Читать книгу: «Die Venusische Trilogie / Engel weinen nicht», страница 4
Kapitel 3
Leben mit einem Diktator
Es war ein warmer Sommertag im Juni 1962, als ich den Bus nach Florida bestieg. Mein Leben hier auf der Erde hatte in einem Bus begonnen, und nun sollte eines dieser grauen Fahrzeuge mich zu meiner Mutter bringen. Ich war aufgeregt und freute mich sehr darauf, sie endlich wiederzusehen. Was würden wir gemeinsam erleben?
Unterwegs dachte ich auch daran, wie es mir bisher ergangen war. Die Zeit in Chattanooga bei meiner Großmutter war aufregend und verwirrend gewesen. Ich hatte unendlich viele Dinge über das Leben auf dem Planeten Erde gelernt. Nun freute ich mich auf neue Erfahrungen in einem anderen Teil des Landes. Die Wälder und Berge von Tennessee hatte ich geliebt, dennoch war ich erleichtert, die Bewußtseinsebene dieser Gegend hinter mir zu lassen. Die eingeschränkte Sichtweise der Menschen, die durch ihren christlichen Glauben und ihre Vorurteile entstanden war, hatte mich immer wieder sehr verwirrt. An ein Erlebnis erinnerte ich mich ganz besonders:
In einem der seltenen strengen Winter mit Schnee und Eis waren meine Großmutter und ich zusammen mit einigen Freunden und Nachbarn auf dem Weg zur Kirche. Dreimal in der Woche gingen wir zu verschiedenen Gottesdiensten. Montags war Gebetsstunde, und ich war eines der wenigen Kinder, die an diesem Abend teilnahmen.
Gegenüber der Kirche lebte eine schwarze Familie. Beim Näherkommen sahen wir Rauch und Flammen und hörten in der Ferne die Sirenen der Feuerwehr. Ich begann zu laufen, als ich sah, daß das Haus der schwarzen Familie brannte. Ich sah eine Frau, die aus dem Haus gerannt kam und ein Bündel in den Armen hielt. Sie rief laut um Hilfe, legte das Bündel auf den schneebedeckten Boden – es war ein Baby, nur mit einer Windel bekleidet! – und eilte zurück ins Haus, um weitere Kinder zu retten oder wichtige Dinge zu holen.
Niemand half. Alle sahen nur zu, wie die Frau in Panik hin und her lief und das Baby schrie. Ich rannte in den Hof, fiel auf die Knie und hob das Baby auf. Es war höchsten drei Monate alt. Ich öffnete meinen Mantel und drückte das Kind eng an meinen Körper, um es zu wärmen. Großmutter stand plötzlich neben mir. Dann hörten wir die Stimmen: „Was machst du denn da? Das ist ein Niggerbaby! Bist du etwa ein Niggerfreund?!“
Ich begann zu weinen. „Oma, warum sind die Leute so böse auf mich?“ wollte ich wissen. „Wir können doch dieses Baby nicht erfrieren lassen, bloß weil wir Angst haben. Diese Menschen sind doch Christen!“
Schließlich kam die Mutter und nahm mir das Baby ab. Ich wurde einfach weiter geschoben zur Kirche und zum Gottesdienst.
Ich erinnere mich an viele solcher Vorfälle. Es lag nicht an meiner Großmutter, sie hatte mir beigebracht, die Menschen mit Liebe und Respekt zu behandeln. Sie hatte keine Rassenvorurteile. Sie besaß viel Liebe und Mitgefühl, sie war freundlich und großzügig zu jedem Menschen.
Sie stammte aus einer bekannten Familie. Es gab sogar eine Straße mit ihrem Namen. Sie hatte einen Bergmann irischer Abstammung geheiratet, der später an der Schwarzen Lunge starb, einer Krankheit, die viele Arbeiter in einem Kohlebergwerk bekommen. Nachdem die Familie ihr ganzes Geld während der Depression nach dem Krieg verloren hatte, stand sie mit elf Kindern mittellos da und mußte sich eine Arbeit suchen. Sie wurde Haushälterin in der Familie eines schwarzen Arztes. Damals war dies äußerst ungewöhnlich, aber sie setzte sich über alle Kritik hinweg und war diesen Menschen für ihre Hilfe immer sehr dankbar.
Ich würde meine Großmutter vermissen. Sie war der Mensch, der mich hier auf der Erde liebte, umsorgte und beschützte. Ich war traurig, daß ich sie verlassen mußte, andererseits freute ich mich darauf, mehr von der Erde zu sehen. Ich war davon überzeugt, daß die Menschen in anderen Teilen der Welt anders über sich und ihr Leben dachten und fühlten.
