GEN CRASH

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7

Ich drückte Beil das Päckchen in die Hand. Es war mit einer gelben Kordel verschnürt.

"Also?"

"Niemand kennt seinen Namen. Sie nennen das Projekt 'S'."

"'S' für Schafspelz?"

"Keine Ahnung, davon war nirgends die Rede."

"Ist das alles, Jakob? Bisschen mager für 'nen echten Spittelmann, oder?"

"Wir fangen gerade erst an. Lass uns drüben in die Kneipe gehen." Er zeigte auf ein Lokal am anderen Ende der Gracht und ging mit weit ausholenden Schritten voraus.

Wir setzten uns in einen der verglasten Erker und sahen auf das Treiben vor dem Fenster hinunter. Auf vorübersausende Fahrräder, Autos, die sich vergeblich durch die enge Straße zu winden versuchten, auf Passanten, die keinen Schritt beiseite traten, wenn es hinter ihnen hupte. Eine Stadt voller Lärm und Unruhe. Ich fühlte mich lebhaft an Thailand und den Vorderen Orient erinnert, und das Gedränge da draußen trug nicht gerade dazu bei, meine Stimmung zu verbessern.

Warum war ich S. überhaupt auf der Spur? Warum wartete ich nicht einfach ab, welches Material hereinkam? Welche Krumen mir Sehlen und Forum hinwarfen? Woher dieser plötzliche Ehrgeiz bei einem Mann, der niemals etwas anderes versucht hatte, als ein ausgeglichenes Leben zu führen? Aus verletztem Stolz?

"Große Bessen", tönte Beils Stimme neben mir; sie klang fremd und ungewohnt, so fremd wie die Stadt. Die Kellnerin erklärte ihm mit holländischem Akzent, dass der vordere Teil des Lokals wegen Personalmangels geschlossen würde. Wir gingen an die Theke und bekamen zwei randvolle Wassergläser Bessengenever, den man gewöhnlich aus Schnapsgläsern trinkt. Gegen Cointreau ein süßer Gehirnkleber, aber ich kippte ihn voller Verachtung für meine empfindlichen Geschmacksnerven hinunter.

"Gut gemacht! Noch einen!", sagte er zur Kellnerin und klopfte mir anerkennend auf den Rücken. Dann begann er mir seine Geheimnisse anzuvertrauen. Portionsweise und wohldosiert.

Beil war lange genug im Geschäft, um daraus ein abendfüllendes Programm zu machen. Mit seinem Ziegenledermantel und dem voluminösen Bauch erinnerte er mich frappierend an den genusssüchtigen alten Karpatenbären, den ich einmal im Käfig neben einem Kronstädter Restaurant gesehen hatte. Als ich ihm ein Stück Zucker durch die Gitterstäbe warf, fraß er es nicht einfach auf, sondern balancierte es geschickt auf seiner langen rosafarbenen Zunge, schlang sie um einen Gitterstab und zerrieb den Zucker mit seinem Speichel, bis er eine schaumige Flüssigkeit bildete.

"Du weißt, dass Gorbatschow mindestens zwei offizielle Büros unterhält? Eines im Kreml, das andere im ZK-Hauptquartier am Staraja-Platz? Sein Arbeitszimmer liegt im ZK-Gebäude. Vierter Stock, vorderer Teil des Korridors. Es gibt ein Empfangszimmer, Doppeltür zum Vorzimmer, das als Sekretariat benutzt wird, dahinter das Allerheiligste." Die Gäste um uns her schienen Beil nicht mehr zu stören, sie sprachen eine andere Sprache, oder er nahm an, dass inzwischen jedermann in der Welt über Michail Sergejewitsch Bescheid wusste und sich für sein Leben interessierte.

"Du bist bemerkenswert gut informiert", sagte ich anerkennend, und das war durchaus ehrlich gemeint.

"Kein Problem. Ein Teil der Nachricht waren Chiffren, die, auf den alten Langley-Zeichencode umgelegt, einen genauen Grundriss seines Büros ergaben, einschließlich Erläuterungen. Man brauchte nur noch Lineal und Zirkel, um eine maßstabgetreue Zeichnung anzufertigen."

"Das bedeutet also, unser Mann sitzt in diesem Büro?"

"In der vierten Etage am Staraja-Platz", bestätigte er. Seine Stimme war etwas verhaltener geworden bei den letzten Worten. Wir nahmen noch einmal das gleiche und zwei Amstel und verdrückten uns damit an den runden Tisch hinten in der Ecke.

