Bildwerte

Текст
0
Отзывы
Читать фрагмент
Отметить прочитанной
Как читать книгу после покупки
Шрифт:Меньше АаБольше Аа

Es gibt allerdings noch einen weiteren Aspekt des Tons, der für die Entwicklung hin zum 3D-Bild von Bedeutung ist. Man bedenke, wie rasch – und für die Musikindustrie, wie profitabel – das gesamte überlieferte Archiv der Tonaufnahmen mit der Einführung der CD ins Digitalformat konvertiert wurde und wie bereitwillig die Konsumenten die CD akzeptierten. Angesichts dieser Tatsache fällt es nicht schwer zu verstehen, warum für die Besitzer der Hollywood-Filmbibliotheken die Aussicht, unser Filmerbe ins 3D-Format zu konvertieren, dem Heiligen Gral gleichkommt. Technisch machbar, wenn auch derzeit noch recht teuer, war genau dies (zumindest bis vor kurzem) das erklärte Ziel von Leuten wie James Cameron – nicht zuletzt, da er mehrere der Patente für solche Konvertierungsprozesse besitzt.24 3D könnte den eingebrochenen DVD-Markt wieder ankurbeln, ganz ohne Kinoneufassungen, und gleichzeitig den Konsumenten dazu bewegen, 3D als neue Standardtechnologie für TV- und Laptopbildschirme zu betrachten. Dies würde ihn natürlich dazu bringen die alte Hardware zu ersetzen, zumindest falls die neue Hardware ebenso für den Einsatz von vertrauter wie auch neuer Software geeignet ist. Die Vermarktung von 3D auf der Großleinwand heute wäre somit ein Weg auch durch die Filme von gestern in den Einsatz von 3D auf den Kleinbildschirmen von morgen zu investieren.25

Die vielfältigen Verständnisse der Geschichte des 3D – für eine andere Genealogie des Kinos

Die »Rückkehr« des 3D, um meine Hauptthese zu konkretisieren, ist daher nur eine von mehreren neuen Offensiven, die bestimmen, wie wir uns zukünftig in simultanen Räumen, in multiplen Temporalitäten sowie datenintensiven simulierten Umgebungen verorten, und die somit beeinflussen, wie wir in und mit »Bildern« leben. Um diese These weiter zu untermauern, muss ich im Folgenden einige der alternativen, und deshalb oft übergangenen Interpretationen der Filmgeschichte im Hinblick auf Stereoskopie und 3D-Technologie skizzieren.

Für den Filmhistoriker sind Überlegungen zur Rückkehr des 3D zunächst Anlass für Reflexionen über den Begriff der »Rückkehr« selbst. Bedient man sich hier einer alternativen Genealogie des Kinos, notwendig geworden nicht zuletzt durch Phänomene, die meist dem Übergang vom analogen (Zelluloid-basierten) zum digitalen (post-Zelluloid) Kino zugeordnet werden, dann versteht man 3D am Besten als »nie ganz verschwunden« oder die Wiederkehr des 3D als eine »Rückkehr des Unterdrückten«. Sobald man die Geschichte des 3D nicht nur bis in die Fünfziger (oder Zwanziger, oder in die Zeit der Brüder Lumière um 1900)26 zurückverfolgt, sondern 3D auf noch längere Sicht betrachtet und sich des beachtlichen Einsatzes von stereoskopischen Bildern im 19. Jahrhundert27 erinnert, kommt man auch schnell auf die Phantasmagorien des 18. Jahrhunderts zu sprechen, ebenso auf Panoramabilder, Dioramen und andere räumliche Projektionsmethoden, die seit Jahrhunderten neben den monokularen existiert haben.28 Anstatt von der »Rückkehr« des 3D zu sprechen, wäre es besser, ein weiteres Mal auf die Logik des Supplements zurückzugreifen. Dieser gemäß blieb 3D, aufgrund bestimmter historischer und ideologischer Einflüsse, unsichtbar oder unbemerkt, obgleich 3D sowohl der Photographie als auch dem Bewegtbild immer immanent war. Es lohnt sich, für einen Moment anzunehmen, dass Kino nicht aus einer Serie sich bewegender Einzelbilder besteht, nicht nur eine bildliche Kunstform ist, die auf zweidimensionaler Ebene die Illusion dreidimensionaler Tiefe produziert und durch die rasche Abfolge von solchen Einzelbildern die Illusion von Bewegung erzeugt. Macht man sich von diesen tradierten Vorstellungen einmal frei, so kann das Telos des Kinos recht plausibel in der Eliminierung jeder Art von Rahmen und sonstiger Einschränkungen des Wahrnehmungsfeldes gesehen werden, also in dem Bestreben, sein technisches Gerüst und die damit verbundene Repräsentationsgeometrie selbst abzuschaffen. Ein solcher Ansatz, der bereits in den Fünfzigern in André Bazins ironischem Sinnieren über das Kino (»Kein Kino mehr!«) zu finden ist, wird auch von Akira Lippit vertreten:

