Die Zerstörung der EU

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DAS DRAMA ITALIENS

Im Fokus des Interesses an der EU stand bis zu den französischen Feuerzeichen zweifellos Italien. Voran die Daten seines Niederganges:

• Italiens reales BIP pro Kopf, das zwischen 2003 und 2005 gleichauf mit dem deutschen lag, verringerte sich mit dem Sparpakt drastisch und liegt dank Marktanteilsverlusten im Export heute 8,7 Prozent unter dem Vorkrisenniveau. Von Deutschlands BIP ist es dank Marktanteilsverlusten 10.000 US-Dollar pro Kopf entfernt.

Der Niedergang als Schaubild


Quelle: The World Bank

• Dieser Entwicklung des BIP entsprechend haben sich die Realeinkommen der Italiener vermindert. Wie überall bei den Geringverdienern mit Abstand am stärksten – ihre Einkommen liegen durchwegs an der Armutsschwelle – bei den Superreichen vergleichsweise unerheblich.

• Italiens Staatsschuld stieg während des „Sparens“ von 1671,4 Milliarden Euro im Jahr 2008 bis 2017 um rund ein Drittel auf 2256 Milliarden. Die berühmte Staatsschuldenquote (Schulden pro BIP), die sowohl diesen Anstieg der Schulden wie den Absturz des BIP zu verkraften hatte, schnellte von 102,4 Prozent auf 131,8 Prozent hoch.

• Die Arbeitslosigkeit hat sich von 6,7 Prozent im Jahr 2008 auf 11,2 Prozent im Jahr 2017 fast verdoppelt. Die Jugendarbeitslosigkeit liegt um die zwanzig, im Süden um die fünfzig Prozent. Einmal mehr trotz Abwanderung vieler Arbeitssuchender und obwohl viele Langzeitarbeitslose das Suchen aufgegeben haben. Italiens Bevölkerung ist extrem unterbeschäftigt: Frauen arbeiten besonders selten, prekäre, Minimal- und Teilzeitbeschäftigung sind besonders weit verbreitet.

In dieser ernüchternden wirtschaftlichen Situation erhielten, exakt wie zuvor in Griechenland, die linksanarchische Fünf-Sterne-Bewegung und die rechtsextreme Lega Nord extremen Zulauf. Nachdem sie mit dem Schlachtruf „Die Sparpolitik muss ein Ende haben“ in den Wahlkampf gezogen waren, errangen sie bei den Wahlen im März 2018 den fast unvermeidlichen Erdrutschsieg. Wieder ganz nach dem Muster Griechenlands, wo die linke Syriza Alexis Tsipras’ mit der weit rechten Goldenen Morgenröte koaliert, einigten sich die linksanarchische Fünf-Sterne-Bewegung unter Luigi Di Maio und die neofaschistische Lega Nord Matteo Salvinis auf eine ähnlich seltsame Koalition, bei der die gegenseitigen Sympathien etwa der von Mäusen für Schlangen entsprechen.

Einzige inhaltliche Klammer: die Verzweiflung am Sparpakt.

Nachdem Salvini den fachlich angesehenen, aber politisch umstrittenen Ökonomen Paolo Savona als Lega-Wunschkandidaten für das Amt des Finanzministers durch den Ökonomen Giovanni Tria ersetzt hatte, weil Savona als überaus EU-kritisch gilt, durfte der Elder Statesman Guiseppe Conte mit dem zähneknirschenden Einverständnis der EU eine Fünf-Sterne-Lega-Nord-Regierung bilden, denn anders als Savona gilt Tria nicht als ein Mann, der den Euro-Austritt Italiens für eine mögliche Alternative hält. Allerdings hätten sich Lega und Fünf Sterne auch mit Savona nicht für den Euro-Austritt ausgesprochen, sondern nur die Lockerung des Sparpaktes gefordert.