Ich dachte nach, oder, besser gesagt, ich versuchte nachzudenken, denn das war bei dem Lärm, den eine Gruppe ins Lokal drängender Touristen machte, gar nicht so einfach. Sie verteilten sich an der Theke, und einer von ihnen, ein Bursche von der Statur Goebbels', aber mit rotem Haar und vielen Sommersprossen im Gesicht, begann auf deutsch Witze über die holländischen Mädchen in ihren rot erleuchteten Fenstern zu reißen. Er wippte auf den Fußspitzen und umklammerte mit beiden Händen die Thekenstange.

Ich versuchte mir Sehlens Worte zu vergegenwärtigen: "Es ist das Briefpapier unseres Mannes im Kreml, Adrian. Ich vertraue Ihnen ein großes Geheimnis an – dieser Umschlag ist eine Botschaft, auch wenn keine einzige Zeile darin zu finden ist. Er bedeutet nichts Geringeres, als dass wir erfolgreich sind. Unser Mann im Kreml arbeitet bereits."

"Deine deutschen Brüder." Mein Blick folgte Beils ausgestrecktem Kinn. "Freitag abends schlagen sie immer alles kurz und klein, Adrian. Sie haben fünf Tage lang schwer geschuftet, deshalb brauchen sie am Wochenende etwas Abwechslung. Die Gewissheit, Herr ihrer eigenen Fäuste zu sein. Sie geben's niemals zu, aber sie spüren, dass sie armselige Sklaven sind, und das macht sie böswillig und aggressiv." Er hielt inne, und ich begriff, dass der amüsierte Klang seiner Stimme eher mir als ihm galt, obwohl er sich selbst in seine Rede einbezog: "Wir haben schon vor langer Zeit den Kopf in den Sand gesteckt, in die Bücherkisten und Archive, sind in Deckung gegangen, abgetaucht. Freies Leben ohne Sklaverei, soweit es das überhaupt geben kann – Minimum an Verpflichtungen. Wir betrachten die Dienste als Refugium."

"Und als Selbstbedienungsladen."

Er verstand die Anspielung.

"Nur ein kleines Präsent, Adrian", sagte er und hob den Spittelmann hoch. "Das ist unter alten Freunden doch so üblich, oder? Wir können alle unsere Piratengesinnung nicht verhehlen, und warum sollten wir auch? Unter der schwarzen Flagge segelt's sich immer noch am besten. Ich gehe ein ziemliches Risiko ein, wenn ich dir von der Sache erzähle."

"Du hast mich noch gar nicht gefragt, warum ich das alles wissen will, Jakob?"

"Sicher nicht, weil du damit zum Dzershinski-Platz im guten alten Moskau gehen willst. Du bist doch das Gegenteil des klassischen Verräters, Addi. Überläufer sind emotional angeschlagen."

"Vielleicht will ich damit ja ins Djetski Mir, ins Kinderkaufhaus gehen. Das liegt auch am Dzershinski-Platz, gar nicht weit vom KGB-Gebäude."

"Ums den lieben Kleinen anzudrehen? Wäre die richtige Einstellung", pflichtete er mir bei. "Überlasst den Kindern das Geheimdienstgeschäft. Ein Pappspiel wie Monopoly, man braucht die Grundstücke, die man dabei gewinnen kann, nur noch durch Informationen zu ersetzen."

Er bekam plötzlich mörderischen Hunger, Genever regte immer seinen Appetit an. Aber dies hier war nicht der richtige Ort, um ein Feinschmeckermenü a la Beil einzunehmen, dazu bedurfte es schon eines stärkeren Kalibers als Zwiebelsuppe aus der Dose. Er musste noch ein paar weitere Informationen auf Lager haben, und eine bessere Gelegenheit, sie gewinnbringend an den Mann zu bringen, würde er so schnell nicht finden.

Wir verließen den rothaarigen Possenreißer und sein aufgekratztes Publikum, und als wir hinausgingen, machte jemand eine abfällige Bemerkung über Beils Arbeitskittel unter dem dunkelbraunen Ziegenledermantel, auch der Persianerbesatz am Kragen schien es ihm angetan zu haben. Beil fragte ihn, ob er sich den Mantel vielleicht draußen an der Gracht noch ein wenig genauer ansehen wolle. Er wippte angriffslustig auf den Zehenspitzen wie der kleine Witzemacher und ballte seine Fäuste dabei.

