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Из серии: Der Weg Der Vampire #3
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Читает Katja Kessler
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3. Kapitel

Samantha sah, wie die riesigen Doppeltüren sich knarrend öffneten, und spürte ein unangenehmes Ziehen im Bauch. Dann trat sie in Begleitung von mehreren Vampirwachen in das Gemach ihres Meisters. Zwar hielten sie sie nicht fest – das würden sie nie wagen – doch sie umringten sie so dicht, dass die Botschaft auch so eindeutig war. Demnach war sie immer noch eine von ihnen, obwohl sie unter Hausarrest stand – zumindest, bis das Treffen mit Rexus vorüber war. Er bestellte sie als Soldatin zu sich, doch gleichzeitig war sie auch eine Gefangene.

Nachdem die Tür mit einem Krachen hinter ihr ins Schloss gefallen war, sah sie, dass der Raum voller Vampire war. Seit Jahren hatte sie nicht mehr so viele von ihnen versammelt gesehen. Aberhunderte füllten den Raum. Offensichtlich wollten alle zusehen und die Neuigkeiten über das Schwert hören. Sie wollten hören, wie sie es sich hatte entwischen lassen.

Aber wahrscheinlich wollten sie vor allem miterleben, wie sie bestraft wurde. Jeder wusste, dass Rexus ein unerbittlicher Meister war, der sogar den kleinsten Fehler mit einer Strafe ahndete. Und eine Verfehlung von dieser Tragweite würde sicherlich eine besonders schwere Bestrafung nach sich ziehen.

Samantha wusste das, und sie versuchte auch gar nicht, ihrem Schicksal zu entkommen. Schließlich hatte sie den Auftrag, den sie übernommen hatte, nicht erfolgreich ausgeführt. Zwar hatte sie das Schwert gefunden, aber sie hatte es auch verloren – sie hatte zugelassen, dass Kyle und Sergei es ihr vor der Nase weggeschnappt hatten.

Alles wäre perfekt gewesen. Das Schwert hatte nur wenige Schritte von ihr entfernt auf dem Boden in der King’s Chapel gelegen. Nur wenige Sekunden hatten sie von dem Ergreifen des Schwertes getrennt, von der Erfüllung ihres Auftrages, um ein Haar wäre sie zur Heldin ihres Clans geworden.

Und dann war Kyle mit seinem schrecklichen Handlanger hereinmarschiert, hatte sie niedergeschlagen und das Schwert gestohlen, unmittelbar bevor sie danach hatte greifen können. Das war so unfair. Wie hätte sie damit rechnen können?

Und was war sie jetzt? Der Bösewicht, die Versagerin. Die, die sich das Schwert vor der Nase hatte wegschnappen lassen. Oh ja, das dicke Ende würde noch kommen, davon war sie überzeugt.

Jetzt war es für sie nur noch von Bedeutung, dass Sam in Sicherheit war. Er war ebenfalls niedergeschlagen worden und hatte das Bewusstsein verloren. Daraufhin hatte sie ihn weggetragen und die ganze Strecke hierhergebracht, weil sie ihn in ihrer Nähe haben wollte. Sie war nicht bereit, ihn gehen zu lassen, und sie hatte nicht gewusst, wohin sie ihn sonst hätte bringen sollen. Also hatte sie ihn hereingeschmuggelt und ihn in einem leeren Raum tief unter der Erde untergebracht. Niemand hatte sie dabei beobachtet, jedenfalls nicht, soweit sie wusste. Dort würde er vor den neugierigen Augen dieser Vampire sicher sein. Jetzt würde sie Rexus Bericht erstatten, ihre Bestrafung erdulden und danach bis Tagesanbruch warten, wenn alle anderen schliefen, um mit Sam zu fliehen.

Natürlich konnte sie nicht einfach sofort fliehen. Wenn sie nicht zuerst ihren Bericht ablieferte und ihre Strafe verbüßte, würde ihr Clan Jagd auf sie machen, und sie wäre für den Rest ihres Lebens auf der Flucht. Hatte sie erst einmal ihre Strafe erduldet, würde niemand sie verfolgen. Dann konnte sie mit Sam zusammen fliehen und sich irgendwo niederlassen. Nur sie beide.