Dabei ist es geblieben: Im Herbst 2018 legte Italien der EU, wie vom Sparpakt vorgeschrieben, einen Haushaltsentwurf mit folgenden Eckpunkten zur Kenntnisnahme und Begutachtung vor:

• Sie beantragte (und beschloss mittlerweile), eine „Notstandshilfe“ von 780 Euro einzuführen, die sie „Grundgehalt“ nennt, obwohl sie daran gebunden ist, zumindest den dritten angebotenen Job anzunehmen. Der Ökonom Alexander Grasse durfte das in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung entgegen der Blattlinie „sinnvoll“, ja „sozial überfällig“ nennen. Ökonomisch stellte es de facto eine Art Mindestlohn dar, den Arbeitgeber schwer unterbieten können.

• Mit dem Ziel, dem Bürger mehr Geld in der Tasche zu lassen, will die Regierung die Lohn- und Einkommenssteuern, aber auch die Unternehmenssteuern als Flat Tax gestalten und deutlich senken. Denn wenn selbst Geringverdienern mehr Geld in der Tasche bleibt, so hofft sie, werden sie mehr Waren kaufen und Italiens Wirtschaft damit Auftrieb geben. Auch in Österreich hat sich das Wachstum sofort verbessert, nachdem Hans Jörg Schelling die von Michael Spindelegger immer wieder hinausgeschobene steuerliche Entlastung der Bevölkerung endlich durchgeführt hat.

• Aus den gleichen Gründen hat die Regierung auch eine Mindestpension von 680 Euro beschlossen, die Grasse gleichfalls „überfällig“ nennen durfte.

• Schließlich plante die Regierung Steueramnestien, die dazu führen sollten, dass die Italiener in der Schweiz gebunkertes Geld wieder nach Hause bringen. Auch das ist nicht abwegig, aber Beobachter fürchten (nicht zu Unecht), dass die vorzeitige Ankündigung dieser Möglichkeit dazu führte, dass vorerst noch mehr hinterzogen wurde.

Die Kommission hat diesen Haushaltsentwurf wie erwartet erst einmal entrüstet zurückgewiesen, weil er dem Sparpakt – meines Erachtens auf mäßig sinnvolle, wenn auch halb so dramatische Weise – widerspricht. Aber beide Seiten setzten auf drastische Rhetorik: Matteo Salvini erklärte sofort, auf dem Entwurf beharren zu wollen, die EU ihrerseits auf dessen Zurückweisung.

Das eröffnete folgende Szenarien:

• Das in meinen Augen mit Abstand vernünftigste hätte darin bestanden, den Sparpakt aufzugeben. Aber es war nicht zu erwarten, dass Angela Merkel, Jean-Claude Juncker oder auch nur Sebastian Kurz dem zustimmen.

• Das zweite bestand darin, dass sich die Konfrontation zuspitzt: dass die Lega Nord dank immer wilderer Anti-EU-Rhetorik bei Neuwahlen stärkste Kraft wird und entsprechend glaubwürdig mit dem Austritt aus dem Euro droht, was einem Scheitern des Euro denkbar nahe käme.

• Drittens konnte die EU damit spekulieren, Italiens Regierung in die Knie zu zwingen. Vor allem in der deutschen und österreichischen Regierung war man der Überzeugung, die „Märkte“ würden das besorgen: die Zinsen, zu denen Italien sich Geld leiht, dozierten Kurz und Löger, würden derart steigen, dass Salvini gar nichts anderes übrig bliebe als einzulenken. Sie sind tatsächlich etwas gestiegen, weil die EZB es nicht verhindert hat: Man hätte es dem Italiener Mario Draghi zweifellos als Parteilichkeit ausgelegt, hätte er einen entsprechenden Versuch unternommen. Dennoch liegt darin ein grundsätzliches Problem: Liegt doch normalerweise der Sinn von Eingriffen der Zentralbank darin, die wirtschaftliche Situation eines Landes maximal abzustützen.

Doch zu Italiens Glück reagierten „die Finanzmärkte“ nicht so entrüstet wie die EU-Kommission auf Salvinis Absage an den Sparpakt: Italien konnte – wenn auch zu verschlechterten Bedingungen – erfolgreich eine größere Zahl neuer Staatsanleihen platzieren. Nicht einmal die Ratingagenturen stuften die Bonität italienischer Anleihen vorerst herab.