»Because the discussions of 3D cinema have often veered toward the history and theory of optics (nineteenth-century explorations of stereopsis, techniques of 3D rendering in film), its relation to genres of excess (horror, soft-porn, exploitation) and its function as a precursor of new media (virtual reality, interactive media), the persistence of 3D cinema as a recurring but wishful dream has been elided. […] The impulse toward stereoscopic cinema is sustained by a fundamental cinematic desire to eliminate the last vestige of the apparatus from the field of representation, the film screen. In this light, stereoscopic cinema can be seen not only as a technological extension of flat cinema, a surplus dimension, but as the dimension of its unconscious. 3D cinema represents the desire to externalize the unconscious of cinema.« 29

Auch wenn man diese erhellende Skizze einer alternativen Teleologie – alternativ, da sie nicht die typische Realismus/Illusion-Dichotomie bemüht – gerne etwas verfeinern möchte, führt Lippit dennoch ein gutes Argument ins Feld. Sein Ansatz wirft die Frage auf, wie es dazu kam, dass der vom Rahmen eingeschränkte Blick das Bild seit dem späten 15. bis Ende des 19. Jahrhunderts dominierte, obgleich andere Systeme sowohl technisch möglich als auch verbreitet waren. Avantgardebewegungen, die dem Monopol des monokularen Paradigmas trotzten, gab es natürlich immer. In der Moderne wurde die perspektivische Darstellung vor allem durch die Malerei in Frage gestellt. Dies geschah zu der Zeit, als Fotografie und Kino erstmals eine gewisse Verbreitung fanden. So malte beispielsweise J.M.W Turner seit 1840 Szenen, die fotographisch nicht darstellbar waren: Bilder ohne fixen Horizont oder Bilder, die einen mobilen Blickwinkel verlangen, wie das gefeierte Rain, Steam, and Speed – The Great Western Railway (1844), das Turner anfertigte, nachdem er seinen Kopf volle neun Minuten aus einem Zugfenster gestreckt hatte. Ähnlich das ebenso bekannte Bild The Slave Ship (1840): Es zwingt den Betrachter in unheilvolle Nähe zu den sterbenden, gefesselten Sklaven, die über Bord geworfen werden und ertrinken, da sich der Schiffsherr Versicherungszahlungen erschleichen möchte.30

Die andere große Herausforderung an die Perspektive bestand natürlich im Kubismus und Futurismus. Diese brachen den homogenen Raum der Renaissancemalerei in Segmente auf, welche die zeitliche Abfolge und die räumlichen Bewegungen des Beobachters repräsentierten. So stand zum Beispiel Eadweard Muybridges Chronofotografie dem Kubismus sehr nahe, wie Marcel Duchamps berühmtes Werk Nude Descending A Staircase (1912) belegt. Die Popularität und Verbreitung der 2D-Fotografie sowie die Vorteile, welche die scheinbar unmittelbare, apparativ nicht gestützte monokulare Bildbetrachtung gegenüber die Stereoskopie genoss, favorisierten allerdings im Kino eine Repräsentationsweise, die zweidimensionale Bilder auf die flache, umrahmte Leinwand projizierte und so die Illusion räumlicher Tiefe auf ähnliche Weise bot wie die Zentralperspektive im piktografischen Raum: ein einziger Fluchtpunkt, Tiefenwirkung, Schatten und gestaffelte Farbschemata, die genau bemessene Gradierung von Größe und Distanz der Objekte sowie Proportionierung des Raums und der menschlichen Gestalten.

