höhere Schule mit Abschluss Abitur machen wollen, um einen Beruf meiner Wahl zu verwirklichen. Ich hätte mir auch einen Mann gewünscht, der mit Geld umgehen kann und dem die Familie wichtiger als der Alkohol war.

Seit 10 Jahren lebe ich wieder in meiner Heimat in Düsseldorf in großer Freiheit, einem selbst geschaffenen Auskommen und genieße den Spätherbst meines Lebens.

Margarete Gritli Blickensdörfer

1944 in Homburg/Saar geboren. Sie lebte bei ihren Großeltern, bis sie mit der Einschulung zu ihren Eltern und jüngeren Geschwistern in die Pfalz zog. Als sie selbst eine eigene Familie gründete, machte ihr ein weiterer Umzug zu schaffen.

Drei Generationen – drei Erfahrungen mit Krieg

Ich bin bald 70 Jahre alt, lebe die meiste Zeit meines Lebens in friedlichen Zeiten, hier, in Deutschland. Seit vielen Jahren bin ich Mitglied einer kirchlichen Friedensgruppe: im Mennonitischen Friedenszentrum Berlin, MFB. Ich bin felsenfest davon überzeugt, dass wir, die wir in einem demokratischen Land, im Europa des einundzwanzigsten Jahrhunderts leben, alles tun müssen, um Frieden zu bewahren. Das heißt für mich, in der kleinsten „Zelle“, der Familie und in der Nachbarschaft bereits anfangen, friedlich miteinander umzugehen. UND: NIE WIEDER KRIEG!

Ich möchte berichten, wie mich selbst die beiden letzten Weltkriege als Kind „gestreift“, meine Kinderseele belastet haben. Als werdendes Kind, im Mutterleib noch, zog ich mit meiner Mutter über Land, um Essbares zu beschaffen von Bauernhöfen des Saarlandes und aus „dem Reich“(so wurde Großdeutschland damals genannt). Meine Mutter marschierte weite Strecken, nahm einen Zug, wenn einer fuhr. Einmal musste sie sogar mit einem Boot einen Fluss überqueren, der als Grenze galt zwischen einer englisch besetzten und ihrer, der französisch besetzten Zone. Sie hatte erfahren, dass sie dort zwei Ziegen kaufen könne. Die Reise war beschwerlich, das Verhandeln bzw. „Fuggern“, wie es dort hieß, dauerte lang, doch letztlich konnte sie mit ihren beiden Ziegen und den streng kontrollierten Frachtpapieren auf dem Boot Platz nehmen. Ihre Nerven hatten sich nach dem Verladen der beiden störrischen Ziegen langsam wieder beruhigt, als sie gerade noch den letzten Schnipsel Papier im mahlenden Maul einer der beiden Ziegen entdeckte. Zu spät! Die Papierschnipsel stammten von den Frachtpapieren! Ziegen knabbern alles, schlucken fast alles! Auch wichtige Dokumente, die sie „als gekauft“ und nicht „als gestohlen“ auswiesen. Trotzdem schaffte es meine Mutter, sie nach Hause zu bringen. Diese beiden Ziegen, d.h. die Milch, die sie täglich für die werdende Mutter, wie für meine Großmutter gaben, waren sehr wichtig für uns drei!

 

Vertraute Männer gab es zu der Zeit nicht im dreistöckigen Haus! Im Erdgeschoss lebte eine ängstliche kinderlose Frau, deren Mann „als vermisst“ galt, so, wie mein Vater ebenfalls damals vermisst war. Meine Mutter hatte ihre Wohnung im dritten Stock, hielt sich jedoch die meiste Zeit bei ihrer Mutter, in der Mitte des Hauses auf. Sie gaben einander Halt in den schweren Zeiten des tobenden Zweiten Weltkrieges, rieben ihre verschiedenen Charaktere aneinander. In lauten Disputen „unterhielten“ sie sich manchmal und trockneten hernach vergossene Tränen der Reue.