Hätten die „Märkte“ Italiens Staatsschuldenquote so ernst wie Kurz, Löger, Deutschlands Finanzminister Olaf Scholz und die EU-Kommission genommen, so hätte die Kommission Italien nicht nur eine Milliardenstrafe androhen, sondern es in der Folge wie Griechenland unter Kuratel stellen und „sanieren“ – durch gekürzte Staatsausgaben, gekürzte Beamtengehälter, gekürzte Pensionen und Sozialleistungen –, zum Schuldenabbau zwingen müssen. Das wäre, so meine Behauptung, exakt wie in Griechenland ausgegangen: Auch Italien wäre im Eilzugstempo restlos ruiniert gewesen. (Siehe „Das geleugnete Fiasko“, S. 27)

Die „Märkte“ waren also einsichtiger als die genannten Politiker und der Kommission und Italien blieb ein sofortiges Fiasko durch die EU-Wirtschaftspolitik erspart. Somit kann die Kommission ohne Gesichtsverlust weiterwursteln: Der Sparpakt wurde zwar nicht aufgegeben, aber Italien braucht sich auch nicht wirklich daran zu halten. Man akzeptierte ein paar unerhebliche Veränderungen gegenüber dem Ur-Entwurf, die angeblich nicht zu einem Defizit von 2,4, sondern nur von 2,04 Prozent führen werden, und hofft aufs Beste – denn schlechter kann es, im Gegensatz zu den Warnungen Jean-Claude Junckers, nicht werden.

Die gleiche Geschichte, anders erzählt

Weil Italien damit aber zweifellos keineswegs saniert ist, möchte ich hier ausführen, was ich selbst für die Ursache der Probleme des Landes halte. Dabei unterscheide ich so weit wie möglich zwischen aktuellen und permanenten Ursachen.

Die permanenten sind altbekannt: überschießende Korruption; eine Justiz, die ihr nicht gewachsen ist, weil die Politik sie nicht unterstützt; ein desolates Steuersystem, das die Steuerhinterziehung zur Norm gemacht hat; eine viel zu große, schlecht geführte, verlustreiche staatliche Industrie; und vor allem ein kaum zu überwindendes, weil gesellschaftlich bedingtes Nord-Süd-Gefälle.

Aber trotz dieser seit jeher vorhandenen Hürden ist Italiens reales BIP pro Kopf bis 1991 auf beachtliche 31.599 US-Dollar gestiegen und lag damit, trotz des zurückgebliebenen Südens, kaum messbar unter Österreichs 32.098 US-Dollar. Denn das Land besitzt – auch heute noch – hervorragende Wissenschaftler und Techniker und sein Norden ist hoch industrialisiert; italienische Produkte zeichnen sich durch besondere Schönheit aus; und die Italiener sind auch in keiner Weise faul – pro Jahr arbeiten sie mehr als Deutsche oder Österreicher.

Der Euro-Beitritt, so war man im In- wie im Ausland überzeugt, würde Italiens Aufstieg weiter fördern. Zumal es sich in der Vorbereitung darauf als Musterschüler erwies: Ganz im Sinne des Maastricht-Vertrages produziert sein Staatshaushalt bereits seit 1995 ständig – Hartwig Löger müsste in Standing Ovations ausbrechen – „Primärüberschüsse“.

 

In Wirklichkeit entzogen diese Überschüsse des Staates – wie das auch Österreichs aktuelle Überschüsse tun werden – der Wirtschaft nötige Investitionen: Bis zum Jahr 2000 hatte sich der Pro-Kopf-Abstand zu Österreich, wo Hannes Androsch in den 1970er-Jahren als Finanzminister Schulden statt Überschüsse produzierte, auf 2491 US-Dollar erhöht. Der gewaltig intensivierte EU-interne Handel ließ es bis 2007 zwar auf die angeführten 38.610 US-Dollar steigen, der Abstand zu Österreich aber war zu diesem Zeitpunkt bereits auf 6831 US-Dollar angewachsen und ist bis 2017 auf 10.216 US-Dollar hochgeschnellt.

