Gesang der Fledermäuse

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Из серии: Kampa Pocket
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Sie verbrachte hier die Zeit bis Ende September und ging kaum aus dem Haus. Nur manchmal, wenn die Hitze trotz des Windes unerträglich und klebrig geworden war, bettete sie ihren fahlen Körper in einen Liegestuhl und verharrte reglos in der Sonnenglut, wovon sie noch grauer wurde. Wenn ich nur ihre Füße sehen könnte, vielleicht würde sich herausstellen, dass auch sie kein menschliches Wesen war, sondern eine andere Variante des Daseins. Eine Nixe des Logos oder eine Sylphide. Manchmal bekam sie Besuch von einer Freundin, einer dunkelhaarigen starken Person mit grell geschminkten Lippen. Die hatte ein braunes Muttermal im Gesicht, vermutlich ein Zeichen dafür, dass Venus zum Zeitpunkt ihrer Geburt im ersten Haus stand. Sie kochten gemeinsam, als seien ihnen wieder die althergebrachten Familienrituale eingefallen. Im letzten Jahr hatte ich oft mit ihnen gegessen: scharfe Kokosmilchsuppe, Kartoffelpuffer mit Pfifferlingen. Sie kochten gut und schmackhaft. Die Freundin verhielt sich sehr zärtlich zu der aschgrauen Frau, der ich den Namen Grisella gegeben hatte. Sie kümmerte sich um sie wie um ein Kind. Sicher wusste sie genau, was sie tat.



Das kleinste Haus am feuchten Waldrand hatte vor Kurzem eine lärmende Familie aus Wrocław gekauft. Sie hatten zwei halbwüchsige, dickliche, verzogene Kinder und ein Lebensmittelgeschäft in Krzyki. Das Haus sollte umgebaut und in einen polnischen Gutshof verwandelt werden – es sollten Säulen und eine Galerie angebaut werden, und auf der Hinterseite sollte es einen Swimmingpool geben. Das erzählte mir der Vater. Vorerst wurde alles mit einem aus Beton gegossenen Zaun eingefasst. Sie zahlten großzügig und baten mich, täglich zu überprüfen, ob niemand eingebrochen sei. Das Haus selbst war alt und kaputt, es sah aus, als wollte es in Ruhe gelassen werden, um friedlich in die Zukunft zu bröckeln. In diesem Jahr stand ihm jedoch eine Revolution bevor. Es wurden Berge von Sand geliefert und vor dem Tor abgeladen. Der Wind verwehte ständig die Abdeckfolie, und diese Folie wieder zu richten kostete mich viel Anstrengung. Auf ihrem Grundstück befand sich eine kleine Quelle, und dort wollten sie Fischteiche anlegen und einen Grill mauern. Sie hießen Studzienni. Ich überlegte lange, ob ich ihnen einen eigenen Namen geben sollte, doch ich kam zu der Erkenntnis, dass es einer der beiden Fälle war, wo der Name bereits perfekt zum Menschen passte. Es waren wirklich Brunnenmenschen – wie Menschen, die vor langer Zeit in einen Brunnen gefallen waren, sich nun am Brunnengrund ihr Leben einrichteten und dabei glaubten, der Brunnen sei die ganze Welt.



Das letzte Haus, das schon ganz nah am Weg lag, war zu vermieten. Meistens waren es junge Eheleute mit Kindern, die am Wochenende hier die Natur suchten. Manchmal Verliebte. Es kam auch vor, dass verdächtige Typen sich dort einmieteten, die sich abends volllaufen ließen, die Nacht mit ihrem betrunkenen Gegröle erfüllten und dann bis mittags schliefen. Sie alle huschten wie Schatten durch unser Lufcug. Für eine Stippvisite. Das kleine, unpersönlich renovierte Haus gehörte dem reichsten Menschen in der Gegend, dessen Besitztümer in jedem Tal und auf jedem Hochplateau verstreut waren. Der Typ nannte sich Wnętrzak – und das war eben der zweite Fall, in dem der Name ganz von selbst zu seinem Träger passte. Angeblich hatte er das Haus wegen des Grundstücks gekauft, auf dem es stand. Angeblich kaufte er Grundstücke, um später einmal einen Steinbruch daraus zu machen. Angeblich war das ganze Hochplateau für einen Steinbruch geeignet. Angeblich leben wir hier auf einer Goldgrube, und das Gold heißt Granit.