Die eben geschilderte Entwicklung des Kinos war allerdings weniger natürlich und unausweichlich, als es in der Retrospektive der Fall zu sein scheint. Wie sorgfältigere filmhistorische Recherchen belegen, konnten Filmemacher in den ersten zehn, fünfzehn Jahre des frühen Kinos auf eine breite Palette von Techniken und Traditionen der bildlichen Raumgestaltung zurückgreifen, und machten von diesen Möglichkeiten auch regen Gebrauch. Dies führte zu Stilen der Mise-en-scène und Räumlichkeitskonzepten, die, aus der Perspektive der Renaissancetechniken betrachtet, abartig, wenn nicht sogar vollkommen ungeeignet erscheinen mussten. Als missglückt wurden sie auch oft beurteilt, bis die vereinten Anstrengungen einer jungen Generation von Filmwissenschaftlern beweisen konnten, dass eine historische Logik die übertriebenen Diagonalen in L'Arrivée d'un Train en Gare de La Ciotat (von den Brüdern Lumière, wie gesagt, 1902 als Stereoversion auf der Pariser Weltausstellung präsentiert) mit Edwin S. Porters Cowboy verbindet, der in The Great Train Robbery (USA 1903) direkt in die Kamera schießt (ein typischer Stereoeffekt).31 Ebenso haben wir gelernt, D.W. Griffiths hochgradig idiosynkratische Inszenierung neu zu lesen, genau wie seine Art, bei leerem Zentrum die Bildränder zu betonen (Musketeers of Pig Alley, USA 1912). Filmwissenschaftler würdigen heutzutage die Trompe-l'Oeil-Effekte in Ferdinand Zeccas The Ingenious Soubrette (USA 1903), G.A. Smiths Grandma's Reading Glasses (GB 1900), Franz Hofers ausgeschnittene Silhouetten in Weihnachtsglocken (D 1914), oder die unmöglichen Räume in James Williamsons The Big Swallow (GB 1901). All diese Effekte wurden vormals als inkohärent, idiosynkratisch oder primitiv verurteilt.32

Solche außergewöhnlichen cinematischen Räume waren Teil der langanhaltenden Konkurrenz zwischen dem stereoskopischen und dem monokularen Blick und somit des Statuswettstreits um Prestige und diskursive Macht zwischen der Populär- und der Elitekultur in den Künsten des 19. Jahrhunderts. Filmwissenschaftler, und vor allem auf den Kinoapparat spezialisierte Historiker, haben oft übersehen, wie verbreitet, vielfältig und beliebt Stereodias seit Mitte des 19. Jahrhunderts tatsächlich waren.33 Es ist erstaunlich, in welchen großen Mengen sie produziert, vertrieben und gesehen wurden: Sie wurden in Schulen eingesetzt, zu Hause mittels tragbarer Stereobetrachter bewundert und als Visitenkarten fürs Geschäft verwendet. Auch in der Öffentlichkeit konnten, zumindest in Europa, dank des weitverbreiteten Kaiser-Panoramas (einer kreisförmigen Betrachtergalerie) bis zu 24 Besucher die gleiche Diashow sehen.34

 

Eine der bekanntesten und eloquentesten Beschreibungen des Kaiserpanoramas im Berliner Tiergarten stammt von Walter Benjamin. Es findet sowohl in Einbahnstraße als auch in Berliner Kindheit um 1900 Erwähnung:

»Es war ein großer Reiz der Reisebilder, die man im Kaiserpanorama fand, daß gleichviel galt, bei welchem man die Runde anfing. Denn weil die Schauwand mit den Sitzgelegenheiten davor im Kreis verlief, passierte jedes sämtliche Stationen, von denen man durch je ein Fensterpaar in seine schwachgetönte Ferne sah.«35

Seltsamerweise erwähnt Benjamin nicht, dass es sich um stereoskopische Bilder handelte. Dennoch heißt einer der Abschnitte in Einbahnstraße »Stereoskop«. Der Begriff wird hier von Benjamin figurativ verwandt, um Momente der raumzeitlichen Verschiebung in der modernen Stadt zu beschreiben. Dies deutet darauf hin, dass die Praxis fester und unvergessener Teil der damaligen Kultur war, so dass der Apparat selbst als aufschlussreiche Metapher dienen konnte.