Dem entsprechen die Gefühle von Italienern, wenn sie sich mit den benachbarten Österreichern vergleichen.

Dass Italien derart litt, liegt, abseits der miserablen, hyperkorrupten Wirtschaftspolitik unter Silvio Berlusconi und des widersinnigen Sparpaktes, exakt wie in Frankreich an der dramatisch verschärften industriellen Konkurrenz durch Deutschland. Wieder am deutsch-italienischen Handel selbst demonstriert: Zwischen 1998 und 2007 stieg Italiens Handelsbilanzdefizit gegenüber Deutschland um den Faktor 38 von 585.570.000 US-Dollar auf 22.637.560.000 US-Dollar. Der ebenso populäre wie einflussreiche deutsche Ökonom Hans-Werner Sinn kritisiert zu Recht, dass Italien seine Löhne schon seit 1995 wesentlich stärker als der EU-Durchschnitt (und stärker als seinen Zuwachs an Produktivität) anhob und damit gegenüber Deutschland massiv an Konkurrenzfähigkeit einbüßte. Was er nicht kritisiert, ist, dass der Abstand nur deshalb so unüberbrückbar groß geworden ist, weil Deutschland gleichzeitig „Lohnzurückhaltung“ übte, so dass seine Lohnstückkosten 2017 um dreißig Prozent unter den italienischen lagen. Das ließ die italienische Industrie sowohl im eigenen Land wie auch innerhalb und außerhalb der EU entsprechend Marktanteile verlieren und ist auch für Italien so desaströs wie für Frankreich. (Auch Österreichs Lohnstückkosten lagen dank „Lohnzurückhaltung“ um circa zwanzig Prozent unter den italienischen, was eine nicht ganz so rühmliche Erklärung für seinen mittlerweile beinahe „deutschen“ Vorsprung beim realen BIP pro Kopf ist.)

Entwicklung der Lohnstückkosten in Deutschland und Italien

Im Vergleich zur „Goldenen Lohnregel“, wie sie seit Einführung des Euro im Jahr 1999 gilt. Die Goldene Lohnregel drückt aus, dass die Lohnstückkosten in den einzelnen Euroländern um jährlich 1,9 Prozent steigen müssen – das ist die Zielinflation der Europäischen Zentralbank.


Quelle: iAGS 2017/taz

Deutschlands Lohnstückkosten lagen um bis zu dreißig Prozent (jene Österreichs um bis zu zwanzig Prozent) unter den italienischen – entsprechend stark litt Italiens Industrie.

Italien hat zwar nach wie vor einen Handelsbilanzüberschuss – aber nicht, weil seine Exporte so hoch, sondern weil seine Importe so gering geworden sind; die unterbeschäftigte italienische Bevölkerung hat für ihre Einkäufe immer weniger Geld in der Tasche.

Das wieder war einer der Gründe, warum der Haushaltsentwurf der Regierung so sehr die Kaufkraft der Bevölkerung steigern wollte, indem er vorsah, die Lohnsteuer zu senken, eine Mindestpension und eine Mindestsicherung einzuführen, die freilich daran gebunden sein sollte, angebotene Jobs anzunehmen.

Darin lag allerdings schon wieder ein Problem dieser Maßnahme: Im zurückgebliebenen Süden wird man Arbeitsuchenden keine Jobs anbieten können, die sie nicht annähmen, obwohl sie zumutbar wären, einfach aus dem Grund, weil es keine gibt – daher wäre es schwer argumentierbar, ihnen keine Mindestsicherung auszuzahlen, noch dazu, wenn man sie „Grundgehalt“ nennt – entsprechend schwer ist es aus gängiger Sicht, diese Mindestsicherung zu finanzieren.