Hinter dem großen Haus bepflanzten sie einen Gemüsegarten, am äußersten Ende „wohnten“ die oben genannten Ziegen in einem kleinen Stall. Außer den Ziegen gab es zwei Kaninchen, sowie freilaufende Hühner, die Eier lieferten. Einen Gockel gab es auch! Wenn die Tiere genügend gefüttert worden waren, vertrieben sie mit ihren Erzeugnissen Hunger und Not. Ich, im Bauch meiner Mutter, profitierte als „persona incognita“ mit! Mir ging es gut – zumindest, was die Ernährung anging!

Die Ängste, die immer wieder ausgehalten werden mussten, und die tiefe Trauer wegen des Todes zweier sehr junger Söhne meiner Großmutter bzw. Brüder meiner Mutter, bedrückten die Seelen der tapferen Frauen sehr. Das Bangen um den Ehemann, der irgendwo in Gefangenschaft oder gar verschwunden war, die ganz direkt bedrohlichen Erlebnisse – all das spürt ein sich entwickelndes Kind genauso mit. Wie seine Mutter mussten alle Frauen tapfer sein! Auch die nächtlichen Bombenangriffe auf die Stadt oder die Evakuierungen in weniger gefährdete Landstriche mussten viele erdulden. Die Flucht in fremde Gegenden, in denen sie als „Flüchtlinge“ galten, blieb Mutter und Großmutter zum Glück erspart!

Ich kam am 13. August 1944, einem Sonntagmorgen, zur Welt. In der Universitätsklinik Homburg/Saar. Bis kurz zuvor hatte meine Mutter dort als Krankenschwester ab und zu gearbeitet. Nach der Geburt packten Helferinnen mich mit anderen Säuglingen in einen großen Wäschekorb und brachten die „wertvolle Fracht“ in den Luftschutzkeller der Klinik. Meine gerade schlafende Mutter ließen sie in der Aufregung zurück. Ein Drama gab es, als meine Mutter aufwachte und um mich Angst bekam!

Nach einigen Tagen holte uns meine Großmutter nach Hause. So wuchs ich als dritte Generation Frauen heran. Meine Mutter bekam irgendwann Nachricht von meinem Vater, „getürmt“ aus den Fängen des Feindes. Er musste sich jedoch noch mit Briefen aus der Feder meiner Mutter begnügen – erst viel viel später durfte er zum Fronturlaub nach Hause, um seine Ehefrau und sein erstes Kind zu begrüßen.

Nach dem Krieg, inzwischen war das Jahr 1947, wollte sich mein Vater als Arzt niederlassen. Das wurde ihm nicht gestattet, da das Saarland zu der Zeit unter französischer Verwaltung stand, mein Vater als Deutscher galt und deshalb keine Praxis eröffnen durfte. In der angrenzenden Pfalz fand er schließlich eine verwaiste Arztpraxis in einem Dorf. Die dortige Verwaltung erlaubte ihm die Niederlassung als praktischer Arzt. Meine Eltern verzogen mit meiner inzwischen geborenen Schwester nach Rheinland-Pfalz, quasi ins Ausland.

Mich ließen sie zurück in Homburg, bei meinen Großeltern. Das empfand ich zunächst als großen Verlust: kleine Schwester weg, Mama weg und der noch kaum vertraute Vater auch schon wieder weit weg! Kinder trösten sich. Ich tröstete mich, da mir meine Großmutter ja blieb! Großvater ging sechs Tage in der Woche zur Arbeit, von morgens bis abends war ich mit Oma alleine in der Wohnung, im Garten, auf dem Markt beim Einkaufen. Klingt alles heil und gut, war es aber nicht!

Oma wollte mich ganz, sie ließ mich nicht zu anderen Kindern, aus Angst, mir passiere etwas. Den Tod ihrer beiden Söhne konnte sie nicht verwinden, ihr Mann konnte oder wollte nie mit ihr darüber sprechen. So „erlebte“ i c h durch sie immer wieder den Schrecken, den sie mir durch ihre Erzählungen nahebrachte. Sie erzählte mir auch Märchen, sang mit mir Lieder. Sie sang gut, sie konnte auch Gedichte und Balladen. Aber sie erzählte auch immer wieder „Kriegsgeschichten“! Wenn ich fieberte, musste ich das Gehörte ganz grauenvoll nacherleben: Dann sah ich „Tannenbäume am Himmel“, Vorzeichen kommender Fliegerangriffe! Feuer, Feuer... und erwachte schreiend oder wimmernd.