Bemerkenswert ist, warum und wie dieses Wissen um die Stereoskopie Anfang des 20. Jahrhunderts durch die Verbreitung des Kinos unterdrückt wurde, wodurch das Paradigma malerischer Bildproduktion Auftrieb erhielt, die Generierung der Illusion des dreidimensionalen Raums auf 2D-Oberflächen. Zweifellos trug dazu auch das Bedürfnis bei, das Kino respektabel zu machen, indem seine räumlichen Koordinaten dem bürgerlichen Theater und seine gestalterischen Gebräuche der Salonmalerei angepasst wurden.36

Dem gegenüber spielt sicherlich der (nun positiv gewertete) plebejische Aspekt des 3D eine Rolle, warum gerade die anti-bürgerlichen, anti-Kunst Avantgarden, insbesondere der Dadaismus und der Surrealismus, die 3D-Bildgestaltung und ihre Effekte am Leben erhielten und oft weiter ausbauten. Gute Beispiele sind Marcel Duchamps Rotoreliefs, genauso wie sein palindromischer Film Anémic Cinéma (F 1926) oder Small Glass, auch bekannt unter dem Titel »To be Looked at (from the other side of the Glass) with One Eye, Close to, for Almost an Hour« – eine geistreiche Dekonstruktion des monokularen Blicks anhand eines stereoskopischen Okularensembles, dem Duchamp eine zeitliche Dimension hinzufügt.37

Auf ähnliche Weise waren sich die Künstler der sogenannten »Absoluter-Film«-Bewegung, insbesondere Viking Eggeling, Oskar Fischinger und Walter Ruttman, aber auch Man Ray, Francis Picabia und Hans Richter, der visuell-konzeptuellen Möglichkeiten der Simulation von räumlicher Tiefe durch graphische Mittel bewusst.38 Ihre Bemühungen können als Teil der Generalüberholung des Renaissanceparadigmas während der zwanziger Jahre verstanden werden. Sie verdeutlichen den Unwillen der Filmavantgarde, das Kino vollständig den Regeln und der Ideologie der monokularen Zentralperspektive zu unterwerfen.

Ein Zeitsprung in die Sechziger und Siebziger bringt uns zu Andy Warhols Outer and Inner Space (USA 1966), Dan Grahams Time Delay Rooms, Michael Snows Two Sides to Every Story und auch zu Ken Jacobs, seiner Wiederbelebung der stereoskopischen Dias in stroboskopischen Animationsexperimenten wie Capitalism-Slavery, seiner Endeckung von räumlicher Tiefe in sich zersetzenden Farbfotografien (Razzle-Dazzle), seinem Found-Footage Film Disorient Express (USA 1996) oder der Umarbeitung seines berühmten Tom Tom the Piper's Son (1969) in Anaglyph Tom (USA 2008). Alle diese Künstler und Werke bemühen Genealogien des unorthodoxen räumlichen Dispositivs im Bereich des Einzelbildes wie auch des Bewegtbildes, entweder durch Manipulation der visuellen Hinweisreize (depth cues) oder durch Simulation von Multidimensionalität und manchmal durch beides.39

Jacobs Arbeiten sind besonders bemerkenswert, da er die Illusion der räumlichen Tiefe mit Do-it-yourself-Methoden erzeugt wie zum Beispiel durch stroboskopische Effekte, Flimmern, oder die sogenannte Pulfrich-Technik, bei der hellere und dunklere Linsen nacheinander vor dem Auge platziert werden. Nach dem Verlust eines Auges im Ersten Weltkrieg entdeckte Carl Pulfrich, dass die Verzögerung des Lichtflusses in ein einziges Auge mittels getönter Filter ähnliche Effekte erzeugt wie der stereoskopische Blick. Pulfrich machte also – wie Duchamp und ungefähr zur gleichen Zeit – Gebrauch von Verzögerung, d. h. zeitlicher Disparität, indem er Bilder um die vierte Dimension der Zeit anreicherte, welche wiederum von der Wahrnehmung in räumlichen Begriffen rekonstruiert wird, gleich einer Parallaxe horizontaler Disparität.40 Mit der Wiederentdeckung dieser und weiterer anscheinend überholter Basteltechniken zeigte Jacobs, dass Mechanismen der raumzeitlichen Dis- und Reorientierung des Betrachters bisher weder ästhetisch noch politisch ausgereizt waren. So kann man Jacobs als künstlerischen Nachfahren J.M.W. Turners sehen und Verbindungen zwischen Rain, Steam and Speed und Disorient Express oder, besser noch, zwischen The Slave Ship und Capitalism Slavery entdecken.41