Auch die sozial berechtigte Erhöhung der Mindestpension wird gleich wieder zu einem sehr ernsthaften Problem, wenn man gleichzeitig die von der Vorregierung verfügte Anpassung ans Lebensalter rückgängig macht. Denn wenn eine eher schrumpfende Zahl von arbeitenden Menschen das immer längere Leben alter Menschen finanzieren soll, entsteht ein reales Problem: Die Pensionskasse kann beides zusammen schwer leisten.

Eine sinnvolle Verbesserung hätte allenfalls Umverteilung durch die Einführung einer ernsthaften Vermögenssteuer mit sich gebracht, aber die hatte Salvini so wenig im Programm wie die Österreichische Volkspartei.

Trotzdem könnte die insgesamt geplante bessere finanzielle Absicherung der Bevölkerung durch Mindestpension und Mindestsicherung im Verein mit der „Flattax“ den Konsum und damit Italiens Wirtschaft beleben.

Aber kaum in ausreichendem Maß und kaum „nachhaltig“.

Nachhaltig belebt würde Italiens Wirtschaft nur durch massive Investitionen in die Infrastruktur – von Verkehrsverbindungen (z. B. sicheren Autobahnbrücken) über Digitalisierung bis zur Errichtung erdbebensicherer Bauwerke von der Toskana bis Sizilien. Von verbesserten Schulen im ganzen Süden bis zu endlich höheren Investitionen in Forschung und Entwicklung, um Norditaliens Industrie durch neue Entdeckungen neue Chancen zu eröffnen.

Nur solche Investitionen könnten dauerhaft Arbeitsplätze schaffen.

Um zu verhindern, dass die Bevölkerung revoltiert, bevor sie überhaupt in Angriff genommen werden, ist es aber dennoch nicht absurd, ihr eine „überfällige“ (Grasse) Mindestsicherung und Mindestpension zuzugestehen.

„Nachhaltige“ Investitionen des Staates im vorhin angeführten Sinn fehlten im Entwurf aber so gut wie vollständig. Ob aus Angst vor einer noch größeren Überschreitung des Defizits oder aus Unverstand, kann ich nicht eruieren. (Schon weil nicht klar ist, welche Infrastruktur-Investitionen der mittlerweile gelockerte Sparpakt nicht mehr dem Defizit zurechnet und damit zulässt.)

Für Hans-Werner Sinn ist es (erwartungsgemäß) klar, dass Italien auf keinen Fall zusätzliche Schulden machen darf. Für mich ist unklar, wie seine Wirtschaft dann wachsen soll. Aber ich gebe sofort zu, dass Italiens Sanierung sehr viel einfacher wäre, wenn das vor Geld strotzende Deutschland diese Schulden machte und Großaufträge vergäbe, die zum Beispiel u. a. von der italienischen Industrie wahrgenommen werden könnten.

Die Möglichkeit, die an Deutschland verlorenen Marktanteile wieder zurückzugewinnen, was das Problem an der Wurzel löste, sind in Italien nämlich noch theoretischer als in Frankreich: Es müsste sein Lohnniveau um 35 Prozent absenken, um deutsche Preise zu unterbieten. Die Kaufkraft, und mit ihr die Inlandskonjunktur, bräche in der Sekunde zusammen – der Aufstand folgte in der Sekunde.

Aber in Deutschland ist man sich leider keine Sekunde bewusst, was man im Nachbarland mit seinem Lohndumping und seinem Sparpakt angerichtet hat.

Deshalb kann ich für Italien nicht optimistisch sein. Ich kann im Moment nicht sehen, wie eine inkongruente italienische Regierung mit der Summe aus Marktanteilsverlusten aufgrund einer wahnwitzigen deutschen Lohnpolitik, Wachstumsschwächen aufgrund einer verfehlten EU-Sparpolitik und der zusätzlichen Belastung durch eine nicht funktionierende EU-Flüchtlingspolitik zurande kommen soll.

Hans-Werner Sinn sieht die einzige realistische Möglichkeit im Austritt aus dem Euro. Wenn er recht hat, ist der Euro Geschichte.