Ich schaute aus dem Busfenster und sah eine flache, sonnige Landschaft, überall wuchsen Palmen – ich war in Florida.
Bei unserer Ankunft in Fort Myers hielt ich vergeblich Ausschau nach Donna. Ich konnte sie nirgendwo entdecken. Ein großer Mann mit Hut kam auf mich zu und rief: „Sheila?“ Ich sah in C.L.s lächelndes Gesicht. Er war über ein Meter achtzig groß, hatte braune Augen, dunkle Haare und einen Schnurrbart. Ich war enttäuscht, denn ich hatte mich so auf Mom gefreut! Er nahm meinen Koffer und ich folgte ihm zu seinem Wagen.
Jedesmal, wenn ich mit C.L. zusammen war, beschlich mich ein sehr unangenehmes Gefühl, eine Art Warnung. Auf der Venus hatte ich gelernt, den Warnungen, die uns unsere Gefühle mitteilen, unbedingt Beachtung zu schenken. Wie sollte ich mich je an diesen Mann gewöhnen? Er machte mir Angst.
Schüchtern fragte ich ihn: „Wo ist Mom?“ – „Oh, sie ist auf der Insel. Wir nehmen die Fähre hinüber“, antwortete er. „Eine Fähre!“ rief ich und vergaß für einen Augenblick meine Furcht. Ich war noch nie mit einem Schiff gefahren.
Die Überfahrt war wirklich aufregend für mich. Am Horizont entdeckte ich einen schmalen grünen Streifen: Sanibel Island. Was für ein Anblick, als wir das Schiff verließen und durch den Urwald fuhren! Die Insel war eine einzige tropische Wildnis mit Palmen und unzähligen exotischen Blumen und Pflanzen. Überall gab es Flamingos und wilde Kaninchen. Es war ein Paradies!
Wir bogen von der Hauptstraße ab auf einen Weg, der zu mehreren Sommerhäusern führte. Sie standen auf Holzpfählen inmitten von Orangenbüschen. Ganz in der Nähe hörte ich die Brandung des Meeres.
„Das sind die Sandcastle-Ferienhäuser“, verkündete C.L. Der Wagen hielt auf einer Lichtung vor dem Büro der Anlage.
Sekunden später flog die Tür auf, und eine gutaussehende Frau in Shorts stürzte auf uns zu. Donna! Ihr langes blondes Haar wehte. Es reichte ihr fast bis zu den Hüften. Sie war braungebrannt und sprühte vor Lebensfreude. Sie umarmte mich stürmisch und drückte mich fest an sich. Es war wunderbar, sie endlich wiederzusehen.
Sie arbeite bis vier Uhr nachmittags, erzählte sie mir fröhlich, dann gehe sie im Pool der Anlage schwimmen oder zum Strand, um Muscheln zu sammeln. Sanibel Island sei berühmt für die vielen seltenen Muscheln, die man dort finden konnte.
Mit dem Auto fuhren wir zum Strand. Er war phantastisch! Graziöse Vögel trippelten hin und her und hüpften zurück, wenn eine Welle auf den Sand rollte. Sie hießen Strandläufer, und dieser Name paßte zu ihnen. Das Geräusch der Brandung, die salzige Luft, die unzähligen Muscheln, die wie Schmetterlinge aussahen, all das erinnerte mich an die Küsten von Thytania auf der Venus, an die Zeiten, als ich dort im Sand saß und auf das Meer hinausschaute. Was für ein wundervolles Leben hatte ich dort zurückgelassen! Es stand im krassen Gegensatz zu allem, was ich seit meiner Landung in der Wüste von Nevada erlebt hatte.
Ich genoß die Wärme der Nachmittagssonne, planschte mit den Füßen durch das flache Wasser und lief den Wellen entgegen. Eine wunderschöne bunte Blume schwebte auf mich zu, und ich wollte sie gerade aus dem Wasser heben, als die entsetzten Schreie meiner Mutter an mein Ohr drangen. Sie riß meine Hand zurück: „Vorsicht, das ist keine Blume. Das ist eine giftige Qualle!“
Sie zeigte zur anderen Seite der Bucht. Auf einer Sandbank lebten Hunderte von Flamingos – was für ein wundervoller Anblick. Wie eine rosa Wolke schwebten sie durch die Luft. Es war sehr ungewöhnlich, erklärte mir meine Mutter, daß sie hier brüteten. Normalerweise bevorzugen sie einsame Gegenden zur Aufzucht ihrer Jungen.