Insgesamt orientierte sich die mit 3D experimentierende Filmavantgarde in Nordamerika aufgrund des Einflusses von Duchamps enigmatischem Minimalismus eher an Skulptur und Performancekunst als an der Malerei. So kann bereits ein einzelnes Werk wie etwa Anthony McCalls bekannte Projektorinstallation Line Describing a Cone eine vollständig neue Genealogie eröffnen, die auch für den zeitgenössischen 3D-Mainstream Gültigkeit hat.42 McCalls Verständnis des Kinoapparates aus dem Jahre 1973 wurde damals als materialistische Demystifizierung des trügerischen Mechanismus interpretiert; heute wird das Werk eher für seine poetischen und geheimnisvollen skulpturalen Qualitäten bewundert. Line Describing a Cone verweist via Etienne Robertsons Phantasmagorias und Peppers Ghost auf Athanasius Kirchers Camera Obscura, noch einen jener Apparate die projiziertem Licht Körper und räumliches Volumen verleihen sollten.43

Eine solche alternative Genealogie oder Ahnengeschichte des illegitimen Bruders des monokularen Kinos sieht 3D – wenn auch vom gleichen Vater, der Camera Obscura abstammend – als blutsverwandt mit den Zigeunerschönheiten des Rummelplatzes und der wandernden Laterna Magica. Diese Genealogie verdeutlicht somit den Hauptpunkt meiner dritten kontraintuitiven Behauptung: 3D ging 2D in der mechanischen Bildproduktion voraus, dennoch gewann 2D dank der Überlegenheit der Fotografie und ihres kulturellen Status das Duell um die Vorherrschaft als Standard. Die Wiedereinführung von 3D ist somit nicht nur die zwanghafte Rückkehr der unterdrückten Identität des Kinos, sondern könnte auch das nahende Ende der Vorherrschaft der Fotografie über die Kino-Ontologie bedeuten, und wäre daher fast schon eine Voraussetzung für ein besseres Verständnis der Fragen »Was ist ein Bild?« und »Was ist Kino?« im digitalen Zeitalter. All dies zeigt, dass die Bedeutung von 3D vielleicht weniger darin besteht, der alles entscheidende Faktor für das künftige Schicksal des Kinos zu sein, sondern eher darin, uns ein besseres Verständnis seiner Vergangenheit(en) zu ermöglichen.

Was ist heutzutage ein Bild?

Der Abstecher in die Geschichte des räumlichen Sehens mittels einer alternativen Genealogie des Kinos (einer Genealogie, die dessen digitale Zukunft enthält, da sie bereits Teil seiner Vergangenheit ist) rückt mein viertes Argument ins Blickfeld. Die Behauptung, dass 3D heute sowohl Teil einer allgemeinen Veränderung der Standards unserer Sinneswahrnehmung ist als auch symptomatisch für diesen Wandel, beinhaltet auch ein neues Verständnis der körperlichen Orientierung und der räumlichen Positionsbestimmung. Das Navigieren in simultanen Räumlichkeiten, multiplen Temporalitäten und datenintensiven simulierten und digital augmentierten Umgebungen verlangt vermutlich nach einer Neudefinition der Begriffe des »Sehens«, des »Bildes« (image) und dessen Unterscheidung vom »Abbild« (picture) – ein Unterfangen, das in der Kunstgeschichte, den Medienwissenschaften und der Philosophie bereits intensiv betrieben wird.44 Wittgenstein folgend, fasst der Philosoph Martin Seel zusammen, was unter »Sehen« zu verstehen sei:

»Etwas sehen, etwas als etwas sehen und etwas in etwas sehen sind drei Grundfälle des Sehens; im Bildsehen kommen sie zusammen. – Überschaubare Flächen, die in ihrer Erscheinung etwas zur Erscheinung bringen, verlangen ein komplexes Sehen. […] Der allgemeinste Begriff des Sehens ist der des Etwas-Sehens: Alle Lebewesen, die überhaupt sehen können, können in dieser Weise sehen. Sie sind in der Lage, Objekte und Bewegungen kraft visueller Wahrnehmung auszumachen.