Niemals hätte sie damit gerechnet, dass dieser Junge solche Gefühle in ihr wachrufen könnte. Inzwischen besaß er für sie erste Priorität. Sie wollte mit ihm zusammen sein: Sie brauchte ihn. So verrückt es auch klingen mochte, selbst für ihre eigenen Ohren – sie konnte sich ein Leben ohne ihn gar nicht mehr vorstellen. Das machte sie wütend, denn sie wusste nicht, wie es so weit hatte kommen können. Wie hatte sie sich nur in einen Jungen im Teenageralter verlieben können? Ganz zu schweigen davon, dass er ein Mensch war. Dafür hasste sie sich. Aber es war, wie es war. Es würde nichts bringen, ihre Gefühle ändern zu wollen.

Dieser Gedanke gab ihr Kraft, als sie langsam auf Rexus’ Thron zuging und sich auf seinen Urteilsspruch vorbereitete. Sie wusste, dass sie unbeschreibliche Schmerzen erleiden würde, doch der Gedanke an Sam würde ihr helfen, das durchzustehen. Es gab jemanden, zu dem sie zurückkehren konnte. Außerdem würde Sam all das erspart bleiben, weil sie ihn in Sicherheit gebracht hatte. Deshalb würde sie ertragen können, was jetzt auf sie zukam.

Doch würde er sie nach der Verbüßung der Strafe überhaupt noch lieben? So wie sie Rexus kannte, würde er als Strafe für sie eine Behandlung mit Weihwasser für angemessen halten und ihr Gesicht so gut es ging verunstalten. Vielleicht würde sie danach nicht mehr hübsch sein. Würde Sam sie dann immer noch lieben? Sie konnte es nur hoffen.

Stille senkte sich über den Raum, während die unzähligen Vampire näher rückten, um nichts zu verpassen. Samantha ging auf Rexus zu, ließ sich auf ein Knie sinken und neigte den Kopf.

Rexus starrte von seinem Thron auf sie hinunter, wobei seine harten, eisblauen Augen sie förmlich zu durchbohren schienen. Es dauerte eine gefühlte Ewigkeit, obwohl Samantha wusste, dass wahrscheinlich nur wenige Sekunden vergingen. Wohlweislich hielt sie den Kopf gesenkt und hütete sich, seinem Blick zu begegnen.

»Also«, begann Rexus mit rauer Stimme zu sprechen, »jetzt rächt es sich, dass ich dich ausgewählt habe.«

Ein längeres Schweigen folgte, während er Samantha musterte. Sie unternahm keinen Versuch, sich in irgendeiner Weise zu rechtfertigen, sondern blickte nicht einmal auf.

»Ich habe dich losgeschickt, um einen sehr einfachen Auftrag zu erledigen«, fuhr er fort. »Nachdem Kyle versagt hatte, brauchte ich jemandem, dem ich vertrauen konnte. Meine wertvollste Kriegerin. Noch nie zuvor hattest du mich enttäuscht, nicht ein einziges Mal in Jahrtausenden«, sagte er hart. »Aber irgendwie ist es dir gelungen, an diesem einfachen Auftrag zu scheitern – absolut kläglich zu scheitern.«

Samantha schwieg weiterhin.

»Nun erzähl mir ganz genau, was mit dem Schwert geschehen ist. Wo ist es?«

»Mein Meister«, antwortete sie bedächtig. »Ich habe dieses Mädchen aufgespürt, diese Caitlin. Und Caleb. Ich habe sie beide gefunden. Auch das Schwert habe ich gefunden. Ich habe Caitlin sogar dazu gebracht, es aus der Hand zu geben. Dann lag es auf dem Boden, nur ganz knapp außerhalb meiner Reichweite. Ich war ganz dicht davor, es war eine Frage von Sekunden, bis ich es in den Händen hätte halten können, um es Euch zu bringen.«

Samantha schluckte.

»Ich konnte nicht ahnen, was als Nächstes passieren würde. Als Kyle mich angriff, war ich völlig überrumpelt …« Lautes Gemurmel breitete sich unter den versammelten Vampiren aus.

»Bevor ich das Schwert ergreifen konnte«, fuhr sie fort, »hatte Kyle es schon an sich genommen. Sofort flüchtete er aus der Kirche, ich konnte nichts tun, um ihn daran zu hindern. Als ich versuchte, ihn zu verfolgen, war er bereits verschwunden. Das Schwert befindet sich jetzt in seinem Besitz.«

Das Gemurmel wurde lauter. Die Aufregung und Besorgnis im Raum war beinahe greifbar.

»RUHE!«, rief jemand mit lauter Stimme.

Langsam erstarb das Murmeln.