Die Sonne ging langsam unter und Mom wollte zurück zum Haus. „Wir müssen uns beeilen, denn gleich kommen die Mücken, und die sind wirklich fürchterlich hier“, sagte sie. Unser Sommerhaus lag mitten im Wald. „Steig’ aus und lauf’ so schnell du kannst“, riet sie mir, „sonst fressen sie dich bei lebendigem Leib!“ Ich glaubte, sie würde übertreiben, aber Sekunden später war mein Arm regelrecht schwarz vor Mücken. Ganze Wolken von ihnen waren in der Luft und stürzten sich auf jedes unbedeckte Stückchen Haut. Ich wischte eine Handvoll nach der anderen von meinem Körper.
Zum Abendessen gab es Krabben in Bier. Ich hatte noch nie Krabben gegessen und wußte nicht, daß man sie in Bier kochen kann. Ich war zunächst sehr skeptisch, aber sie schmeckten phantastisch! In Bier gekochte Krabben gehören seitdem zu meinen Lieblingsspeisen. Ich finde, sie schmecken überirdisch gut!
Es war eine ganz neue und aufregende Erfahrung für mich. Nachts lag ich in meinem Bett und lauschte den Geräuschen, die alle möglichen Lebewesen im Urwald hervorbrachten und schlief darüber ein.
Am nächsten Tag zeigte Mom mir eine große Kiste: „Das sind meine Kunstwerke. Ich habe Muscheln gesammelt und mache Bilder aus ihnen. Und seltene Exemplare, die mit dem Golfstrom aus fernen Ländern kommen und hier angeschwemmt werden, hebe ich auf.“ Sie zeigte mir ein fertiges Bild. Hinter einem Rahmen hatte sie ein Stück Sperrholz befestigt und beides schwarz gestrichen. Es war eine Strandszene: Am unteren Rand waren Sand und getrocknetes Seegras aufgeklebt, dazwischen vielfarbige Muscheln, und die kleinen Coquinas schwebten darüber wie Schmetterlinge. Es war wunderschön, und sie erzählte mir, daß viele Touristen ihre Bilder kauften.
Sie zeigte mir ein Buch über Muscheln und ich prägte mir die verschiedenen Namen ein. Es war herrlich, mit ihr zusammenzusein, bis plötzlich C.L. hereinpolterte, offensichtlich wütend und betrunken. Schnell packten wir alles zusammen.
Bei Vollmond gingen wir Muscheln sammeln. Normalerweise stand das Gebiet unter Wasser, nur in dieser Nacht zog sich das Meer besonders weit zurück Es war ein unglaubliches Erlebnis. Es war eigenartig ruhig, nur unsere fröhlichen Stimmen waren zu hören. Mom und ich gingen durch den feuchten Sand, auf dem es von lebenden Muscheln wimmelte. Sie bewegten sich unter unseren Füßen. Wir füllten sie in unsere Eimer und schleppten sie zurück.
C.L. wartete derweil im Büro auf uns. Muscheln waren ihm gleichgültig. Er war betrunken und ungeduldig. „Wurde aber auch Zeit“, knurrte er, „machen wir, daß wir hier rauskommen.“ Mom stimmte hastig zu und meinte, wir könnten die Muscheln auch am nächsten Tag säubern. C.L. war jähzornig und hatte Mom schon häufiger geschlagen.
Am nächsten Morgen legten wir die Muscheln auf ein Gitter, nahmen einen Gartenschlauch und spülten den Sand ab. Die sauberen Muscheln taten wir in einen anderen Eimer. Mom erklärte mir, daß wir sie kochen müßten, um ihren Glanz zu konservieren. Außerdem müßten wir die toten Lebewesen entfernen, die wie Schnecken oder Krabben aussahen. Es waren einige wunderschöne seltene Exemplare dabei. Wir hatten sogar einige Sanddollars, die bei den Touristen besonders beliebt waren. Diese großen Muscheln sehen normalerweise merkwürdig braun aus und werden erst schön weiß und glänzend, wenn man sie lebendig in Chlor bleicht. Ich fand es entsetzlich, lebende Wesen so zu behandeln. Wie konnten die Menschen nur so etwas tun?
Von anderen Jugendlichen, meist Kindern der Verwalter der anderen Ferienanlagen auf der Insel, wurde ich häufig zu Parties eingeladen. Ich durfte aber nie hingehen, weil C.L. sehr streng war. Ich hatte Angst vor ihm und vermied es, mit ihm allein zu sein. Er hatte schon häufiger versucht, mir Alkohol aufzuzwingen.