Etwas als etwas zu sehen dagegen ist eine sehr viel speziellere Fähigkeit; in ihr ist die Fähigkeit der begrifflichen Unterscheidung enthalten. Das bloße Sehen von etwas wird zu Sehen, dass es sich so und so verhält, z.B. dass da ein Regenschirm hängt. Im Unterschied zu einem lediglich vernehmenden handelt es sich hier um ein erkennendes Sehen. Um ein Bild zu sehen, müssen wir ein Objekt unter anderen Objekten wahrnehmen können – und wir müssen es als Bild wahrnehmen können. Das Identifizieren und Re-Identifizieren von Gestalten auf Bildern, wie auch viele Tiere es beherrschen, genügt hierzu nicht. Zwar ist das Identifizieren von etwas sowie das weitergehende Identifizieren von etwas als etwas eine notwendige Voraussetzung des Sehens von Bildern, denn zum Erkennen einer bildlichen Darbietung bedarf es der Fähigkeit, das jeweils Dargebotene sehend und diskriminierend zu unterscheiden.«45

Diese Unterscheidungen erhellen den Begriff der »Repräsentation« und sind zum Beispiel hilfreich, um den aus der Filmwissenschaft bekannten, oft etwas vereinfachenden Attacken auf den »Illusionismus« zu begegnen.46 Um die Verbindung zwischen dem Sehen, dem Wahrnehmen, dem Agieren und Interagieren besser verständlich zu machen, hat Gilles Deleuze in seinen wichtigen und vieldiskutierten Werken zwischen »Bewegungs-Bild« und »Zeit-Bild« unterschieden.47 Statt an diese wohlbekannten Debatten anzuknüpfen, sollen hier mittels einiger zwar anekdotischer aber erhellender Beispiele noch zwei wichtige Probleme angeschnitten werden, die unser Verständnis von 3D betreffen. Das erste Problem befasst sich mit unserer Wahrnehmung bewegter Bilder und ihrer internen Organisation, das zweite mit einer möglichen kulturellen Veränderung unserer Reaktionen auf Bilder und deren Verwendung. Im Mai 2009, noch vor der Premiere von Avatar, habe ich im Museum Ludwig in Köln einen Einführungsvortrag für eine anaglyphe 3D-Sondervorführung von Creature from the Black Lagoon (USA 1954, R: Jack Arnold) gehalten. Das Filmmuseum Bonn hatte den Film sowie sein eigenes Personal bereitgestellt. Es dauerte fast einen ganzen Tag, das Projektionsequipment aufzubauen, und angesichts des Veranstaltungsortes wurde die Vorführung zu einer Art Kunstevent oder -installation. Nichtsdestotrotz war das Auditorium dank Handy und Facebook voll von jungen Leuten. Es herrschte eine gespannte Erwartung, wie ich sie seit Star Wars bei keinem zeitgenössischen Film mehr erlebt habe, was unbeabsichtigter Weise bestätigt, dass Retro auch im Kino durchaus wieder in ist.

Auch wenn die meisten Effekte dieses 3D Klassikers unbeholfen erschienen und die netzbehafteten Klauen der »Kreatur« eher einer Harke ähnelten, die sich uns in die Gesichter bohrte, so waren die Unterwasserszenen doch nach all den Jahren noch immer poetisch, packend und faszinierend. Solche Szenen ohne Horizont, durch die Figuren treiben, fliegen, springen und schwimmen, funktionieren wesentlich besser in 3D als Szenen, in denen Menschen zu Fuß gehen oder sich in Schuss- Gegenschuss-Dialogen unterhalten. Dies erklärt, warum Avatar eine so berauschende kinetische und körperliche Erfahrung ist48 und warum Wim Wenders und Werner Herzog gut beraten waren, Tanz und Tänzer (Pina, D 2011) sowie Höhlen und Höhlengemälde (Cave of Forgotten Dreams, F et al. 2011) für ihre ersten ernsthaften Vorstöße in den 3D-Dokumentarfilm zu wählen. Ein Kritiker des Observers findet andere Worte, betont aber ebenfalls das Gefühl des Treibens und Gleitens: »As a spectator, to be positioned by the camera above, beside and amid the dancers of Bausch's Wuppertal troupe is not unlike floating bodiless through more solid phantoms.« In Herzogs Höhlenfilm empfand er, dass »the tremendous sense of movement in these depictions of animals depends on the curvature of the walls of the Chauvet-Pont-d'Arc caves. […] Together, these [two] films suggest that 3D might find its best uses in bringing real rather than imagined things to us.«49

 