"Oh " Der andere musterte ihn betroffen.

"Draußen unter der Laterne", schlug Beil vor.

"Ich na ja, hab ja nicht ahnen können, dass Sie einer von uns sind."

"Ich bin keiner von euch", sagte er. "Ich bin schon vor fünfzehn Jahren vor so schiefen Typen wie euch emigriert." Er wandte sich ab, als sei die Angelegenheit damit für ihn erledigt, und der andere machte keine Anstalten, ihm zu folgen.

Das Viertel, in das Beil mich führte, war stockfinster. Außer den guten alten holländischen Straßenlaternen, die alle bei der letzten Demonstration zertrümmert worden waren, aber trotzdem noch genug für die Kulisse hermachten, gab es nur eine trübe grüne Schiffsfunzel an der Leitung zwischen den Brückenmasten. Wir bogen um eine zerfallene Backsteinmauer, auf der Unkraut wuchs, stiegen zwei Treppen hinunter, passierten einen Durchgang, dessen Wände mit Balken abgestützt waren – und plötzlich lag ein großer Innenhof vor uns.

"Immer durch den Rücken ins Herz", sagte Beil. Er lächelte geheimnisvoll.

Ich blieb stehen und erkundigte mich, was er meinte.

"Indonesische Spezialitäten "

"Hier, auf dem Hof?"

Er schüttelte den Kopf und musterte gedankenverloren die umliegenden Häuser. Ihre Fenster waren genauso dunkel wie der gepflasterter Platz. Unter dem Vordach stand ein Kühltransporter für Gefrierfleisch. Aber als ich seinem Blick folgte, entdeckte ich in der Fensterreihe über uns einen kaum merklichen roten Schimmer hinter den Gardinen. Beil musste meinen plötzlichen Argwohn bemerkt haben, er zog belustigt die Brauen hoch.

"Spe-zi-a-li-tä-ten", wiederholte er. "Lass dich einfach überraschen, Addi."

Er fasste meinen Arm und zog mich in einen Hintereingang, der mit hohen Blechtonnen verstellt war. Es ging eine steile Stiege hinauf, durch einen Vorhang aus farbigen Kunststoffstreifen, und auf dem Treppenabsatz roch ich, dass jemand sich mit einer süß-sauren Soße abmühte. Dem Aroma nach erfolgreich.

"Die Küche hier hat was Besonderes", erklärte er, während wir in den vorderen Teil des Restaurants gingen und uns an einen Tisch mit Blick zur Gracht setzten. Die Nacht draußen war durch zwei, drei Dutzend Vergnügungsetablissements erleuchtet, deren Leuchtreklamen sich im Wasser spiegelten. Lifeshows, Bars, Restaurants, Imbisshallen, Geschäfte mit billigen Pornoartikeln.

 

Ich beugte mich ein wenig vor, um die verrenkte Gestalt hinter einer Schaufensterscheibe erkennen zu können. Unter der Decke schwebte ein lebensgroßer aufblasbarer Neger mit erigiertem Latexpenis. Er hatte seine Arme ausgebreitet wie der zum Laster verkommene Engel der Verkündigung.

Es war bemerkenswert ruhig, viel ruhiger als in der Gracht mit der Kneipe. Andachtsvolle Stille angesichts so vieler Menschen. Die Fenster der Huren lagen manchmal unterhalb des Gehsteigs. Ihr roter Lampenschein sah aus, als loderten Flammen aus dem Hades herauf.

Ich beobachtete eine hellblonde Hure, die vor dem Haus auf und ab spazierte. Sie trug glänzende schwarze Schaftstiefel, einen kurzen, schwarzen Lederrock und rauchte ihre Zigarette genauso hastig wie Margrit. Sie sog so heftig daran, als ließe sich dem feuchten Mundstück noch ein wenig mehr Nikotin abpressen.

"Warum sind wir nicht durch den Vordereingang gegangen?"

"Dieses Restaurant hat keinen Vordereingang", erklärte er und versuchte seine feixende Grimasse hinter der Speisekarte zu verbergen. Die Karte war auf indonesisch abgefasst. Nur die Namen der Speisen tauchten auch in englischer Sprache auf, Phantasienamen wie "Topless" oder "Glorious Escape".

"Irgendeine Empfehlung, Jakob?"