Ich musste mich wirklich anstrengen, um den Überblick über das Ganze hier zu behalten. Dazu kam noch die kleine Brücke, ich musste nachsehen, ob sie noch in Ordnung war und ob das Wasser nicht die Stützen unterspülte, die bei der letzten Überschwemmung dazugebaut worden waren. Ob keine Hohlräume entstanden waren. Wenn ich meinen Rundgang beendet hatte, blickte ich mich noch einmal nach allen Seiten um, und eigentlich sollte ich froh sein, dass es das alles hier gab. Es hätte ja auch einfach nicht da sein können. Es hätte nur das Gras da sein können, große Büschel windgepeitschtes Steppengras und die Rosetten der Silberdisteln. So hätte es auch aussehen können. Oder überhaupt nichts – eine große Leere im kosmischen Raum. Vielleicht wäre das für alle sogar besser gewesen.



Wenn ich auf meinen Rundgängen über die Felder und das Brachland gehe, dann stelle ich mir gerne vor, wie das alles in einer Million Jahren aussehen wird. Wird es dann noch die gleichen Pflanzen geben? Und die Farbe des Himmels, wäre sie noch genauso wie heute? Werden sich die tektonischen Platten verschoben haben, und wird sich hier eine hohe Bergkette auftürmen? Oder würde hier ein Meer entstehen, sodass man in den träge schwappenden Wellen gar nicht mehr von einem »Ort« sprechen könnte? Eines ist sicher – die Häuser hier wird es nicht mehr geben. Meine Bemühungen hier sind so gut wie nichts, sie haben auf der Spitze einer Stecknadel Platz, so wie auch mein Leben. Das muss ich mir vor Augen halten.



Ein Stück weiter, wenn man unsere Umzäunungen hinter sich gelassen hatte, erschien die Landschaft wie verändert. Hier und dort ragten Ausrufezeichen in die Luft, wie eingeschlagene spitze Nadeln. Wenn mein Blick an ihnen hängen blieb, zitterten meine Lider, das Auge verletzte sich an diesen Holzbauten, die auf Feldern, auf Lichtungen und an Waldrändern in die Höhe schossen. Auf dem ganzen Hochplateau gab es acht Stück davon, ich kannte sie alle genau, denn ich tat mit ihnen dasselbe, was Don Quichotte mit den Windmühlen getan hatte. Sie waren aus über Kreuz genagelten hölzernen Bohlen zusammengezimmert, sie bestanden quasi aus lauter Kreuzen. Diese klobigen Gebilde hatten vier Beine, und auf diesen stand eine Hütte mit Luken oder Fenstern, aus denen geschossen wurde. Kanzeln. Schon immer hatte mich dieser Name irritiert und geärgert. Was für Lehren werden denn von diesen Kanzeln verkündet? Welches Evangelium? Ist das nicht der Gipfel des Hochmuts? Ist es nicht ein teuflischer Einfall, den Ort, von dem aus gemordet wird, Kanzel zu nennen?



Wenn ich eine von ihnen vor mir sehe, schließe ich die Lider so fest, dass die Umrisse verschwimmen oder das ganze Gebilde fast verschwindet. Das tue ich, weil ich ihre Gegenwart nicht ertrage. Doch es stimmt, dass einer, der begehrt und nicht handelt, die Pest brütet. Das sagt unser Blake.



Wenn ich so mit zusammengekniffenen Lidern vor einer Kanzel stehe, kann ich mich jederzeit umwenden, um die zackige, scharfe, haarfeine Linie des Horizonts zu sehen. Um über sie hinauszusehen. Dort ist Tschechien. Dorthin flüchtet die Sonne, wenn sie die Schrecknisse hier gesehen hat. Dort zieht meine Göttliche ihre Nachtbahn. Ja, so ist es, die Venus geht in Tschechien schlafen.