DAS GELEUGNETE FIASKO

Weil ich meine, dass sich das Wesen der EU-Wirtschaftspolitik am deutlichsten bereits ganz zu Beginn, bei der Griechenland-Krise, gezeigt hat, möchte ich auf sie zurückkommen, obwohl sie angeblich überwunden ist.

Denn genau das stimmt in keiner Weise – sie ist so akut wie eh und je. Die Ruhe, die sie begleitet, ist allenfalls eine Friedhofsruhe und böte Stoff für eine tragische Komödie: Wie man ein Fiasko unwidersprochen und ungeniert in einen Erfolg verkehrt.

So hat die EU-Kommission im Sommer 2018 stolz verkündet, dass Griechenland mit 1,2 Prozent das zu diesem Zeitpunkt höchste Wirtschaftswachstum der EU ausweise. Das trifft zu und ist dennoch, was Griechenlands wirtschaftlichen Zustand betrifft, das absolute Gegenteil der Wahrheit.

Griechenland ist am Boden zerstört.

In der Physik kennt man das sogenannte Experimentum Crucis: eine möglichst eindeutige, zugespitzte Versuchsanordnung, die es erlaubt, eine Theorie auf ihre Brauchbarkeit zu prüfen. Bewährt sie sich, dann ist sie mit einer gewissen Wahrscheinlichkeit richtig, bewährt sie sich nicht, dann ist sie mit Sicherheit falsch („falsifiziert“). Griechenland war das Experimentum Crucis der EU-Wirtschaftspolitik – dort vermochte man zu prüfen, ob diese Politik sich bewährt.

Worin bestand die Versuchsanordnung? Der griechische Staat war bekanntlich aus unterschiedlichsten Gründen – Misswirtschaft, Korruption, Betrug, ein Kaufrausch im Zuge der Euro-Euphorie – in eine Lage geraten, in der seine Zahlungsunfähigkeit befürchtet wurde. Aus dieser Lage sollte er sich auf der Basis der wirtschaftspolitischen Thesen der EU – die ihn zu diesem Zweck unter Kuratel stellte – befreien.

Im Sommer 2018 verkündete EU-Finanzkommissar Pierre Moscovici den erfolgreichen Abschluss des Experiments: „Die griechische Krise ist heute Abend vorbei.“ „Mit dem Ende der Hilfe für Griechenland beweist die Europäische Union, dass sie Krisen überwinden kann“, resümierte der Stern für das breite deutschsprachige Publikum. Das war zu diesem Zeitpunkt für deutsche Leser deshalb so wichtig, weil sie befürchteten, dass demnächst Italien geholfen werden muss, und weil Deutschlands Medien vom Stern bis zur Frankfurter Allgemeinen Zeitung klarstellen wollten, dass diese Hilfe selbstverständlich wieder nur nach bewährtem deutschem Rezept erfolgen kann: indem dem italienischen Staat befohlen wird, zu „sparen“ und „endlich seine Hausaufgaben zu machen“.

Das deutsche Rezept und sein Erfolg

In Wirklichkeit gibt es kein krasseres Beispiel für das völlige Versagen dieses deutschen Rezeptes als Griechenland. In nüchternen Zahlen: Um es zu „retten“ wurde seit 2010 von der EU und vom Internationalen Währungsfonds in mehreren Tranchen die gewaltige Summe von 298 Milliarden Euro vergünstigter Kredite aufgewendet; unter der befohlenen bzw. faktischen Aufsicht einer EU-„Troika“ machte Griechenland im Gegenzug die ihm abverlangten „Hausaufgaben“.

Wie ist es nunmehr um das solcherart „gerettete“ Land bestellt?


Quelle: The World Bank

Griechenlands reales BIP pro Kopf, das 2007 bei 32.073 US-Dollar gelegen war, ist bis 2010 im Rahmen der Krise auf 28.726 US-Dollar abgestürzt. Zu diesem Zeitpunkt begann die „Sanierung“. Im Jahr 2013, dem Jahr, in dem für die gesamte EU der Sparpakt voll wirksam geworden war und Griechenland bereits 3,5 Milliarden Euro Kredit erhalten hatte, erreichte sein BIP/Kopf mit 23.746 US-Dollar seinen Tiefpunkt. Um sich seither unter Erhalt der angeführten fast 300 Milliarden seitwärts zu bewegen und bis 2017 auf nur gerade 24.574 US-Dollar zu erholen. Das ist – nach 300 aufgewendeten Milliarden – ein Minus von 23,4 Prozent gegenüber der Zeit vor der Krise.