Ich liebte Sanibel Island, weil es hier so friedlich war. Es gab so viel zu sehen und zu lernen. Einmal wollte ich weit hinausschwimmen, als plötzlich zwei Flossen aus dem Wasser auftauchten und auf mich zukamen. Ich schrie entsetzt auf und schwamm, so schnell ich konnte, an den Strand zurück. Dort stand Mom und lachte. „Hilfe, da ist ein Hai!“ – „Nein, beruhige dich, das sind Delphine. Als ich sie zum erstenmal sah, dachte ich das auch!“ Ich drehte mich um und sah den beiden Tieren zu, wie sie über die Wellen sprangen.
Ich war gern im Wasser. In kürzester Zeit hatte ich gelernt, von einem Ende des Pools zum anderen zu schwimmen. Unterwasserballett war da schon schwieriger, aber auch lustiger. Ich schwamm nicht gern im Meer, denn das Salzwasser roch zwar gut, brannte aber in den Augen und schmeckte fürchterlich. Oft saß ich einfach nur am Strand, schaute aufs Meer und dachte über mein neues Leben nach. Hier auf Sanibel Island fand ich langsam Geschmack an meinem Aufenthalt auf der Erde.
In kurzer Zeit wurden Mom und ich Freundinnen. Bisher hatte ich sie immer nur für zwei oder drei Tage gesehen, wenn sie zu Besuch in Tennessee war. Jetzt waren wir jeden Tag zusammen. Liebend gern hätte ich den Rest meines Erdenlebens auf Sanibel Island verbracht. Begeistert schrieb ich Großmutter und der Familie, wie schön es hier war.
Obwohl ich nicht zu den Parties durfte, hatte ich viele Freunde. Ich spielte mit den Kindern, die bei uns Urlaub machten.
C.L. wurde immer unausstehlicher. Mom und er tranken viel und hatten häufig Streit. Dann erklärten sie mir plötzlich, daß ich nicht nach Hause zurückkehren würde. Sie hatten einen heftigen Streit darüber, ob ich im Herbst wieder zur Schule gehen würde. C.L. meinte: „Ich bezahle jedenfalls nicht dafür, daß irgendeine Rotznase zur Schule geht“, und damit war die Sache entschieden.
Aufgeregt schrieb ich Großmutter diese Neuigkeit. Aber ihre Antwort fiel anders aus als erwartet: „Ich zwinge dich nicht zurückzukommen, Sheila, auch wenn ich das Sorgerecht für dich habe, bis du 18 wirst. Ich weiß, wie sehr du deine Mutter liebst.“ Das war alles, was sie dazu sagte.
Wir blieben bis Mitte August auf Sanibel. Kurz vor meinem 15. Geburtstag erfuhr ich, daß wir abreisen würden. C.L. hatte sich ganz plötzlich dazu entschlossen, weil von den Reservierungen für die Herbstsaison eine Menge Geld hereingekommen war. Der hohe Betrag war für C.L. ein so großer Anreiz, daß er das Geld nicht wie üblich zur Bank brachte, sondern für sich behielt. Außerdem ließ er alles mitgehen, was irgendwie wertvoll war. Ich beobachtete fassungslos, wie er Limonadeflaschen und Kleingeld aus den Automaten ins Auto lud, die Schreibmaschine und das Funkgerät und andere Dinge aus dem Büro holte und alles vorhandene Bargeld einsteckte. Ich war schockiert, jetzt sah ich zum erstenmal mit eigenen Augen, was C.L. wirklich für ein Gauner war. Ohne Vorwarnung hieß es einpacken und abfahren.
Ich lief zum Strand hinunter. Der Sonnenuntergang war einfach herrlich. So möchte ich diese wunderschöne Insel immer in Erinnerung behalten, dachte ich. Es gab Gerüchte über den Bau einer Brücke von Fort Myers nach Sanibel, und ich wußte, daß dann der Tourismus mit großen Hotels, ausgebauten Straßen und vielen anderen Veränderungen diesem Naturparadies schnell ein Ende bereiten würde.