Die »Darstellung nicht von imaginierten, sondern von realen Dingen« stellt einen kontraintuitiven Anspruch an 3D, der die Aufmerksamkeit nicht auf den technologischen und archäologischen Einfluss von 3D lenkt, sondern auf dessen ästhetische und wahrnehmungsbezogene Wirkung. In einer Filmbesprechung von Up – dem Disney-Pixar Animationsfilm, der als Versuchsballon gestartet wurde, um die Autorenkino-Akzeptanz von 3D Filmen in Cannes zu testen – schrieb ein Kritiker: »Man vergisst bald, dass man sich in einem 3-D-Film befindet. … Die neue, sensationelle Technik wird vollkommen in den Erzählfluss eingebunden ...« Diese Entscheidung schien ihm kontraproduktiv:

»Denn eine Sensation – mit der die Industrie natürlich höhere Eintrittspreise durchsetzen will – muss auch als Aufsehen erregend empfunden werden; wenn man ihr ›nur‹ bescheinigt, sie entspreche vollkommen den ›normalen‹ Sehgewohnheiten, verpufft ihr Effekt bald.«50

Darin besteht allerdings genau der Knackpunkt: Man muss 3D nicht als einen Aspekt des Spektakelkinos verstehen, nicht als das, was uns erschreckt und aus der Tiefe des Raums mit Dingen bewirft. Man kann 3D vielmehr als Vorhut eines neuen Kinos der erzählerischen Integration begreifen, das die Geschmeidigkeit, Skalierbarkeit, Fluidität oder »Krümmung« digitaler Bilder in den audiovisuellen Raum einführt. Tut man dies, und sieht 3D als ein Kino, das auf Horizonte und Fluchtpunkte verzichtet, Distanzen nahtlos variiert, die Kamera »entfesselt« und den Zuschauer transportiert, dann sind die ästhetischen Möglichkeiten längst nicht darauf beschränkt, bekannte Märchen nachzuerzählen, die nur für Kinder gemacht sind, die nach Superhelden, Actionspielzeug oder Science-Fiction hungern.

Anders gesagt, die meisten Kritiker, die 3D-Bilder nur im Kontext des Kinospielfilms diskutieren, setzen einen Raum und eine Umgebung voraus, in der der Blick des Betrachters vertikal auf den Bildschirm gerichtet und von einem schwarzen Rahmen beschränkt ist. In dem von mir skizzierten größeren Zusammenhang wird auch diese vertikale, nach vorne orientierte Ausrichtung des Kinos in Frage gestellt. Die Großleinwandaufführung in 3D ist somit nur ein Spezialfall und nicht die Norm im erweiterten Feld der Stereoskopie und des räumlichen Blicks. Ein wesentlich vielfältigeres Aufgebot von Bildflächen ist im Entstehen begriffen oder vorstellbar: Mobil und tragbar, Bildflächen so groß, dass sie das gesamte Blickfeld einnehmen, Bildflächen die uns umgeben und Teil unseres Umfeldes sind, rahmenlose Bildflächen und solche, die auf jeden nur möglichen Raum zugeschnitten sind. Kurzum, 3D kann als symptomatisch für die starke Zunahme von Bildschirmen um uns herum gesehen werden und muss keine bestimmte Sichtweise implizieren und keine bestimmte Art von Bild projizieren, sondern es könnte einen neuen Zuschauer produzieren: Dem idealen, horizontlosen Bild entspräche der ideale Zuschauer – treibend, gleitend, schwebend. Wie bereits der Bezug zu den Phantasmagorien verdeutlicht (und auch das Zitat aus dem Observer), war eine solche raumzeitliche Re- und Dislokalisierung bisher Privileg von Geistern, Wiedergängern und dergleichen virtuellen Erscheinungen aus dem Jenseits. Gute Beispiele von Filmen, in denen Geister die narrative Grundlage für den Einsatz von 3D liefern, finden sich im zeitgenössischen japanischen Kino, allen voran Takeshi Shimizus The Shock Labyrinth 3D (2009). Ein Sonderfall ist der Film Bin Jip (2004) des Koreaners Kim ki-Duk. Obgleich technisch in 2D müssen wir uns hier oft »gekrümmte Räume« und Raumzeitverschiebungen vorstellen, da der Protagonist sich unsichtbar macht, indem er verschiedene para- und pseudostereoskopische Situationen schafft. Dies tut er, als wolle er andeuten, dass die Stereoskopie – Tarnkappenbombern ähnlich, die dem Radar unsichtbar bleiben – den Zuschauer eher mit einer gefühlten, denn mit einer sichtbaren Erscheinung konfrontiert und somit im unbeeinträchtigten Blickfeld Koordinaten der unsichtbaren Präsenz erschafft.51