Meine Großmutter hatte keine Therapie bei einem Arzt oder einem Therapeuten! Sie prahlte sogar, dass sie nie einen Doktor brauche, dass sie sich immer mit „Hausmitteln“ helfen könne. So sah ich auch nie einen Kinderarzt, selten meine Eltern. Die waren sehr mit ihrer Arbeit und dem weiteren Kindersegen beschäftigt. Ihre Älteste beklagte sich nie am Telefon, wünschte sich nie, zu ihnen und den Geschwistern zu gelangen. Es ging ihr ja gut! Und Oma wurde über den Verlust ihrer Söhne getröstet, abgelenkt und beschäftigt durch das heranwachsende Kind.

Als viele Jahre später meine Seele erkrankte, ich nach und nach in eine schwere Depression abglitt, wusste ich lange Zeit nicht, wo die Ursache für die Erkrankung zu suchen war. Erst mit Hilfe von Psychologie wurde mir selbst klar, dass auch ich ein Opfer von Krieg und Schrecken geworden bin. Die enorme Vorstellungskraft eines kleinen Kindes bzw. meine junge Seele konnte die Kriegsfolgen nicht verkraften.

Heute empfinde ich mich als geheilt. Gott sei Dank!

Gerda Blume

1942 in Delmenhorst geboren. Ihr Vater war schon vor ihrer Geburt gefallen. Als sie sieben Jahre alt war, heiratete die Mutter ein zweites Mal. Der neue Vater brachte einen zwei Jahre älteren Bruder mit. Ein Jahr später wurde noch ein gemeinsamer jüngerer Bruder geboren. Nach dem Abitur studierte sie Jura und wurde Rechtsanwältin. Sie ist mit einem Arzt verheiratet und hat drei Söhne und sieben Enkel, für die sie ihre Geschichten schreibt.

Hunger und etliche Diebereien

Wir hatten nach dem Krieg unser ganzes Haus voller Flüchtlingsfamilien, mit Kindern, die auf die verschiedenen Zimmer des Hauses nach bestem Vermögen verteilt waren. Da das Haus ursprünglich nur für eine – wenn auch große – Familie ausgerichtet war, war es mit dem Kochen schwierig; denn alle Familien mussten in der großen Küche meines Elternhauses kochen. Das ging nur im Schichtdienst.

Schwierig war auch die Toilettenfrage; denn es gab in der großen Eingangsdiele eine geräumige Gästetoilette und im Küchentrakt des Hauses eine weitere kleine. Im ersten Stock gab es ein sehr großes Badezimmer mit Toilette und zwei weitere einzelne Toiletten. Es gab aber in allen Schlafzimmern kein fließendes Wasser, sondern Waschtische, auf denen wunderbare mit bunten Blumen bemalte Waschschüsseln und Wasserkannen aus Porzellan standen. Wie das damals mit so vielen fremden Menschen – es waren insgesamt sechs Flüchtlingsfamilien, alle mit vier bis sechs Personen – überhaupt geklappt hat, weiß ich heute nicht mehr.

Ich erinnere mich vor allen Dingen an die vielen Kinder, die mitgekommen waren, so dass ich an Spielgefährten keinen Mangel hatte. Als Einzelkind hatte ich mir immer Geschwister als Spielgefährten gewünscht und nun war in kurzer Zeit das ganze Haus voll davon, und ich fand es herrlich.

Mein Großvater funktionierte unseren riesigen Garten, der mein Elternhaus umgab, zu Kartoffel- und Gemüsegärten um, so dass jede Familie einen eigenen Garten zugewiesen bekam, in dem sie anpflanzen konnte, was sie wollte. Rasenflächen und gepflegte Kieswege, wie vorher, gab es damals nicht mehr. Lediglich Bäume durften nicht gefällt werden, um etwa Platz für Ackerflächen zu schaffen. Die Flüchtlinge kamen teilweise aus dem Osten, aber auch aus der schwer zerstörten nahegelegenen Stadt Bremen.