Mom rief nach mir. Mit einem letzten Blick über den Strand verabschiedete ich mich traurig von diesem Paradies, das ich in den letzten drei Monaten so liebgewonnen hatte. Langsam ging ich zurück zum Auto. Es war so vollgepackt mit allen möglichen Dingen, daß ich vorne bei Mom und C.L. sitzen mußte. Unsere Kiste mit den Muscheln war zum Glück auch dabei. In der Nacht fuhren wir noch einmal zu unserem Sommerhaus, um unsere Kleidung zu holen. Im Morgengrauen nahmen wir dann die erste Fähre zum Festland. C.L. wollte so schnell wie möglich über die Grenze nach Mexiko. Wo werden wir wohl an meinem Geburtstag sein? grübelte ich während der langen Fahrt. Ich hatte nicht einmal Großmutter von unserer Abreise informieren können. Ich mußte feststellen, daß mein Leben bei ihr zwar langweilig, aber sicher und überschaubar gewesen war. Ich durfte den Kontakt zu ihr auf keinen Fall abreißen lassen.
Wieder begann ein neuer Lebensabschnitt für mich. Als erstes zeigte Mom mir, wie man Drinks mixt. Sie saß in der Mitte neben C.L., der wie immer sehr schnell fuhr. Neben mir auf dem Wagenboden lagen Flaschen mit Wodka und Limonade. Ich mochte die Mischung aus Zitronensaft und Grapefruit, aber den Wodka verabscheute ich.
Da war ich nun auf dem Weg nach Mexiko und mixte Getränke. Dieses Leben war ganz bestimmt nicht langweilig.
Ich schloß die Augen und dachte noch einmal an den Ort, den wir gerade verlassen hatten. Die Insel erschien mir als der einzige paradiesische Platz auf der Erde, aber selbst Sanibel war mit der Venus nicht zu vergleichen. Das Leben dort war wie ein wunderschöner Traum!
Sanibel Island, ich werde dich nie vergessen: deinen weichen, warmen, weißen Sand, deine Palmen, durch deren Blätter der laue Wind streicht; das Rauschen des Ozeans, friedlich und kraftvoll zugleich; das Grün des Dschungels und die Strandläufer in den Wellen; die Rufe der Möwen, die Laute der Delphine; die Sonnenstrahlen, die die Haut wärmen und goldbraun werden lassen; die Sonnenaufgänge, die den Ozean in rosa- und goldfarbenes Licht tauchen; den Mond, der einen Weg aus Silber auf das Wasser zu zeichnen scheint. Ich hatte mir immer vorgestellt, in meinem Astralkörper auf dem Lichtstrahl des Mondes zu tanzen.
Sogar die Gewitter auf der Insel waren herrlich. Das Meer nahm dann eine dunkelblau-graue Farbe an. Ich konnte sehen, wie die Wand aus Regen immer näher rückte, um kurz darauf in großen blaugrauen Wirbeln aus den schwarzen Wolken auf die Erde zu rauschen. Donnergrollen in der Ferne, dann plötzlich ohrenbetäubend nah, die Blitze, die in bizarren Mustern über den Himmel zuckten. Regentropfen, die fast wie vom Himmel fallende Tropfen aus Silber und Brillanten aussahen und viele kleine ineinanderlaufende Kreise auf die vom Wind aufgewühlten Wellen zeichneten. Sie fielen zurück ins Meer, aus dem sie ursprünglich einmal hervorgegangen waren.
Ich liebte die Ruhe, wenn der Sturm vorüberzog und die Sonne wieder vom blauen Himmel strahlte. Wassertropfen fielen von den Blättern herab und blitzten wie kleine Edelsteine. Wie schnell der Sand den Regen aufsaugte. Die frische klare Luft war durch den Regen von Staub und Dunst befreit – mein Paradies voller Schönheit und immer neuen Überraschungen ...
Quietschende Bremsen rissen mich aus meinen Träumen: Wir waren in Mexiko. Schon nach ein paar Tagen ging es zurück nach Florida. Wir mieteten einen Bungalow gleich hinter dem Haus von C.L.s Mutter. Kein Mensch aus seiner Familie hatte etwas für C.L. übrig. Sogar Leslie, seine Tochter, konnte ihn nicht ausstehen. Sie erzählte Mom, daß sie ihm nicht über den Weg traue und ihn von ihren vier kleinen Mädchen fernhalte, und die ganze Familie wußte, daß Leslies Mutter von C.L. so verprügelt worden war, daß sie ein Baby verloren hatte.
Immer häufiger bekam ich die brutale Seite von C.L. zu spüren. Ich hatte keine Ahnung, warum er so jähzornig war. Ich erinnerte mich aber, daß C.L.’s Mutter einmal sagte, sie glaube, er sei von Dämonen besessen.