"Du bist eingeladen, Addi, such dir was aus. Wenn du mich fragst: 'Entertainment'."

"Also gut, zweimal 'Entertainment'."

"Die süß-saure Variante", sagte er zum Kellner. "Ohne Ingwer und Knoblauch. Und braten Sie's nicht so scharf an wie sonst." Er bestellte einen alten süditalienischen Wein dazu.

"Rote Kinderpisse", meinte er grinsend, als der Kellner mit unserer Bestellung in der Küche verschwunden war. "Bisschen Ochsenblut und Pottasche dabei. Diese Giftmischer haben uns so lange mit den abenteuerlichsten Mixturen versorgt, da kommt's auf etwas mehr oder weniger Nierenschaden auch nicht mehr an."

Gegenüber an der Wand ging die Küchenklappe hoch, ein schlitzäugiges Gesicht erschien, grinste nicht weniger verworfen und verschwörerisch als mein Gegenüber, und Beil hob die Hand und drohte scherzend mit dem Zeigefinger, worauf sich das Gesicht, leise murmelnd und nicht ganz ernst gemeinte Flüche ausstoßend, ins Innere der Küche zurückzog.

Ich probierte etwas von dem Wein, er schmeckte ausgezeichnet, aber irgendwie war mir bei der ganzen Geheimnistuerei der Appetit vergangen.

"Alles kapiert, Addi?"

"Nein."

"Na, dann Prost "

"Ja, Prost."

"Wir trinken uns um Kopf und Kragen, was?"

"Ich versuche, bei allem Maß zu halten, Jakob."

Er nickte wissend.

Während des Essens war er ziemlich schweigsam. Ich hatte das Gefühl, dass er jeden meiner Bissen beobachtete und meine Reaktion studierte. Aber immer, wenn ich ihn ansah, wanderte sein Blick unschuldig zur Wand, begutachtete das Ornament der Tapeten, den durchbrochenen schwarzen Lack-Wandschirm, der unsere Ecke vom Nachbartisch trennte, oder die roten Hängelampen. Es war eine Einrichtung wie aus dem Kramladen für Fernost-Artikel, glänzend und bunt. Ich hätte wetten mögen, dass kein einziges Stück davon aus Indonesien kam. Nicht mal der Koch schien aus Indonesien zu stammen.

"Da ist noch eine Kleinigkeit, die du wissen solltest, Adrian."

"Hab ich mir schon gedacht, Jakob."

"Als ich die Nachricht noch mal durchsah, zum zweiten, dritten Mal, begann ich mich zu fragen, was eigentlich ihr genauer Zweck war. Maulwurf im Kreml – na gut, das durfte den Empfängern nicht ganz unbekannt sein, schließlich mussten sie erheblichen Aufwand damit getrieben haben, ihn dort einzunisten – oder umzudrehen, Addi, das kommt aufs selbe heraus. Meldeten sie bloß Vollzug? Und warum die Skizze der Räume? Wollten sie noch einen zweiten Mann auf den großen Generalsekretär ansetzen? Nein, unwahrscheinlich. Es würde bloß das Risiko erhöhen, enttarnt zu werden. Wenn Nummer eins funktionierte, gab es keinen plausiblen Grund, Nummer zwei ins Spiel zu bringen. Oder waren diese Buchhalterseelen ganz einfach nur darauf erpicht, sich jede, aber auch jede verfügbare Information unter den Nagel zu reißen? Die alte, unausrottbare Sammelleidenschaft, Addi?"

"Und falls nicht, Jakob?"

"Eben, was, wenn nicht", bestätigte er. "Was bezwecken diese Zeichnungen?"

"Gab es denn gar keine anderen verwertbaren Informationen? Gewöhnliches Material?"

"Doch, sicher. Aber das eine stand neben dem anderen. Ziemlich beziehungslos, würde ich sagen. Es ergab keinen Zusammenhang. Briefmarken aus verschiedenen Perioden, wenn man einen Vergleich ziehen wollte. Wer das Zeug sammelte, sammelte entweder alles, was ihm in die Finger kam – oder er hatte noch was anderes damit im Sinn."

"Etwas anderes?"