Die Abende verbringe ich so: Ich setze mich in der Küche an meinen großen Tisch und widme mich meiner Lieblingsbeschäftigung. Auf dem großen Tisch steht der Computer, den ich von Dyzio bekommen habe und in dem ich vorwiegend ein Programm benutze. Ich brauche dazu die

Ephemeriden,

 einen Notizblock und einige Bücher. Dazu etwas Trockenmüsli, das ich bei der Arbeit esse, und ein Kännchen Schwarztee, der einzige Tee, den ich trinke.



Eigentlich könnte ich alles von Hand berechnen, und es tut mir sogar ein bisschen leid, dass ich es nie getan habe. Doch wer benutzt heute noch einen Rechenschieber?



Wenn ich jedoch einmal in der Wüste irgendein Horoskop berechnen müsste, ohne Computer, ohne Elektrizität und ohne irgendwelche Geräte, dann könnte ich das. Ich bräuchte dazu nur meine

Ephemeriden

. Sollte mich also je einer fragen (leider wird es niemand tun), welches Buch ich auf eine unbewohnte Insel mitnähme, wäre meine Antwort:

Die Ephemeriden der Planeten. 1920–2020.



Es interessiert mich, ob man aus dem Horoskop eines Menschen sein Sterbedatum ersehen kann. Der Tod im Horoskop. Wie er aussieht. Wie er in Erscheinung tritt. Welche Planeten spielen die Rolle der Moiren? Hier unten, in der Welt des Urizen, gilt ein Gesetz. Vom Sternenhimmel bis hin zum moralischen Gewissen. Es ist ein strenges, erbarmungsloses Gesetz, das ausnahmslos gilt. Wenn es eine Ordnung der Geburten gibt, warum soll es dann nicht auch eine Ordnung des Todes geben?



Über die Jahre hinweg hatte ich eintausendzweiundvierzig Geburtstage gesammelt und neunhundertneunundneunzig Todesdaten. Und ich führe weiterhin meine kleinen Untersuchungen durch. Ein Projekt ohne EU-Gelder. Ein Küchenprojekt.





Ich dachte immer, Astrologie soll man durch Praxis lernen. Sie ist eine exakte Disziplin, in hohem Maße empirisch und genauso wissenschaftlich wie etwa die Psychologie. Sie erfordert die genaue Beobachtung einiger Personen in ihrer Umgebung und die Verknüpfung gewisser Momente in ihrem Leben mit der Stellung der Planeten. Man muss auch die Ereignisse, an denen verschiedene Menschen teilgenommen haben, überprüfen und analysieren. Ganz schnell wird man merken, dass ähnliche astrologische Muster ähnliche Ereignisse beschreiben. Das sind die Momente, in denen es zur Initiation kommt. O ja, eine Ordnung besteht und sie ist zum Greifen nahe. Sie wird von den Sternen und Planeten gebildet, wobei der Himmel die Schablone ist, die das Muster unseres Lebens vorgibt. Nach längeren Studien kann man hier auf der Erde aus kleinen Details die Lage der Planeten am Himmel herauslesen. Das Gewitter am Nachmittag, der Brief, den der Postbote in den Türspalt geklemmt hat, die kaputte Glühbirne im Badezimmer. Nichts kann sich der Ordnung entziehen. Auf mich wirkt das wie Alkohol oder wie eines dieser neuen Rauschgifte, die, so stelle ich es mir vor, den Menschen in pure Verzückung versetzen.



Man muss Augen und Ohren aufsperren, die Fakten miteinander verknüpfen. Man muss Ähnlichkeiten dort erkennen, wo alle anderen diametrale Unterschiede sehen. Man darf nicht vergessen, dass manche Dinge auf einer ganz anderen Ebene geschehen, oder anders gesagt, dass viele Ereignisse nur Aspekte ein und derselben Sache sind. Die Welt ist ein großes Netz, eine Ganzheit, und es gibt nichts, was nicht dazugehört. Auch das allerkleinste Stückchen Welt ist mit anderen verbunden, durch den komplizierten Kosmos der Korrespondenz, der mit normalem Verstand nicht leicht zu ergründen ist. So funktioniert das. Wie ein japanisches Auto.