»Also hast du zugelassen, dass Kyle das Schwert genommen hat. Du hast es ihm praktisch überreicht.«

Obwohl Samantha es besser wusste, konnte sie sich nicht zurückhalten. Sie musste einfach etwas zu ihrer Verteidigung sagen. »Mein Meister, ich konnte nichts tun …«

Rexus unterbrach sie mit einem simplen Kopfschütteln, eine Geste, die Samantha fürchtete. Denn sie bedeutete, dass Schlimmes folgen würde.

»Wegen dir muss ich jetzt zwei Kriege vorbereiten. Diesen erbärmlichen Krieg gegen die Menschen und jetzt auch noch einen Krieg gegen Kyle.«

Als sich drückendes Schweigen über den Raum legte, spürte Samantha, dass ihre Bestrafung unmittelbar bevorstand. Sie war bereit. In Gedanken klammerte sie sich an das Bild von Sam und an die Tatsache, dass sie sie nicht wirklich umbringen konnten. Das würden sie nie tun. Es würde ein Leben nach all dem geben, irgendein Leben, und Sam würde ein Teil davon sein.

»Ich habe mir eine ganze besondere Strafe für dich ausgedacht«, erklärte Rexus, während er das Gesicht zu einem bösen Grinsen verzog.

Als Samantha hörte, wie die große Doppeltür hinter ihr geöffnet wurde, drehte sie sich unwillkürlich um.

Das Herz wurde ihr schwer, und ihr Mut sank.

An Händen und Füßen mit Ketten gefesselt wurde Sam von zwei Vampiren in den Raum gezerrt.

Sie hatten ihn gefunden.

Da sie ihn auch geknebelt hatten, konnte er sich winden, wie er wollte, doch es war ihm trotzdem nicht möglich, sich zu artikulieren. Seine Augen waren vor Schock und Furcht weit aufgerissen. Die Ketten rasselten, als sie ihn vorwärtszerrten.

»Offensichtlich hast du nicht nur das Schwert verloren, sondern auch noch Zuneigung zu einem Menschen gefasst – ungeachtet aller Vampirregeln«, sagte Rexus. »Deine Bestrafung, Samantha, wird darin bestehen, dem Leiden der Person zuzusehen, die dir am wichtigsten ist. Ich spüre, dass du dir selbst nicht am wichtigsten bist. Es ist dieser Junge. Dieser jämmerliche kleine Menschenjunge. Also gut«, fügte er hinzu und beugte sich grinsend vor. »Dann wird das deine Strafe sein: Wir werden diesem Jungen schreckliche Schmerzen zufügen.«

Samanthas Herz schlug heftig. Das hatte sie nicht vorhergesehen, sie konnte es nicht zulassen. Um keinen Preis.

Umgehend wurde sie aktiv und sprang auf Sams Bewacher zu. Es gelang ihr sogar, einen von ihnen heftig gegen die Brust zu treten, sodass er mehrere Meter rückwärts flog.

Aber bevor sie den andern angreifen konnte, hatten sich schon mehrere Vampire auf sie gestürzt und sie zu Boden geworfen. Mit aller Kraft versuchte sie sich zu wehren, aber da sie in der Überzahl waren, hatte sie keine Chance.

 

Hilflos musste sie zusehen, wie Sam in die Mitte des Raumes gezerrt wurde. Sie brachten ihn an die Stelle, an der in der Regel die Bestrafungen mit Weihwasser durchgeführt wurden. Für Vampire war diese Strafe unbeschreiblich schmerzhaft, und danach blieben sie lebenslang entstellt.

Da Sam ein Mensch war, war für ihn eine Bestrafung mit konzentrierter Säure vorgesehen. Die Schmerzen waren nicht abzuschätzen, die Folge der Säureattacke wäre auf jeden Fall ein entsetzlicher Tod. Also führten sie Sam zu seiner Hinrichtung. Und Samantha wurde gezwungen, dabei zuzusehen.

Rexus’ Grinsen wurde noch breiter, als Sam am Boden angekettet wurde. Auf ein Nicken des Meisters hin riss einer der Bewacher Sam das Klebeband vom Mund.

Sams Blick suchte sofort Samantha, seine Augen waren vor Furcht geweitet.

»Samantha!«, schrie er. »Bitte, rette mich!«

Gegen ihren Willen brach sie in Tränen aus. Es gab nichts, was sie hätte tun können, absolut nichts.