C.L. war sehr dominant, ein regelrechter Diktator. Ich hatte Angst vor ihm und wurde schrecklich nervös, sobald er auftauchte. Alles mußte genau so gemacht werden, wie er es vorschrieb, sonst wurde er gewalttätig. Wenn Mom und ich nicht zum gleichen Zeitpunkt dasselbe essen wollten wie er, schlug er uns beide. Er wurde wütend, wenn das Essen nicht genau so zubereitet war, wie er es wünschte. Es spielte überhaupt keine Rolle, was Mom und ich gern mochten. Als ich einmal um Ketchup für mein Würstchen bat, schrie C.L. mich an: „Ich esse mein Würstchen ohne Ketchup, alle Leute essen Würstchen ohne Ketchup, nur Idioten essen Würstchen mit Ketchup!“ Bei einer anderen Gelegenheit stand Mom vom Tisch auf, um zur Toilette zu gehen. Sofort schlug C.L. sie auf den Kopf, weil sie ihn nicht um Erlaubnis gefragt hatte.
Schon damals saßen Mom und ich oft auf unserer Veranda und hofften, C.L. käme nie mehr nach Hause zurück. Einige Zeit später, als wir an der Westküste wohnten und C.L. als Bauunternehmer arbeitete, wünschten wir uns, daß er von einem Gerüst fallen und sich den Hals brechen möge, so schrecklich war es, mit ihm zusammenzuleben.
C.L. haßte Musik, außer natürlich, wenn er selbst sang. Und Radios haßte er natürlich auch. Mom und ich hörten abends gern Country-Musik. Da C.L. oft sehr früh zu Bett ging, warteten wir immer, bis er eingeschlafen war, bevor wir den Sender leise einstellten, aber oft hörte er es dennoch und brüllte: „Stell’ sofort das verdammte Radio ab!“ Wir lebten wie in einem Gefangenenlager oder schlimmer.
Onkel Odin hatte mir einmal gesagt, daß Menschen, die Musik nicht ausstehen können, sicherlich von negativen Kräften beeinflußt werden. C.L. interessierte sich auch nicht für Kultur. Seine einzigen Hobbys waren Geld und Alkohol.
Wenn er etwas reichlich mitbekommen hatte, dann war es logisches Denken. Da er mir oft genug seine Ansichten mit der Hand eingebleut hatte, lernte ich von ihm schnell, in entsprechenden Situationen logisch und praktisch zu denken und zu handeln.
Schuldgefühle über den Tod seines Kindes quälten C.L. immer wieder. Er sprach endlos darüber, wie er seine schwangere Frau verprügelt hatte. Das Baby war später ohne Nieren auf die Welt gekommen. Aber er hatte offenbar neben seinen Alkoholproblemen auch ein psychisches Trauma. Manchmal konnte er richtig nett sein, aber seine Laune änderte sich in Sekundenschnelle. Ich wußte nie, ob er im nächsten Moment freundlich oder bösartig sein würde.
C.L.s schlechter Gesundheitszustand kam vom Alkohol, besonders die offenen Leberflecken auf seinen Händen. Und er hatte immer eine Zeitung in Reichweite, auf die er spucken konnte. Obwohl ich ihn haßte, empfand ich auch Mitgefühl für diesen Mann. Innerlich litt er unter den Missetaten, die er in seinem Leben vollbracht hatte. Ich wußte, daß er sich für viele Dinge die Schuld gab und daß sein Gewissen ihn sehr lange nicht zur Ruhe kommen lassen würde.
Eines Tages verkündete C.L., er werde wieder einen normalen Beruf ausüben und in dem landwirtschaftlichen Betrieb seines Schwagers arbeiten. Ich wußte nicht, was er im Schilde führte, als er eines Tages ein großes Faß mit matschigem und angeschimmeltem Obst mit nach Hause brachte. Als am folgenden Tag die nächste Ladung mit Bananen, Apfelsinen und Weintrauben eintraf, wurde es mir klar: C.L. wollte ins illegale Schnapsgeschäft einsteigen und Mom und ich waren seine ersten beiden (selbstverständlich unbezahlten) Arbeitskräfte.
Von da an verbrachten wir unsere Tage damit, das Obst in einer großen Wanne, die mitten im Wohnzimmer stand, zu zerkleinern und mit nackten Füßen zu zerstampfen. Ich kann nicht behaupten, daß es Mom und mir keinen Spaß gemacht hätte: Wir sprangen herum und lachten, wenn die Trauben zwischen unseren Zehen zerplatzten.
Täglich karrte C.L. neues Obst heran – und große Pakete mit Zucker. Wir bekamen die ersten Probleme mit den Nachbarn, die den Geruch bemerkten. Das Faß stand auf der Veranda, nur mit einem Tuch bedeckt. Sie fragten, ob wir das Obst einkochen wollten, was C.L. natürlich sofort bejahte. Als seine Mutter einmal zu Besuch kam und naserümpfend auf die Veranda marschierte, fiel mir auf, daß C.L. unsicher und besorgt war. Aber sogar sie war naiv genug, die Geschichte mit den eingemachten Früchten zu glauben.