 



Dyzio, der sich gerne weitschweifig über die seltsame Symbolik bei Blake auslässt, hat meine Leidenschaft für die Astrologie nie teilen können. Das kommt daher, dass Dyzio zu spät geboren ist. Seine Generation hat Pluto in der Waage, was ihr Gespür dafür etwas schwächt. Diese Menschen versuchen ein Gegengewicht zur Hölle zu sein. Ich glaube nicht, dass ihnen das gelingen wird. Vielleicht können sie Projekte und Anträge verfassen, aber die meisten von ihnen haben kein Gespür mehr.



Ich bin in einer schönen Epoche groß geworden, die leider schon vergangen ist. In ihr herrschte sowohl enorme Veränderungsbereitschaft als auch das Vermögen, revolutionäre Visionen zu entwickeln. Heute wagt es niemand mehr, etwas Neues zu denken. Alle sagen nur pausenlos, wie es ist, und spinnen die alten Gedanken weiter. Die Realität ist alt und mürrisch geworden, schließlich unterliegt sie definitiv den gleichen Gesetzen wie jeder lebendige Organismus – sie altert. Ihre kleinsten Bestandteile – die Sinne – unterliegen der Apoptose ebenso wie die Körperzellen. Die Apoptose ist ein natürlicher Tod, der durch Materialermüdung und -abnutzung entsteht. Im Griechischen bedeutet das Wort das »Abfallen der Blätter«. Der Welt sind die Blätter abgefallen.



Doch danach muss etwas Neues kommen, so ist es immer gewesen – ist das nicht ein komisches Paradoxon? Uranus steht in Fische, und wenn er in den Widder wechselt, dann beginnt ein neuer Zyklus und die Realität wird wiedergeboren. Im übernächsten Frühling.



Ich habe immer sehr gerne die Horoskope studiert, selbst dann, als ich die Ordnungen des Todes entdeckte. Die Bewegung eines Planeten hat etwas Hypnotisches und Schönes, man kann sie weder anhalten noch vorantreiben. Es ist gut zu denken: Diese Ordnung geht über die Zeit und den Ort von Janina Duszejko hinaus. Es ist gut, sich vollkommen auf etwas verlassen zu können.



Also: Um den natürlichen Tod zu bezeichnen, überprüfen wir die Position des Hyleg, also desjenigen Himmelskörpers, der für uns aus dem Kosmos die Lebensenergie zieht. Bei tagsüber stattfindenden Geburten ist es die Sonne, bei Nachtgeburten der Mond, und in einigen Fällen regiert der Aszendent den Hyleg. Der Tod tritt üblicherweise dann ein, wenn der Hyleg einen radikal unharmonischen Aspekt vom Herrscher des Achten Hauses oder des darin liegenden Planeten erreicht.



Wenn ich an die Bedrohung durch einen gewaltsamen Tod denke, muss ich den in diesem Haus platzierten Hyleg, sein Haus und seine Planeten in Betracht ziehen. Ich achte dabei darauf, welcher der schädlichen Planeten – Mars, Saturn oder Uranus – stärker ist als der Hyleg und mit ihm zusammen einen ungünstigen Aspekt bildet.



An diesem Abend setzte ich mich an die Arbeit und zog das zerknüllte Blatt Papier aus der Tasche, auf das ich mir die Daten von Bigfoot notiert hatte, um zu überprüfen, ob sein Tod ihn zur rechten Zeit heimgesucht hatte. Als ich sein Geburtsdatum eingab, bemerkte ich, dass ich dieses auf ein Blatt aus einem Jagdkalender geschrieben hatte. Die Seite hieß »März«, und in einer Tabelle waren darauf die Figuren der Tiere gezeichnet, die man im März jagen durfte.