Sechs Vampire rollten einen riesigen Eisenkessel herbei, der ganz oben auf einer Leiter befestigt war. Dann rückten sie ihn direkt über Sams Kopf in Position.

Sam blickte auf.

Das Letzte, was er sah, war eine brodelnde und zischende Flüssigkeit, die über den Rand des Kessels schwappte und ihm jeden Augenblick ins Gesicht spritzen würde.

4. Kapitel

Caitlin rannte durch ein Blumenfeld. Die Blumen reichten ihr bis zur Taille, und sie pflügte regelrecht einen Pfad hindurch. Die blutrote Sonne stand wie eine riesige Kugel am Horizont.

Mit dem Rücken zur Sonne wartete in der Ferne ihr Vater. Zwar konnte sie sein Gesicht nicht sehen, aber sie erkannte seine Silhouette – daher wusste sie, dass er es war.

Während Caitlin immer weiterlief, weil sie sich so sehnlichst wünschte, ihn endlich zu treffen und in die Arme zu schließen, versank die Sonne schnell hinter dem Horizont und war innerhalb weniger Sekunden vollkommen verschwunden.

Plötzlich herrschte absolute Dunkelheit. Caitlins Vater wartete immer noch auf sie. Sie spürte, dass er sie dazu bewegen wollte, noch schneller zu laufen, um sie endlich umarmen zu können. Aber ihre Beine konnten nicht noch schneller rennen. Obwohl sie sich größte Mühe gab, schien sie ihm nicht näher zu kommen.

Auf einmal ging der Mond auf – ein riesiger, blutroter Mond, der fast den ganzen Himmel ausfüllte. Caitlin konnte alle Einzelheiten an seiner Oberfläche erkennen, sämtliche Erhebungen, Täler und Krater. Jetzt zeichnete sich ihr Vater als Silhouette gegen den Mond ab, und sie hatte das Gefühl, direkt auf den Mond zuzulaufen.

Doch plötzlich kam sie nicht mehr weiter, ihre Beine bewegten sich nicht mehr. Als sie hinuntersah, entdeckte sie, dass die Blumen sich um ihre Fußknöchel und Beine gewunden hatten. Jetzt sahen sie aus wie Schlingpflanzen, und sie waren so dick und stark, dass Caitlin sich nicht mehr rühren konnte.

Und dann glitt eine gigantische Schlange durch das Feld auf sie zu. Panisch versuchte Caitlin, sich loszureißen und zu fliehen, aber sie hatte keine Chance. Die Schlange kam näher, löste sich vom Boden und stürzte sich auf Caitlins Hals. Als sich die langen Fangzähne in ihren Hals bohrten, schrie sie laut auf. Der Schmerz war entsetzlich.

Mit einem Ruck wachte Caitlin auf, saß senkrecht im Bett und atmete heftig. Als sie sich an den Hals griff, spürte sie zwei verkrustete Wunden. Einen Augenblick lang brachte sie ihren Traum und die Gegenwart durcheinander und sah sich nach einer Schlange um. Es war keine zu sehen.

Verwirrt rieb sie sich den Hals. Die Wunden schmerzten noch, aber nicht so stark wie in ihrem Traum. Caitlin atmete tief durch.

Ihre Haut war mit kaltem Schweiß überzogen, ihr Herz schlug immer noch heftig. Als sie sich das Gesicht und die Schläfen abwischte, spürte sie, dass ihr die nassen Haare am Kopf klebten. Wie lange war es her, seit sie zuletzt gebadet hatte? Ihre Haare gewaschen hatte? Sie konnte sich nicht daran erinnern. Wie lange hatte sie hier gelegen? Und wo war sie überhaupt?

Sie sah sich in dem Raum um. Irgendwie kam ihr der Ort bekannt vor – hatte sie davon geträumt, oder war sie vorher schon einmal wach gewesen? Die Wände waren komplett aus Stein, und es gab ein großes Rundbogenfenster, durch das sie in den Nachthimmel hinausblicken konnte. Das Licht des riesengroßen Vollmonds fiel in den Raum.

Vorsichtig schwang sie die Beine über den Bettrand und rieb sich die Stirn, während sie sich zu erinnern versuchte. Dabei durchschoss ein schrecklicher Schmerz ihre Seite. Als sie an die Stelle fasste, spürte sie eine verschorfte Wunde. Woher stammte die Wunde? War sie angegriffen worden?