In dieser schweren Zeit war es meinem Großvater gelungen, von einem Bauern in der Nachbarschaft ein Schwein zu organisieren, das in der Waschküche zerlegt und portioniert wurde. Es wurde gemeinsam eingekocht, in Gläser gefüllt, gepökelt und geräuchert oder zu Würsten verarbeitet. Alle Hausbewohner waren glücklich; denn es besserte das tägliche Gemüse- und Kartoffeleinerlei auf.

Eines Morgens kam meine Großmutter zusammen mit einer Ostpreußin völlig entsetzt aus dem Keller: der Vorratsraum, in dem das Fleisch in Gläsern und die Würste aufbewahrt wurden, war leer. Das Problem wurde im ganzen Hause lebhaft diskutiert; denn es konnte schließlich nur ein Mitbewohner gewesen sein, da es keine Einbruchsspuren von außen gab und kein Fremder so einfach ins Haus gelangen konnte. Der Täter wurde nie gefunden.


Gerda mit ihrer Mutter

In unserem Hause wohnte zu der Zeit auch eine Familie aus Oberschlesien, die von den umliegenden Bauernhöfen die Schafswolle aufkaufte. Frau Jacziewski, so hieß die Familie, spann die Wolle, wusch und trocknete sie und fertigte daraus wunderbare Pullover, Jacken und Socken an. Solch eine weiß-braune Schafwolljacke ist mit mir durch meine ganze Kindheit gegangen, sie wuchs einfach mit. Einmal hatte Frau Jacziewski große Mengen frisch gesponnener und anschließend gewaschener Wolle auf die Wäscheleine zum Trocknen gehängt. Da es Sommer und sehr warm war, ließ sie die noch nasse Wolle über Nacht auf der Leine draußen hängen. Am nächsten Morgen war die gesamte Wolle verschwunden. Die mühsame Spinnarbeit vieler, vieler Tage war umsonst gewesen. Die Wolle tauchte nie wieder auf, und auch ein Dieb war nicht zu ermitteln.

Da es nach dem Krieg ja so wenig zu essen gab, hatten alle Familien unseres Hauses außer den Gartenflächen auch Hühner, die frei herumliefen, und vor allen Dingen Kaninchen als willkommene Fleischlieferanten. Von einer Familie bekam ich ein Kaninchen geschenkt, und der Mann baute mir sogar einen eigenen Stall auf vier hohen Holzbeinen auf. Mein Kaninchen war einfarbig grau und durch das viele Anfassen und Streicheln von mir ganz zahm und zutraulich. Eines Morgens, als ich mein Kaninchen füttern wollte, war der Stall leer. Ich war entsetzt und prüfte all die vielen anderen Ställe der Kaninchen der Hausbewohner, aber es war nirgends. Ich habe furchtbar geweint und immer nur gedacht, dass mein Kleines gestohlen und geschlachtet würde, wie all die anderen Kaninchen auch. Das ganze Haus tröstete mich und man versprach mir ein neues, sobald ein neuer Wurf alt genug wäre. Aber ich wollte kein neues Kaninchen mehr. Dann geschah das Unglaubliche: Eines Morgens saß mein Kaninchen wieder in seinem Ställchen. Es war unzweifelhaft meines; denn es war einfarbig grau, zahm und hörte auf seinen Namen. Ich konnte vor Glück gar nicht aufhören zu weinen. Auch in diesem Falle hat sich nie herausgestellt, wo es gewesen war und wer es mir – vielleicht gerührt durch meine Trauer – wiedergegeben hatte.

In meiner Erinnerung war es eine wunderbare Zeit, als unser Haus so voll war. Ich war nie alleine. Bemerkenswert fand ich in späteren Jahren, dass auch meine Familie das überquellende Haus nicht nur lästig, sondern auch als Bereicherung empfunden haben muss; denn mit allen Flüchtlingsfamilien – bis auf eine – blieben die Kontakte auch nach deren Auszug aus unserem Haus bestehen. Ich selbst war tief gerührt, als so viele der damaligen Flüchtlinge bei den Beerdigungen meiner Urgroßmutter und Großeltern in den folgenden Jahrzehnten anwesend waren.

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