Auf dem Bildschirm vor mir sprang das Horoskop auf und fesselte meinen Blick eine ganze Stunde. Zuerst besah ich mir den Saturn. Der Saturn im fixen Zeichen weist nicht selten auf einen Tod durch Ersticken, Erwürgen oder Aufhängen hin. Zwei Abende lang plagte ich mich mit dem Horoskop von Bigfoot. Dann rief Dyzio an, und ich musste ihn davon abbringen, mich zu besuchen. Sein alter, wackerer Fiat polski wäre in dem Schneematsch stecken geblieben. Nein, Dyzio, diese Seele von Mensch, sollte bei sich daheim im Arbeiterwohnheim Blake übersetzen. Er sollte in der Dunkelkammer seines Geistes polnische Sentenzen aus englischen Negativen hervorholen. Es wäre besser, wenn er am Freitag käme, dann könnte ich ihm alles erzählen und ihm zum Beweis die präzise Ordnung der Sterne präsentieren.



Ich muss aufpassen. Inzwischen wage ich es, zuzugeben: Ich bin keine gute Astrologin, leider. Mein Charakter hat einen Schwachpunkt, der das Bild der Planeten verschleiert. Ich betrachte sie durch meine Angst hindurch, obwohl es den Anschein hat, als sei ich ein heiterer Mensch, was mir von den Leuten naiv und einfältig attestiert wird. Ich sehe alles wie in einem schwarzen Spiegel, wie durch eine beschlagene Scheibe. Ich betrachte die Welt so wie andere Menschen eine Sonnenfinsternis betrachten. Dabei sehe ich eine Erdfinsternis. Ich sehe, wie wir blind im ewigen Dunkel herumtappen, wie Maikäfer, die von einem grausamen Kind in einer Schachtel gefangen gehalten werden. Es ist leicht, uns Schaden und Leid zuzufügen, unser kunstvoll zusammengefügtes, wunderbares Dasein in Stücke zu schlagen. Das alles ist in meinen Augen anormal, schrecklich und bedrohlich. Ich sehe nur die Katastrophen. Doch wenn schon am Anfang der Untergang steht, kann man dann noch tiefer fallen?



Jedenfalls kenne ich das Datum meines eigenen Todes, und daher fühle ich mich frei.




5 Das Licht im Regen



»Gefängnisse werden mit den Quadern des Gesetzes gebaut,



Bordelle mit den Ziegeln der Religion.«



Es krachte und knallte, als ob im Nebenzimmer jemand eine aufgeblasene Papiertüte zerschlug.



Ich setzte mich im Bett auf, in der schrecklichen Ahnung, dass etwas Schlimmes passiert war und dass dieses Geräusch jemandes Todesurteil sein konnte. Es folgten weitere Schläge, also begann ich mich, noch immer schlaftrunken, hastig anzuziehen. Mitten im Zimmer blieb ich stehen, ich hatte mich im Pullover verheddert, und plötzlich wurde mir schwindelig – was tun? Wie immer an diesen Tagen war schönstes Wetter, der Wettergott war offenbar den Jägern wohlgesonnen. Die Sonne strahlte, sie war eben aufgegangen und noch rot vor Anstrengung, und sie warf lange, schläfrige Schatten. Ich trat vors Haus, und wieder schien mir, als liefen meine Mädchen an mir vorüber ins Freie, als sprängen sie direkt in den Schnee, als freuten sie sich über den aufziehenden Tag. So offen und schamlos zeigten sie ihre Freude, dass es mich fast kränkte. Ich werfe einen Schneeball nach ihnen, und sie behandeln das als Erlaubnis zu allen möglichen Tollheiten und beginnen sofort eine chaotische Verfolgungsjagd, worin die Jagende jeden Moment die Verfolgte sein kann und von einer Sekunde auf die andere die Vorzeichen für dieses Rennen umkehrt. Ihre Freude wird schließlich so grenzenlos, dass sie nur dadurch zum Ausdruck gebracht werden kann, dass sie wie verrückt um das Haus herumrennen.



Wieder spürte ich Tränen auf meinen Wangen – ich sollte vielleicht doch einmal damit zum Arzt Ali gehen, der Dermatologe ist, aber sich überall auskennt und alles versteht. Meine Augen müssen ziemlich krank sein.