"Na, wofür braucht man Bürozeichnungen? Einen Grundriss der Zimmer von Gorbis Allerheiligstem? Denk mal an den Bürgerbräukeller, damals in München. Es gibt sicher viele, die ihm den Tod wünschen, in der Sowjetunion und außerhalb davon, im Westen. Die ihn als Verderber sehen, der sich nur noch mit Gewalt von seinen Obsessionen abbringen lässt. Was uns hier im Westen als liberal erscheint, ist in den Köpfen einiger Erzkonservativer nichts weiter als Verrat an der Vergangenheit.

Er hat fast unlösbare Probleme: erstens, seine Wirtschaft in Gang zu bekommen, zweitens den Nationalitätenstreit und drittens die Apparatschiks, die um ihre Pfründe bangen und auf ihre alten Tage umdenken sollen. Die plötzlich auf der Straße stehen, weil man sie wegen Unfähigkeit davongejagt hat.

Alles war so bequem eingerichtet! Sondervergünstigungen, Schlendrian, Korruption, und nun das große Erwachen. Sie alle warten ab, warten darauf, dass der große Reformer stürzt. Er ist jetzt schon eine historische Erscheinung, kaum weniger bedeutend als Lenin. Die Aufgabe, die er sich gestellt hat, kann man nur als gigantisch bezeichnen, als vermessen.

Seine Ziele sind nach unseren Maßstäben durchaus ehrenwert. Das Land ist bankrott, ideologisch, moralisch und wirtschaftlich. Eine solche Aufgabe in Angriff zu nehmen verleiht ihm Größe und Bedeutung, wenn nicht sogar Unsterblichkeit, Adrian. Denn er ist ein kluger Mann, er weiß, dass die Umstände gegen ihn sprechen.

Einen weniger Gewitzteren als ihn würde sein Vorhaben sofort als Träumer und Narren entlarven. Aber er ist sich der Gefahr bewusst, er sieht ihr ins Auge. Die Totengräber stehen schon bereit. Und halten wir hier vielleicht die Skizze in der Hand, die den Ort seines Untergangs bezeichnet?"

Er zog ein Blatt aus der Kitteltasche, auf dem ich unschwer den Grundriss einer Etage erkannte.

"Willst du damit etwa sagen ?"

"Jemand in seiner Nähe. Nur jemand aus seiner unmittelbaren Nähe kommt an ihn heran. Wenn er das Haus verlässt, dann fast immer in einem Konvoi von vier riesigen, handgefertigten Luxuslimousinen, Marke SIL. Eine davon, mit zugezogenen Vorhängen, fährt fünfzig Meter hinter ihnen und ist mit Antennen bestückt. Ein rollender Gefechtsstand, Adrian. Seine Datscha an der Rubljow-Chaussee, einem westlichen Vorort Moskaus, bekommt kein Ausländer zu Gesicht, es sei denn, er sei eingeladen. Und Raissa mag keine Gäste."

"Unser Mann im Kreml also", sagte ich, während ich die Skizze musterte.

"Wir haben keine Gewissheit, es ist bloß eine Vermutung."

"Immerhin würde das erklären, warum man so bemüht ist, die wirklichen Drahtzieher am anderen Ende der Leitung – hinter Reykjavik – geheim zu halten", sagte ich. "Simons hätte vielleicht Auskunft darüber geben können – irgendwelche Hinweise, später, falls die Sache in die Hose gegangen wäre –, weil eine Spur nach Langley führte. Sie benutzen einfach die alten Einrichtungen in Reykjavik, Simons' Fernschreiber. Das war sicherer, als den üblichen Weg zu wählen."

"So denken sie, ja, so denken sie, Adrian. Das ist genau ihre Vorgehensweise. Absicherung, alle Eventualitäten berücksichtigen. Sich bloß nachher keine Vorwürfe machen müssen, dass man zu leichtsinnig vorgegangen sei – oder dass man unfähig war, ein paar Züge vorauszudenken."

"Dann wären wir einer heißen Sache auf der Spur."

"Willst du, dass man ihn liquidiert, Adrian? So mir nichts, dir nichts? Willst du mitschuldig daran werden, dass der Lauf der Weltgeschichte eine andere Wendung nimmt, als vorgesehen? Ich will es nicht."

"Dann ist genau das der vorbestimmte Gang der Weltgeschichte", sagte ich nachdenklich.

"Ich weiß, er hat uns eine Menge Ärger gemacht. Man muss sich nicht mit Wohlwollen überschlagen. Er bringt es noch fertig, dass wir uns selbst für Friedensengel halten – weil er es so will. Und ob man ihm immer glauben kann?