Unser Wein war einfach köstlich. Einen ganzen Tag lang verbrachten Mom und ich auf der Veranda damit, die Mischung in große Krüge abzufüllen. Vorsichtig legten wir ein Tuch über die Öffnung und gossen die gegorene Masse hindurch. Dann wrangen wir das Tuch mit den Früchten darin gründlich aus.
Als C.L. nach Hause kam, war er mit unserer Arbeit zufrieden. Am nächsten Tag verkaufte er den Wein in der Firma an seine Kollegen. Das ging eine ganze Weile so weiter.
Als nächstes kam C.L. auf die Idee, aus den Bars überall in der Stadt Kästen mit leeren Flaschen zu besorgen. Bald betrieb er einen schwunghaften Handel. Mom und ich füllten den ganzen Tag unseren Wein in alle möglichen Flaschen und C.L. fuhr herum und kassierte das Geld. Unser illegaler Weinhandel florierte.
Tag für Tag waren wir nur mit dem Abfüllen beschäftigt. Durch die aufsteigenden Dämpfe waren wir ständig benebelt. Einmal war es so schlimm, daß wir nicht einmal mehr richtig sprechen konnten. Ausgerechnet an diesem Tag schaute zufällig unsere Vermieterin vorbei. Als C.L. schließlich nach Hause kam, lagen Mom und die Dame im Wohnzimmer auf dem Boden ausgestreckt. C.L. lachte, aber als die Dame schließlich nach Hause ging, ließ er seine Wut an Mom aus. Sie ging wieder einmal mit einer Tracht Prügel zu Bett. Die Geschichte endete ebenso plötzlich, wie sie begonnen hatte. Irgendwie hatte die Polizei in Tampa Wind von der Sache bekommen. Eines frühen Morgens fuhr plötzlich ein Streifenwagen an unserem Haus vorbei und bremste genau neben dem Briefkasten, wo die Weinkiste stand. Wir waren vor Schreck wie erstarrt. Kaum waren sie außer Sicht, rannte C.L. hinaus, schnappte die Kiste und brachte sie auf den Hinterhof. Wenige Minuten später begannen wir, ein großes Loch zu graben. Wir schütteten die Reste aus den Fässern hinein und allen Wein, den Mom und ich so sorgfältig abgefüllt hatten. Dann wollten wir das Loch wieder mit Erde bedecken, doch es war so voll Wein, daß die Erde obenauf schwamm. Willi, der Wurm (so nannten wir den Hund unserer Nachbarn wegen seines dicken, wurstförmigen Körpers) wäre fast in dem Loch ertrunken. Der arme Kerl schwankte mehrere Tage völlig betrunken über unseren Hof. Und erst der Geruch! Tagelang hingen die Dämpfe wie eine Wolke über unserem Hinterhof.
Kurz darauf ergaben sich neue Schwierigkeiten in meinem Leben mit Mom und C.L. Es begann damit, daß C.L.s Vater zu Besuch kam und eine Zeitlang bei uns wohnte. Wir nannten ihn Pap. Er hatte die Angewohnheit, sich nackt aufs Bett zu legen, wenn er betrunken war. Mom schloß dann zwar die Tür zu seinem Zimmer, aber sein Verhalten und seine niederträchtige Art waren mir sehr zuwider. Immer wieder versuchte er, mich auf eindeutige Art zu berühren, und ich beschwerte mich bei Mom darüber. „Ach, weißt du, er ist alt“, sagte sie nur, „ignoriere ihn einfach.“ Was ich auch tat – ich versuchte, ihm aus dem Weg zu gehen.
Er rächte sich auf seine Weise dafür, daß ich ihn nicht beachtete. Er erzählte meiner Mutter immer neue Lügen darüber, was C.L. und ich täten, wenn sie nicht dabei wäre. Ich hatte keine Ahnung, was er damit anrichtete, denn Mom sprach nie mit mir darüber. Aber immer, wenn sie sehr betrunken war, bekam sie sich mit C.L. deswegen in die Haare, und Pap saß daneben und lachte sich ins Fäustchen. Auch wenn sie uns nicht deutlich beschuldigte, ein sexuelles Verhältnis zu haben, so zielten die Bemerkungen, die sie im Rausch immer wieder lallte, doch in diese Richtung. C.L. nutzte die Gelegenheit schamlos aus. Sobald Mom aus dem Haus war, sagte er zu mir immer wieder: „Wenn wir sowieso schon beschuldigt werden, können wir es ja auch ruhig tun.“ – „Niemals!“ war stets meine Antwort, bei der ich nur mühsam die Tränen zurückhalten konnte. Meist versuchte ich, ihn einfach zu ignorieren.