Auf dem Weg zu meinem Samurai nahm ich die eisgefüllte Plastiktüte vom Pflaumenbaum und wog ihr Gewicht in meiner Hand. »Die kalte Teufelshand« fiel mir ein, das war sehr lange her. War es aus

Faust

? Der Samurai sprang auf Anhieb an, er fuhr voll Demut durch den Schnee, als wisse er um meinen Zustand. Hinten klapperten der Spaten und das Ersatzrad. Schwer zu lokalisieren, von wo die Schüsse kamen, sie wurden von der Waldfront zurückgeworfen, mit vielfachem Echo. Ich fuhr in Richtung Grenzübergang, und etwa zwei Kilometer hinter dem Steilhang sah ich ihre Autos – Luxusjeeps und einen kleinen Lastwagen. Ein Mann stand daneben und rauchte. Ich gab Gas und fuhr näher hin. Der Samurai wusste offenbar, was ich wollte, da er mit großer Begeisterung den nassen Schnee verspritzte. Der Mann lief einige Meter hinter mir her und fuchtelte mit den Armen, er wollte wahrscheinlich versuchen, mich aufzuhalten. Aber ich beachtete ihn nicht.



Da gingen sie, leichte Infanterie, zwanzig, dreißig Männer in grünen Uniformen und Tarnanzügen, dazu diese idiotischen Hüte mit Feder. Ich stoppte, stieg aus und lief in ihre Richtung. Bald erkannte ich einige von ihnen. Und sie hatten auch mich gesehen. Sie sahen mich verwundert an und warfen sich amüsierte Blicke zu.



»Was, zum Teufel, geht hier vor?«, schrie ich.



Einer von ihnen, ein Helfer, kam zu mir. Es war der Schnurrbartträger, der mich am Tag nach Bigfoots Tod mit einem Kollegen abgeholt hatte.



»Frau Duszejko, kommen Sie nicht näher, das ist gefährlich. Bitte gehen Sie fort. Wir schießen.«



Ich fuchtelte vor seinem Gesicht herum.



»Wenn hier wer abhauen muss, dann ihr! Sonst rufe ich die Polizei.«



Ein weiterer Mann löste sich aus der Infanterie und kam zu uns. Ich kannte ihn nicht. Er trug die klassische Jägermontur, mit Hut. Die Infanterie rückte aus, unter vorgehaltenen Flinten.



»Das wird nicht nötig sein«, sagte er höflich. »Die Polizei ist bereits hier.« Er lächelte gönnerhaft. Und tatsächlich, von Weitem sah ich die dickbäuchige Gestalt des Kommissars.



»Was ist los?«, rief einer.



»Nichts, nichts, die Alte aus Lufcug. Sie will die Polizei rufen.« Seine Stimme klang ironisch.



Ich hasste ihn.



»Frau Duszejko, lassen Sie den Unsinn.« Der Schnurrbärtige versuchte mich zu beschwichtigen. »Wir schießen hier wirklich.«



»Ihr dürft nicht auf Lebewesen schießen!«, schrie ich so laut ich konnte. Der Wind riss mir die Worte direkt von den Lippen und trug sie über das ganze Hochplateau.



»Es ist alles in Ordnung, fahren Sie nach Hause. Wir schießen Fasane«, beruhigte mich der Schnurrbärtige, als hätte er meinen Protest nicht verstanden. Der andere raunte ihm zu: »Nicht diskutieren. Das ist eine Wahnsinnige.«



Da packte mich der Zorn, echter Zorn, man könnte sagen: göttlicher Zorn. Er befiel mich irgendwo innen drin, schlagartig und heiß, und drängte nach draußen. Ich genoss diese Energie, sie schien mich in die Luft zu heben, eine gewaltige Explosion im Universum meines Körpers. Ein Feuer war in mir entbrannt, ein Neutronenstern. Ich machte einen Satz nach vorn und versetzte dem Mann in seinem dämlichen Hut einen derartigen Stoß, dass er in den Schnee fiel, völlig verdattert. Und als der Schnurrbärtige ihm zu Hilfe kommen wollte, ging ich auf den los und schlug ihm mit meinen Fäusten so fest ich konnte auf die Schulter. Er brüllte vor Schmerz auf. Ich habe ganz schön Kraft für eine Frau.