Als Caitlin scharf nachdachte, fielen ihr langsam, aber sicher die Einzelheiten wieder ein. Boston. Der Freedom Trail. Die King’s Chapel. Das Schwert. Dann … der Angriff von hinten. Dann …

Caleb. Er war dort gewesen und hatte auf sie hinuntergeblickt. Die Welt war ihr allmählich entglitten, und sie hatte ihn um etwas gebeten. Verwandle mich, hatte sie ihn angefleht …

Als Caitlin erneut die Hände hob und die beiden Wundmale an der Seite ihres Halses fühlte, wusste sie, dass er ihre Bitte erfüllt hatte.

Das erklärte alles. Schlagartig begriff sie, was geschehen war: Sie war verwandelt worden. Dann hatte man sie irgendwohin gebracht, damit sie sich erholen konnte. Wahrscheinlich hatte Caleb aufmerksam über sie gewacht. Vorsichtig bewegte sie Arme und Beine, drehte den Kopf, untersuchte ihren Körper …

Sie fühlte sich anders, so viel war sicher. Irgendwie war sie nicht mehr sie selbst. Eine grenzenlose Kraft durchströmte sie. Sie hatte das Bedürfnis, zu rennen, Wände zu durchbrechen, in die Luft zu springen. Außerdem spürte sie noch etwas anderes: Auf ihrem Rücken unterhalb ihrer Schulterblätter waren zwei leichte Wölbungen. Flügel. Und sie wusste, dass sie sich öffnen würden, wenn sie fliegen wollte.

Caitlin war wie berauscht von ihrer neu entdeckten Kraft und wollte sie unbedingt ausprobieren. Die Decke fiel ihr auf den Kopf – sie hatte keine Ahnung, wie lange sie schon hier war – und sie wollte unbedingt wissen, wie sich dieses neue Leben anfühlte. Außerdem empfand sie noch etwas, was neu für sie war: Sie fühlte sich draufgängerisch. So, als könnte sie nicht sterben, als könnte sie folgenlos dumme Fehler begehen und mit ihrem Leben spielen. Sie hatte Lust, am Rande des Abgrunds zu balancieren.

Neugierig drehte sie sich um und sah aus dem Fenster in den Nachthimmel hinaus. Das Rundbogenfenster besaß kein Glas und würde in ein mittelalterliches Kloster passen.

Das alte Menschenmädchen Caitlin aus der Vergangenheit hätte gezögert, nachgedacht und gezweifelt, ob sie wirklich tun sollte, was ihr in den Sinn gekommen war. Doch die wiedergeborene Caitlin handelte ohne jedes Zögern. Praktisch in dem Moment, in dem ihr der Gedanke durch den Kopf schoss, sprintete sie schon los und setzte ihn in die Tat um.

Mit wenigen schnellen Schritten hatte sie das Fenster erreicht, sprang auf die Brüstung und stürzte sich hinaus.

Ihr Instinkt sagte ihr, dass ihre Flügel sich entfalten würden, sobald sie sich in der Luft befand. Falls sie falsch lag, würde sie abstürzen und viele, viele Meter weiter unten auf dem Boden aufschlagen. Doch die wiedergeborene Caitlin hatte nicht das Gefühl, je wieder etwas falsch machen zu können.

Und ihr Gefühl trog sie nicht. Als sie in die Nacht hinaussprang, entfalteten sich automatisch die Flügel hinter ihren Schulterblättern. Das Gefühl zu fliegen und durch die Luft zu gleiten war überwältigend. Die Spannweite ihrer Flügel entzückte sie, und sie war begeistert, die frische Nachtluft im Gesicht, in den Haaren und am ganzen Körper zu spüren. Zwar war Nacht, doch der Mond war so groß, dass es beinahe taghell war.

Als Caitlin nach unten blickte, konnte sie die Welt aus der Vogelperspektive bewundern. Sie hatte Wasser gespürt, und damit lag sie richtig, denn sie befand sich auf einer Insel. In alle Richtungen breitete sich ein großer, wunderschöner Fluss aus, dessen Wasser ganz ruhig war und im Mondlicht glänzte. Noch nie hatte sie so einen breiten Fluss gesehen. In der Mitte lag die winzige Insel, auf der sie geschlafen hatte. Sie war kaum größer als ein paar Morgen, und an einer Seite wurde sie von einem zerfallenden, schottischen Schloss beherrscht – eigentlich war es eine halbe Ruine. Der Rest der Insel war mit dichtem Wald bedeckt.