Anfangs waren wir alle sehr misstrauisch. Da kam dieser Mister Niemand und stieg in Windeseile zum Politbüromitglied auf. Sohn eines Bauern, Arbeiter in einer Maschinen-Traktoren-Station. Priwolnoje, wo liegt das überhaupt? Im Kaukasus, glaube ich. Ein Provinzmensch also. Von wessen Teller hatte er eigentlich bis dato gegessen? fragten wir uns.

Was er jetzt propagiert, hätte er niemals äußern dürfen, bevor er an die Macht gekommen war. Also ein genialer Verstellungskünstler? Oder waren ihm alle seine grandiosen Einsichten über die Misere des Sozialismus erst nach Tschernenkos Tod gekommen?"

"Ich verstehe, was du damit sagen willst."

"Wenn man ihm hier im Westen nicht traut, in den Führungsetagen, meine ich, und ihn längst als großen Propagandisten durchschaut hat, der mit Meinungen jongliert wie ein Ballkünstler im Zirkus "

"Taucht darüber irgend etwas in den Nachrichten auf?", erkundigte ich mich vorsichtig.

"Sie kündigen es an."

"Und na ja, sind deine dechiffrierten Papierchen noch greifbar, Jakob?"

"Für eine kleine Durchsicht, meinst du? Nein, nur diese Skizze", sagte er und ließ das Blatt eilig wieder in seiner Kitteltasche verschwinden. "Woher hätte ich auch wissen sollen, dass du dich dafür interessierst? Ich habe das Zeug ordnungsgemäß auf die Reise geschickt und die Arbeitspapiere vernichtet. So lautet die Vorschrift. Ich würde mich schwer hüten, Adrian!"

8

Als ich nach Zandvoort zurückkehrte, verspürte ich leichte Übelkeit. Ich nahm die Bahn kurz nach Mitternacht und ließ mich einen Kilometer vor dem Haus an den Dünen absetzen. Die Regel schrieb vor, das Taxi mindestens einmal zu wechseln, aber in diesem kleinen Ort kam sie mir albern und überflüssig vor, ein Manöver, das eher Aufmerksamkeit erregt hätte.

Ich ging das letzte Stück zu Fuß am Strand entlang. Es war fast windstill, obwohl über dem Ufer eine hohe Brandungswelle lag. Ihre Schaumkronen brachen immer genau in dem Moment, wenn sie nicht mehr ganz senkrecht stand und sich leicht vorbeugte. Die Gischt schäumte mir bis vor die Füße.

Irgendwo, weit hinten auf dem glatten Wasser, schwamm eine einsame Möwe.

Dann sah ich das Haus in den Dünen liegen. Jetzt, in der Nacht, machte es noch stärker den Eindruck eines wilhelminischen Bordells auf mich, das von den Behörden geschlossen worden war, als bei Tageslicht. Geschlossen und versiegelt wegen irgendwelcher Exzesse, die gerade nicht in die Zeit passten, oder weil seine Mädchen sich infiziert hatten. Alle Fenster waren dunkel, aber das besagte wenig. Bei meinem letzten Besuch waren mir die schweren Holzrollos aufgefallen. Sie sahen aus, als seien sie erst kürzlich angebracht worden. Ich passierte die Treppe zum Keller, öffnete mit dem Schlüssel, den Sehlen mir gegeben hatte, und ging durch den Gang zum Flur. Am Treppengeländer blieb ich stehen und horchte den Geräuschen nach. Irgendwo vibrierte ein Benzingenerator, eine dieser handlichen rotlackierten japanischen Koffermaschinen.

Es gab drei oder vier davon, die für das Treppenhauslicht stand in der Kellernische. Ich kannte ihren Klang von Margrits Campingausflügen. Sehlen hatte sie aufstellen lassen, um sich vom örtlichen Stromnetz unabhängig zu machen. Auf diese Weise gab es keine Stromabrechnungen – kein Lebenszeichen für die Behörden, keine lästigen Frage, wer das Haus angemietet hatte.

Ich schloss die grüne Eisentür hinter der abklappbaren Spiegelgarderobe auf, in deren Lack ein Witzbold ein Herz für "Toilette" eingeritzt hatte, und ging die Wendeltreppe zur Zwischenetage hinunter. Als ich die Lichtschranke passierte, hörte ich hinter der Tür den Summer.

 

Sehlen saß vor dem Funkgerät, er hatte einen Kopfhörer auf und wandte mir den Rücken zu.