• Griechenlands Staatsschuldenquote (die Staatsschuld pro BIP), deren Höhe der Anlass zur „Rettung“ gewesen ist, stieg im Zuge des „Sparens“ von 146,25 Prozent im Jahr 2010 auf 181,91 Prozent im Jahr 2017. Die „Quote“ selbst ist zwar – entgegen ihrer ständigen Zitierung in den Medien – keine relevante Zahl (wie ich später eingehend begründen werde), aber ihr derart dramatischer Anstieg in so kurzer Zeit ist es insofern, als er den dramatischen Einbruch des BIP im Nenner des zughörigen Bruches signalisiert. (Griechenlands Staatsschuld selbst ist nämlich so gut wie unverändert hoch geblieben.)

• Griechenlands Arbeitslosenrate, die noch 2010 bei 12,73 Prozent lag, schnellte bis 2017 auf 21,45 Prozent hoch, obwohl seit 2009 mindestens 400.000 von 11,12 Millionen Griechen das Land auf der Suche nach Arbeit verlassen haben. Wären sie geblieben, so hätten sie die Arbeitslosenrate auf dreißig Prozent gesteigert. Die Jugendarbeitslosigkeit (Arbeitslosigkeit der 15- bis 24-Jährigen) liegt bei gespenstischen 43 Prozent. Was in Griechenland auf dem Arbeitsmarkt wirklich passiert ist, illustriert am besten die Zahl der Beschäftigten: Von 4,53 Millionen im Jahr 2006 ist sie bis heute auf 3,68 Millionen gesunken.

 

• Das Realeinkommen der Griechen ist zwischen 2010 und 2017 um mehr als ein Viertel, um 26,5 Prozent, zurückgegangen. Um es etwas hautnäher zu beschreiben: Stellen Sie sich vor, Sie hätten als Geringverdiener nur mehr drei Viertel des zuvor schon knappen Geldes in der Tasche.

In diesem niederschmetternden wirtschaftlichen Zustand befindet sich Griechenland auf der Basis seiner „gelungenen Rettung“ durch neun Jahre EU-Wirtschaftspolitik gemäß deutscher Rezeptur und unter deutscher Anleitung und Aufsicht.

Dass im Jahr 2017 tatsächlich ein Wirtschaftswachstum von 1,2 Prozent eingesetzt hat, ändert nichts an diesem niederschmetternden Befund, denn selbstverständlich ist irgendwann nach Jahren des Schrumpfens – das ist fast immer und fast überall so – selbst bei der schlechtesten Wirtschaftspolitik eine Talsohle erreicht, von der aus es wieder aufwärtsgeht. Die konkrete Talsohle – ich muss mich wiederholen – liegt, trotz 298-Milliarden-Kredits, um 23,4 Prozent unter dem Vorkrisenniveau.

Wo liegen demgegenüber die Verbesserungen dank erledigter „Hausaufgaben“?

Möglicherweise ist zwischen 2010 und 2017 so etwas wie ein griechisches Grundbuch entstanden (ich vermag es nicht zu überprüfen) und ist die Steuerbehörde besser organisiert – auch wenn sich die Steuereinnahmen drastisch verringert haben. Wahrscheinlich vergibt der griechische Staat auch Konzessionen für Lkw-Transporte oder Apotheken nicht mehr ausschließlich an eine bevorzugte Klientel – auch wenn sich die Versorgung mit Medikamenten lebensgefährlich verschlechtert hat.