Caitlin ließ sich von den Luftströmungen tragen, flog mal höher, mal tiefer, drehte sich, stürzte sich in die Tiefe und stieg wieder auf. Dabei umrundete sie die Insel. Das Schloss war groß und prächtig. Teile davon waren zerfallen, aber andere Bereiche, die man von außen nicht sehen konnte, waren absolut intakt. Es gab Innen- und Außenhöfe, Befestigungsmauern, Türme, Wendeltreppen und sehr weitläufige Gartenanlagen. Das Schloss bot genug Platz für eine kleine Armee.

Als sie sich tiefer sinken ließ, entdeckte sie, dass das Schlossinnere von Fackeln erleuchtet war. Außerdem liefen Leute herum. Waren sie Vampire? Ihre Wahrnehmung sagte ihr, dass es so war. Ihresgleichen. Manche von ihnen trainierten, kämpften mit Schwertern und spielten Spiele. Auf der Insel herrschte emsige Geschäftigkeit. Wer waren diese Leute? Warum war Caitlin hier? Hatten sie sie aufgenommen?

Nachdem Caitlin ihre Runde beendet hatte, sah sie den Raum, aus dem sie herausgesprungen war. Sie hatte ganz oben in dem höchsten Turm geschlafen, auf dem sich eine weite, offene Terrasse mit einer Brustwehr befand. Dort stand ein einsamer Vampir. Caitlin musste nicht näher heranfliegen, um herauszufinden, wer dieser Vampir war, denn sie wusste es bereits. Sein Blut floss jetzt in ihren Adern, und sie liebte ihn von ganzem Herzen. Nachdem er sie verwandelt hatte, liebte sie ihn mit einer Inbrunst, die noch stärker war als Liebe. Selbst aus dieser großen Entfernung spürte sie, dass die einsame Gestalt, die vor dem Turmzimmer auf- und abging, Caleb war.

Bei seinem Anblick schlug ihr Herz sofort schneller. Er war da. Er war wirklich da und wartete vor ihrem Zimmer. Die ganze Zeit hatte er gewartet, während sie sich erholt hatte.

Wie viel Zeit wohl inzwischen vergangen war? Nie war er ihr von der Seite gewichen. Trotz allem, was passiert war. Sie liebte ihn mehr, als sie sagen konnte, und nun konnten sie endlich für immer zusammenbleiben.

Er lehnte an der Mauerbrüstung und blickte auf den Fluss hinunter. Dabei wirkte er sowohl besorgt als auch traurig.

Im Sturzflug näherte Caitlin sich dem Schloss – sie wollte Caleb überraschen und mit ihren neuen Fertigkeiten beeindrucken.

Verblüfft sah Caleb auf, dann leuchtete sein Gesicht vor Freude auf.

Doch als Caitlin landen wollte, lief auf einmal etwas schief. Plötzlich verlor sie das Gleichgewicht, und ihre Koordination stimmte nicht mehr. Sie hatte das Gefühl, zu schnell zu sein, konnte ihren Fehler jedoch nicht mehr rechtzeitig korrigieren. Bei der Landung schürfte sie sich das Knie an der Mauerbrüstung auf und kam so hart auf, dass sie über den Steinboden kullerte.

»Caitlin!«, rief Caleb besorgt und lief zu ihr hinüber.

Keuchend lag sie auf dem harten Stein, während ein neuer Schmerz durch ihr Bein schoss. Aber es ging ihr gut. Wäre sie noch die alte Caitlin gewesen, hätte sie sich bestimmt sämtliche Knochen gebrochen. Doch diese neue Caitlin würde sich im Handumdrehen erholen, wahrscheinlich schon nach wenigen Minuten.

Trotzdem war ihr der Vorfall sehr peinlich, denn eigentlich hatte sie Caleb überraschen und beeindrucken wollen. Jetzt stand sie da wie eine Idiotin.

»Caitlin?«, wiederholte er. Inzwischen kniete er neben ihr und hatte ihr eine Hand auf die Schulter gelegt. »Alles in Ordnung?«

Mit einem verlegenen Grinsen erwiderte sie seinen Blick.

»Ich wollte dich beeindrucken«, antwortete sie und kam sich ziemlich blöd vor.

Er strich mit der Hand über ihr Bein und untersuchte ihre Verletzung.