»He, he, was fällt Ihnen ein?« Sein Mund war schmerzverzerrt, und er versuchte meine Hände festzuhalten. Dann kam der Andere herbeigelaufen, der vorher bei den Autos gestanden hatte. Offenbar war er mir nachgefahren. Er packte mich von hinten und hielt mich fest wie im Schraubstock.



»Ich bringe Sie zu Ihrem Auto«, sagte er dicht bei meinem Ohr, doch er wollte mich keineswegs dorthin führen, sondern zog mich so nach hinten, dass ich hinfiel.



Der Schnurrbärtige wollte mir aufhelfen, aber ich stieß ihn angewidert fort. Ich hatte keine Chance.



»Regen Sie sich nicht auf. Wir sind im Recht.«



Ja, genau das sagte er. »Im Recht.« Ich klopfte mir den Schnee ab und stolperte zum Auto, zitternd vor Wut. Die Infanterie war unterdessen zwischen den jungen Weiden auf dem sumpfigen Gebiet im niederen Gestrüpp verschwunden. Kurz darauf hörte ich wieder Schüsse – sie schossen auf die Vögel. Ich setzte mich ins Auto und saß reglos da, mit den Händen am Lenkrad, doch es dauerte eine Weile, bis ich losfahren konnte.



Auf dem Nachhauseweg weinte ich über meine Ohnmacht. Meine Hände zitterten, und ich wusste, dass es ein böses Ende nehmen würde. Der Samurai blieb mit einem erleichterten Seufzer vor meinem Haus stehen, es klang tröstlich, als wolle er bei allem zu mir halten. Ich schmiegte mein Gesicht in das Lenkrad. Die Hupe gab einen kläglichen Laut von sich. Wie ein Ruf der Trauer.





Mein Leiden taucht hinterrücks auf, man kann nie wissen, wann. Irgendetwas passiert dann in meinem Körper, meine Knochen beginnen zu schmerzen. Es ist ein unangenehmer Schmerz, ich empfinde ihn als dumpf. Er hält stundenlang an, ohne Pause, manchmal tagelang. Man kann diesem Schmerz nicht entgehen, es gibt keine Tabletten oder Spritzen dagegen. Er muss schmerzen, genauso wie der Fluss fließen und das Feuer brennen muss. Fast gehässig erinnert er daran, dass ich aus den Teilchen einer Materie zusammengesetzt bin, von denen in jeder Sekunde etliche zugrunde gehen. Vielleicht könnte man sich an ihn gewöhnen? Mit ihm leben, so wie die Menschen in Auschwitz oder Hiroshima leben, und nicht daran denken, was früher hier geschehen ist. Ganz einfach leben.

 



Doch nach den Knochenschmerzen kommt das Bauchweh, die Innereien, die Leber, alles, was da drinnen ist, tut weh und es hört nicht auf. Für kurze Zeit kann der Schmerz durch Traubenzucker gelindert werden, den ich immer in einer kleinen Phiole bei mir trage. Aber ich weiß nie, wann so ein Anfall kommen könnte, wann mich so ein Unwohlsein überfallen wird. Manchmal glaube ich, ich sei in Wirklichkeit aus lauter Krankheitssymptomen zusammengesetzt, ein Phantom, das aus Schmerzen besteht. Wenn ich nicht mehr weiter weiß, stelle ich mir vor, über meinen Bauch, vom Hals bis zum Schritt, liefe ein Reißverschluss, den ich langsam öffne, von oben nach unten. Ich stelle mir vor, ich zöge die Hände aus meinen Händen, die Beine aus meinen Beinen und den Kopf aus meinem Kopf. Ich schlüpfe aus meinem eigenen Körper, und dieser fällt von mir ab wie ein altes Kleid. Jetzt bin ich ganz klein und sehr zart, fast durchsichtig. Mein Körper ist wie der Körper einer Meduse, weiß, milchig und phosphoreszierend.