Ich will nicht behaupten, dass sich in den beschriebenen neun Jahren unter den angeführten Leiden der griechischen Bevölkerung gar nichts verbessert hätte. Sparen übt stets eine gewisse „reinigende“ Wirkung aus – mäßig nützliche Staatsausgaben werden in Richtung zu nützlicheren umgeschichtet –, aber angesichts der hier wiedergegebenen Zahlen von „gelungener Überwindung einer Krise“ zu sprechen ist ein unverschämter Witz.

In der EU rechtfertigt man diese Unverschämtheit mit dem Hinweis, dass Griechenland sich jetzt am Finanzmarkt refinanzieren könne – wovon sich der einzelne Grieche freilich noch lange nichts kaufen kann. Vor allem hätte Griechenland sich immer am Finanzmarkt refinanzieren können, wenn 2010 nicht über seine Pleite spekuliert worden wäre, sondern die EZB schon damals sofort klargestellt hätte, dass sie einem deutlichen Anstieg der Zinsen, zu denen Griechenland sich Geld leiht, „mit allen Mitteln“ entgegentreten wird. Dass die EZB diese Ansage unterlassen hat – und auf der Basis ihrer gesetzlichen Konstruktion nach Ansicht des deutschen Bundesverfassungsgerichts auch gar nicht machen hätte dürfen –, ist eine eigene, wesentliche EU-Problematik, auf die ich später genauer eingehen werde. Hier nur so viel: Eine sinnvoll konstruierte Europäische Zentralbank muss, wie die amerikanische, zwingend und zu jedem Zeitpunkt ohne Einschränkung hinter allen, gerade auch den schwächelnden, EU-Ländern und ihren Banken stehen.

Die Begleitmusik einer „Rettung“

Vorerst möchte ich nur noch ein paar charakteristische Begleiterscheinungen der „Griechenland-Rettung“ festhalten: Angela Merkel verhängte die Sparauflagen und bewilligte die Rettungsmilliarden unmittelbar nachdem ein umfangreicher Waffeneinkauf Griechenlands (zu allen Zeiten die Hauptursache seiner Defizite) in Deutschland unter Dach und Fach gebracht worden war.

Die 298 Rettungsmilliarden kamen voran deutschen und französischen Banken zugute. Die nämlich hatten griechischen Banken bedenkenlos Geld geliehen, das diese ebenso bedenkenlos dem griechischen Staat zum Zweck seiner Waffenkäufe – voran in Deutschland – und den griechischen Bürgern zum Zweck von Warenkäufen – voran deutschen Autos – weiterliehen. Für diese Ausleihungen haben die deutschen Banken angesichts der umstrittenen Bonität Griechenlands satte Zinsen kassiert und entsprechend fette Gewinne gemacht. Der mögliche zugehörige Verlust, den die Zahlungsunfähigkeit Griechenlands mit sich gebracht hätte, blieb ihnen dank der Rettungsmilliarden erspart.

Eine britische Studie, deren Seriosität ich nicht beurteilen kann, will 2015 ermittelt haben, dass von den überwiesenen Milliarden nicht einmal ein Zehntel tatsächlich bei den Menschen in Griechenland angekommen ist. Der wirtschaftliche Zustand des Landes lässt das nicht ausgeschlossen erscheinen.

Nicht zuletzt hat die mit der Griechenland-Rettung einhergehende Ermäßigung des allgemeinen Zinsniveaus dem deutschen Staat bei der Rückzahlung seiner eigenen Kredite zwischen 2008 und 2018 gemäß Schätzung der Frankfurter Allgemeinen Zeitung 370 Milliarden Euro erspart, wenn man es mit den Rückzahlungsbedingungen vor Griechenland vergleicht. Dem steht ein theoretischer Anteil eines allfälligen Verlusts der 298 griechischen Rettungsmilliarden gegenüber – wovon jedoch nicht die Rede sein kann, weil Griechenland diese Summe (zusätzlich zu den schon zuvor vorhandenen Schulden rund 350 Milliarden Euro) weiterhin schuldet.

So unfair es ist, dass griechische Karikaturen Angela Merkel mit Hitlerbärtchen zeigen – ganz unverständlich ist es nicht. Man hat dieses Land so weit wie möglich ruiniert und davon de facto profitiert.

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