»Ich bin kein Mensch mehr!«, schnauzte sie ihn an. »Du musst dir keine Sorgen mehr um mich machen.«

Sofort bereute sie ihre Worte und ihren Ton. Es hatte wie ein Vorwurf geklungen, fast so, als würde sie es bereuen, dass er sie verwandelt hatte. Und ihr Ton hatte sich gegen ihren Willen ziemlich harsch angehört. Dabei liebte sie doch seine Berührung, liebte die Tatsache, dass er sie immer noch beschützen wollte. Eigentlich hatte sie sich bei ihm bedanken wollen, aber jetzt hatte sie es – wie so oft – vermasselt und genau das Falsche zum falschen Zeitpunkt gesagt.

Was für ein furchtbarer erster Eindruck als neue Caitlin! Offensichtlich konnte sie ihren Mund immer noch nicht halten. Manche Dinge änderten sich eben nie, nicht einmal, wenn man unsterblich war.

 

Als sie sich aufsetzte, um ihm die Hand auf die Schulter zu legen und sich zu entschuldigen, hörte sie plötzlich ein Jaulen und spürte etwas Pelziges im Gesicht. Sie lehnte sich zurück und erkannte schnell, was das war.

Rose, ihr Wolfswelpe. Begeistert stürzte das Tier sich in Caitlins Arme und jaulte aufregt. Dabei leckte es ihr das ganze Gesicht ab. Caitlin musste lachen und umarmte den kleinen Wolf, bevor sie ihn genauer betrachtete.

Zwar war Rose immer noch ein Welpe, aber sie war gewachsen und schon größer, als Caitlin sie in Erinnerung hatte. Plötzlich erinnerte sie sich, dass sie Rose zuletzt in der King’s Chapel gesehen hatte, wo sie blutend am Boden lag, nachdem Samantha auf sie geschossen hatte. Sie war sich so sicher gewesen, dass der Welpe tot war.

»Sie ist durchgekommen«, erklärte Caleb, der wie immer ihre Gedanken gelesen hatte. »Sie ist zäh, genau wie ihr Frauchen«, fügte er lächelnd hinzu.

Caleb musste die ganze Zeit auf sie beide aufgepasst haben.

»Wie lange habe ich geschlafen?«, wollte Caitlin wissen.

»Eine Woche lang«, antwortete Caleb.

Eine Woche lang, dachte Caitlin. Unglaublich.

Sie fühlte sich, als hätte sie jahrelang geschlafen, als wäre sie gestorben und wieder zum Leben erwacht, aber in einer neuen Form. Irgendwie war sie wie reingewaschen, so, als würde sie ein Leben als unbeschriebenes Blatt beginnen.

Doch als ihr die ganzen Ereignisse wieder einfielen, begriff sie, dass eine Woche tatsächlich eine Ewigkeit sein konnte. Das Schwert war gestohlen worden. Und ihr Bruder Sam war entführt worden. Eine ganze Woche war bereits verstrichen. Warum hatte Caleb die Täter nicht verfolgt, wo doch jede Minute zählte?

Als Caleb sich erhob, stand Caitlin ebenfalls auf. Sie standen sich gegenüber und sahen sich in die Augen. Ihr Herz schlug heftig, aber sie wusste nicht, was sie tun sollte. Was verlangten die Regeln, nachdem sie nun beide echte Vampire waren? Er war derjenige, der sie verwandelt hatte. Waren sie jetzt ein Paar? Liebte er sie noch genauso sehr wie vorher? Würden sie jetzt für immer zusammen sein?

In gewisser Weise war sie nervöser als je zuvor, zumal auch mehr als je zuvor auf dem Spiel stand.

Langsam streckte sie die Hand aus und berührte seine Wange.

Er erwiderte ihren Blick, und seine Augen strahlten im Mondlicht.

»Danke«, sagte sie leise.

Eigentlich hatte sie sagen wollen: Ich liebe dich, aber es war anders gekommen. Sie hatte ihn fragen wollen: Wirst du für immer bei mir sein? Liebst du mich noch? Doch trotz ihrer neuen Fähigkeiten hatte sie nicht den Mut, es auszusprechen. Sie hätte wenigstens sagen können: Danke, dass du mich gerettet hast, oder: Danke, dass du auf mich aufgepasst hast, oder: Danke, dass du hier bist. Schließlich wusste sie, wie viel er aufgegeben hatte, um hier zu sein, wie viel er geopfert hatte. Aber alles, was sie zustande brachte, war ein einfaches Danke.

Jetzt lächelte er, hob eine Hand, schob ihr die Haare zurück und strich sie ihr hinters Ohr. Dann streichelte er mit dem Handrücken ganz zart ihr Gesicht und musterte sie aufmerksam.