Es war ein Teufelskreis: Pap mit seinen Annäherungsversuchen und seinen Lügen, Mom mit ihren Vorwürfen an C.L. und mich, und schließlich C.L., der alles versuchte, um mich ins Bett zu kriegen.
Mein Magen verkrampfte sich sofort, sobald sie mit dem Trinken begannen. Bald würden sie wieder anfangen zu streiten, das wußte ich genau. Wenn ich darüber in Tränen ausbrach, nannten sie mich „albernes kleines Mädchen“ und lachten. Ich verstand nicht, warum diese Menschen so gemein waren. Es war schlimm genug, mit jemandem wie C.L. unter einem Dach leben zu müssen, aber Mom’s Grausamkeit brach mir das Herz. Und ich kannte keinen Menschen, den ich hätte um Hilfe bitten können.
Irgendwie brachte ich sogar Verständnis für sie auf: Sie war völlig verwirrt von Pap’s Lügen und wußte um C.L.s Schwäche für junge Mädchen, deshalb sagte sie im Rausch Dinge, die sie normalerweise nie ausgesprochen hätte.
Ich wurde zu einem verstörten und unsicheren Kind. Ich hatte zu Hause kaum Freiheit und keine Freunde. Abends schlich ich manchmal im Badeanzug aus dem Haus, um durch den Rasensprenger unserer Nachbarn zu laufen. Aber das ging nur, wenn zu Hause alle betrunken waren. Ich hungerte nach Aufmerksamkeit und Freiheit, weil ich daheim so wenig Liebe und Zuneigung erfuhr.
Jede Nacht blickte ich zum Himmel hinauf in der Hoffnung, ein Raumschiff zu entdecken. Ich versuchte, telepathisch Kontakt zu meinen Leuten aufzunehmen, aber nichts geschah. Ich vermutete, daß sie den Kontakt mieden, damit sie nicht in die Versuchung gerieten, mir in meiner Not zu helfen. Aber immer, wenn mir aufmunternde Gedanken durch den Kopf gingen, wußte ich, daß sie sehr wohl wußten, was mit mir geschah. Dank ihrer inneren Führung verzweifelte ich nicht. Viele Dinge, die ich normalerweise in der Schule gelernt hätte, wurden mir auf die gleiche Weise übermittelt.
Oft überwältigten mich die Erinnerungen an meine Heimat in Teutonia, an Odin und Arena und die anderen wundervollen Menschen, die ich dort kannte. So einsam und unglücklich, wie ich war, dachte ich immer wieder darüber nach, was ich alles aufgegeben hatte für dieses Leben auf der Erde. Es wurde von Tag zu Tag schwieriger, mich selbst davon zu überzeugen, daß ich dieses Leben akzeptieren und durchleben mußte, um karmische Verpflichtungen auszugleichen.
Ich fühlte mich wie in einer Falle und erinnerte mich immer wieder an Onkel Odins Worte: „Versuche auch im größten Leid die wertvollen Lektionen zu sehen, die sich in diesen unglücklichen Erfahrungen verbergen.“ Und mein Lehrer Rami Nuri hatte mir erklärt: „Durch all diese schrecklichen Erfahrungen wirst du wertvolle Erkenntnisse sammeln, die dir helfen, deine Mitmenschen und ihre Ansichten besser zu verstehen.“
Diese Gedanken munterten mich immer nur für kurze Zeit auf. Je mehr mir bewußt wurde, wie grausam und entsetzlich mein Schicksal war, desto öfter saß ich irgendwo allein und weinte. Und es sollte noch viel schlimmer kommen....
Bald drängte C.L. wieder zum Aufbruch, um woanders auf seine Art Geld zu verdienen. Unser nächster Halt war in Virginia. Mom und C.L. übernahmen dort das „Barbecue Pit“, eine Gaststätte für Fernfahrer. C.L. konnte leckere Saucen zubereiten und hatte die brillante Idee, vor dem Haus einen Grill aufzustellen. Darauf briet er Zwiebeln, um mit dem Geruch die Gäste anzulocken. Wir hatten keine Zeit, uns einzuleben, denn C.L. verspürte bald wieder den Drang weiterzuziehen.
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