Allein diese Phantasie bringt mir Erleichterung. Ja, dann bin ich frei.



*



Es ging mir wirklich so schlecht, dass ich Dyzios Besuch verschob, weil ich vorher zum Arzt gehen wollte.



Dort saß ich im Wartezimmer in der Schlange und dachte daran zurück, wie ich Doktor Ali kennengelernt hatte.



Es war letztes Jahr gewesen, die Sonne hatte mich wieder verbrannt. Bestimmt sah ich bedauernswert aus, die erschrockenen Schwestern von der Rezeption brachten mich sofort auf die Station. Dort sollte ich warten, und da ich hungrig war, zog ich aus meiner Tasche mit Kokos bestreute Kekse und fing an zu essen. Kurz darauf erschien der Arzt, hellbraun wie eine Walnuss. Er sah mich an und sagte:



»Ich mag auch gerne Kokos

frohlocken



Das überzeugte mich. Wie viele Menschen, die erst im Erwachsenenalter Polnisch lernen, verwechselte er manchmal ein bestimmtes Wort mit einem ganz anderen. »Wir werden gleich sehen, was Ihnen

fällt

«, hatte er damals noch gesagt.



Auch diesmal nahm er sich sehr akribisch meines Leidens an, nicht nur meiner Haut. Sein dunkles Gesicht blieb immer ruhig. Ohne Eile erzählte er mir irgendwelche verwickelten Anekdoten, während er meinen Puls und meinen Blutdruck maß. Ja, ganz sicher ging er weit über seine Pflichten als Dermatologe hinaus. Ali, dessen Heimat im Nahen Osten lag, hatte sehr traditionelle und solide Methoden, um Hautkrankheiten zu behandeln. Er ließ die Apothekerinnen besonders raffinierte Salben und Tinkturen aus vielen verschiedenen Zutaten mischen, was sehr viel Arbeit bedeutete. Wahrscheinlich war er deshalb bei den Apothekern in der Gegend nicht besonders beliebt. Seine Mixturen hatten wunderliche Farben und schockierende Gerüche. Vielleicht glaubte Ali, dass die Behandlung eines allergischen Ausschlags ebenso spektakulär sein musste wie der Ausschlag selbst.



Heute besah er sich auch die blauen Flecken auf meinen Armen.



»Woher sind die?«, fragte er.



Ich bagatellisierte die Sache, indem ich behauptete, ein kleiner Stoß genüge mir, um einen Monat lang einen roten Flecken zu haben. Ali blickte mir auch in den Rachen, befühlte die Lymphknoten und horchte die Lunge ab.



Ich bat ihn um ein allgemeines Betäubungsmittel. »Es gibt sicher so etwas. Das hätte ich gerne. Damit ich nichts spüre, mir keine Sorgen mache und gut schlafe. Wäre das möglich?«



Er machte sich daran, Rezepte zu schreiben. Bei jedem überlegte er lange und kaute am Kugelschreiber. Schließlich bekam ich einen ganzen Packen Rezepte, und jede Arznei musste bestellt und extra angefertigt werden.



*



Ich kam spät nach Hause. Es war schon lange dunkel, und seit gestern hatten wir Föhn, der Schnee schmolz zusehends und es fiel schrecklicher Schneeregen. Zum Glück war der Ofen nicht ausgegangen. Dyzio verspätete sich auch, denn wieder einmal konnte man unseren Weg durch den aufgeweichten, glitschigen Schnee nicht hinauffahren. Er ließ seinen kleinen Fiat an der Straße stehen und kam zu Fuß, durchfroren und durchnässt.



Dyzio, Dionizy, kam jeden Freitag direkt von der Arbeit zu mir, daher bereitete ich an diesem Tag immer etwas zu essen vor. Einmal pro Woche, denn für mich selber koche ich sonntags einen großen Topf Suppe, die ich dann jeden Tag wieder aufwärme. Das reicht mir, so in etwa, bis Mittwoch. Am Donnerstag esse ich meistens Trockenproviant aus dem Küchenschrank oder in der Stadt eine Pizza Margherita.



Dyzio hat ein paar gemeine Allergien, und deshal

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