Veränderungen der raumzeitlichen Wahrnehmung in diesem Sinne benötigen kein 3D-Rendering, selbst wenn sie »imaginierte Dinge« und nicht »reale« darstellen. Roger Ebert macht meines Erachtens in seiner Kritik den Fehler, 3D als erweiterten Realismus im Renaissanceraum zu konzeptualisieren, daher auch der Vorwurf der »Unnatürlichkeit«. Francis Ford Coppola, der sich als einer der Ersten die Räumlichkeit des Tones zunutze gemacht hat, ist bislang nicht von 3D beeindruckt, erinnert aber daran, dass bereits Abel Gance damit experimentierte.52 David Bordwell, ebenfalls eher skeptisch gegenüber 3D, hat in seinem Blog dennoch einige treffende Beobachtungen zum Thema publiziert.53 So erwähnt er zum Beispiel, dass die Animationstechniker in Coraline (USA 2009, R: Henry Selick) 3D-Effekte nicht nutzten, um räumliche Tiefe zu betonen, sondern um Räume zu schaffen, die den Regeln der Perspektive widersprechen, und somit leichte visuelle Anomalien hervorrufen. Mittels künstlicher »Verflachung« des Bildes simulieren sie kognitive Dissonanzen und täuschen die Wahrnehmung, produzieren somit einen Anflug von Klaustrophobie oder Unbehagen, so dass der Zuschauer den Gemütszustand der Protagonistin durch sein körperliches Befinden vermittelt bekommt. Bordwells Kommentare knüpfen an folgende Äußerungen des Regisseurs an:

»I was also looking for what is the difference between the real world and the other world, besides how much depth does it have. […] I had in my mind why don't we just turn up the 3D in the other world, compared with the real world but why don't we in the real world, especially in the interior shots, in the kitchen, the living room, Coraline's Bedroom, why don't we actually build them as if they were flattened, as if they have very little depth. [...] I wanted her life in the real world to feel as if it were claustrophobic, lacking color, a certain sense of loneliness. We did that [...]. We actually built it [the other world] much deeper. And the 3D shows that off.«54

Mit anderen Worten: Regisseure und Drehbuchautoren – in Selicks Fall unterstützt von über 30 Animationstechnikern, digitalen Designern und zweifellos auch Neuropsychologen55 – benutzen den dreidimensionalen Raum nicht so sehr, um uns, den Zuschauern, räumliche Authentizität vorzuspielen. Ganz im Gegenteil, 3D wird eingesetzt, um 2D einen neuen Wert zu geben, entweder um eine Retroästhetik zu erzeugen oder um Effekte aus anderen Systemen der räumlichen Repräsentation zu nutzen, ob sie nun aus Asien stammen (japanische Holzschnitte), aus der Frührenaissance (Fra Angelico), aus der impressionistischen Malerei (Van Gogh)56 oder an die oben angesprochene Frontalität des frühen Kinos erinnern. Letzteres ist der Fall in Tim Burtons Alice in Wonderland (USA 2010) und in Scorseses Hugo, der Darstellungsmodi wiederbelebt, die auf dem Weg zum klassischen Kino mit seiner piktographischen Repräsentation der räumlichen Tiefe unterdrückt oder verworfen wurden.57

Diese Überlegungen führen zu einer bereits angedeuteten, paradoxen Schlussfolgerung: Da das neue 3D keine Rückkehr des »tiefen Raums« im Sinne der sogenannten »Creature Features« der Fünfziger ist, die spitze Objekte in den Kinosaal ragen ließen, wird die Wiederkehr des 3D eher zur Erweiterung der expressiven und konzeptuellen Register des post-euklidischen Raums beitragen. 3D könnte daher unser Wahrnehmungsspektrum erweitern, die emotionale Anteilnahme des Zuschauers verstärken und dazu führen, dass die (ursprünglich als störend empfundenen) Effekte der stereo-optischen visuellen Suggestionen von Raumtiefe stärker mit den monokularen Techniken der Tiefenillusion (Fluchtpunkt, Schattierung, Farbe, Größe) verbunden werden.

Купите 3 книги одновременно и выберите четвёртую в подарок!

Чтобы воспользоваться акцией, добавьте нужные книги в корзину. Сделать это можно на странице каждой книги, либо в общем списке:

  1. Нажмите на многоточие
    рядом с книгой
  2. Выберите пункт
    «Добавить в корзину»