"Kleinen Ausflug gemacht, Adrian?", fragte er, ohne sich nach mir umzudrehen.

"Oh, ich war nur auf einen Sprung mit alten Freunden essen."

"Mit Freunden?"

"Ja", sagte ich einsilbig und hoffte, dass er sich mit dieser Auskunft begnügen würde, aber seinem fragenden Blick, als er sich ruckartig auf dem Drehstuhl herumgleiten ließ, merkte ich an, dass ich damit falsch lag. "Musste auch mal wieder sein", fügte ich hinzu.

"Was Besonderes?"

"Indonesisch."

"Ah, in Amsterdam? Hier gibt's nämlich weit und breit kein indonesisches Restaurant. Am exotischsten ist immer noch 'De Windroos'. Fängt die Matjes mit ungewaschenen Herrensocken – das verleiht ihnen ihr pikantes Aroma."

"Ja, irgendwo am Rembrandtsplein."

"Doch nicht etwa im Clock-Wok?", erkundigte er sich ungläubig.

"Kann schon sein. Hab den Namen wohl auf der Karte gelesen. Meine Freunde erwähnten nicht, wie es hieß. Sie taten ziemlich geheimnisvoll."

"Kein Wunder. Dann sind Sie heute unter die Menschenfresser gegangen, mein Lieber."

"Das ist ein Scherz, oder?"

"Wie haben Sie gegessen? Süß-sauer?"

"Das Gericht hieß Entertainment."

"Pfui, Teufel "

"Sie wollen mich auf den Arm nehmen, Ronald?"

"Entertainment ist genau das, was der Name besagt. Hübsche junge Dinger aus südostasiatischen Etablissements, die den Gangstersyndikaten im Wege standen. Die ihren Zuhälter betrogen haben oder jemanden aus dem Familienclan, der mächtig genug ist, sich eine kleine Demonstration seiner Stärke zu erlauben. Man hat sie umgebracht, und um ihre Leichen zu beseitigen, friert man sie ein und verschifft sie als pikante Fleischbeigabe nach Westeuropa oder in die USA."

"Unsinn, was ich gegessen habe, war simples Schweinefleisch."

"Ich sagte als Beigabe, Adrian."

Seitdem er von Margrit meinen Namen gehört hatte, verzichtete er endlich auf dieses entsetzliche 'Amb'.

"Und Sie wollen mir weismachen, die Lebensmittelbehörden würden das dulden?"

"Natürlich ist es nur ein Gerücht, Amb. Der Laden lebt von diesem Gerücht, von seinen dunklen Fenstern und von der Hintertreppe." Er nahm den Kopfhörer ab und legte ihn vor sich auf das Funkgerät. Aus den Ohrmuscheln erklang hochfrequentes Wellengezwitscher. "Sie müssen doch zugeben, dass es dem Essen einen besonderen Biss verleiht so ein Stück asiatisches Jungmädchenfleisch zwischen den Zähnen.

Man weiß nicht recht, kommt der süßliche Geschmack von der Soße oder vom Fleisch." Er lachte dröhnend und strich sich genusssüchtig durch die Mundwinkel.

"Anscheinend sind Sie in dem Laden Stammgast, Ron?"

"Oh, dieser Schlingel von Koch spiegelt mir manchmal vor, er suche ganz besonders schmackhafte Stücke für mich aus. Aber Sie haben schon recht – es schmeckt wie gewöhnliches Schweinefleisch."

"Süß-sauer angemacht?"

"Ja, süß-sauer angemacht. Wahrscheinlich spielen sie nur mit unserer Lust am Schaurigen. Diese Burschen sind einfach clevere Geschäftsleute, und das ist ihre Methode, um der Konkurrenz eins auszuwischen."

Wir wechselten das Thema, und ich war froh, dass er nicht mehr nach meinen Freunden fragte und keine genauen Einzelheiten über meinen Besuch in Amsterdam wissen wollte. Manchmal war ich ein schlechter Lügner, und dann wieder gelang es mir, ein vollendeter Schauspieler auf Gottes schäbiger Schmierenbühne zu sein, oder doch wenigstens ein ganz respektabler, wie es sich für einen Angehörigen meines Berufsstands gehörte. Aber diesmal fühlte ich mich zu matt und kraftlos, um Sehlen hinters Licht zu führen. Vielleicht lag's am Genuss von zuviel Mädchenfleisch.

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