Sie fragte sich, was er wohl denken mochte. Würde er ihr gleich ewige Liebe versprechen? Würde er sie küssen?

Sie ahnte, dass er genau das tun wollte, und bekam auf einmal Angst. Sie fürchtete sich vor ihrem neuen Leben und fragte sich, was passieren würde, wenn die Sache mit ihnen beiden nicht funktionierte. Statt einfach den Augenblick zu genießen, musste sie hingehen und den Zauber zerstören, indem sie ihren großen Mund wieder aufriss.

»Was ist mit dem Schwert passiert?«, fragte sie.

Sein Gesichtsausdruck verwandelte sich von einer Sekunde auf die andere. Aus dem liebevollen Blick voller Leidenschaft wurde ein Ausdruck tiefer Sorge. Es war, als wäre eine dunkle Wolke über einen Sommerhimmel gezogen.

Er drehte sich um und ging einige Schritte auf die Steinbrüstung zu, blieb mit dem Rücken zu ihr stehen und sah auf den Fluss hinaus.

Was bist du nur für eine Idiotin, schalt sie sich. Warum musstest du überhaupt etwas sagen? Warum konntest du nicht einfach zulassen, dass er dich küsst?

Das Schwert war ihr wichtig, das stimmte, aber lange nicht so wichtig wie Caleb. Und doch hatte sie den Moment zerstört.

»Ich fürchte, wir haben das Schwert verloren«, erwiderte Caleb leise, ohne sich umzudrehen. »Es wurde uns gestohlen, zuerst von Samantha, dann von Kyle. Sie haben uns einfach überrumpelt. Ich hätte es vorhersehen müssen, aber ich habe nicht mit ihnen gerechnet.«

Caitlin ging zu ihm und legte ihm vorsichtig eine Hand auf die Schulter, in der Hoffnung, dass sie die Stimmung vielleicht wieder drehen konnte.

»Sind deine Leute in Ordnung?«, fragte sie.

Als er sich umdrehte, sah er noch besorgter aus als zuvor.

»Nein«, erwiderte er. »Mein Clan ist in großer Gefahr. Und mit jeder Minute, die ich nicht da bin, wächst die Gefahr.«

Caitlin dachte nach.

»Warum bist du dann nicht zu ihnen gegangen?«, wollte sie schließlich wissen.

Doch sie kannte die Antwort schon, bevor er sie aussprach.

»Ich konnte dich nicht allein lassen«, sagte er. »Ich musste einfach wissen, ob es dir gut geht.«

Ist das alles?, dachte Caitlin enttäuscht. Wollte er nur sichergehen, dass es ihr gut ging? Und dann würde er einfach gehen?

Caitlin wusste, was er für sie geopfert hatte, und sie liebte ihn dafür. Trotzdem fragte sie sich jetzt, ob er sich nur um ihr körperliches Wohlbefinden sorgte und es ihm gar nicht um sie beide als Paar ging.

»Nun …«, begann sie zögernd, »dann wirst du also nun einfach gehen … da du jetzt ja weißt, dass es mir gut geht?«

Erneut hörte sie sich viel zu schroff an. Was war los mit ihr? Warum konnte sie nicht netter und sanfter sein, so wie er? Dabei meinte sie es doch gar nicht so. Eigentlich wollte sie doch bloß sagen: Bitte, lass mich nicht allein.

»Caitlin«, sagte er sanft, »ich möchte, dass du mich richtig verstehst. Meine Familie, mein Volk, mein Clan – sie sind in großer Gefahr. Das Schwert ist irgendwo da draußen, und es ist in die falschen Hände geraten. Ich muss zurück zu meinen Leuten, ich muss sie retten. Um ehrlich zu sein, ich hätte schon vor einer Woche aufbrechen sollen … und nachdem ich mich jetzt vergewissert habe, dass du dich gut erholt hast … Na ja, ich will dich nicht verlassen. Aber ich muss meiner Familie helfen.«

»Ich könnte mit dir kommen«, schlug Caitlin hoffnungsvoll vor. »Ich könnte dir helfen.«

»Du bist noch nicht vollständig erholt«, erwiderte er. »Diese Bruchlandung eben war kein Unfall. Es dauert eine Weile, bis Vampire ihre Kräfte vollständig erlangt haben. Und in deinem Fall kommt noch hinzu, dass das Schwert dir eine furchtbare Verletzung zugefügt hat. Die Heilung kann viele Tage oder sogar Wochen dauern. Wenn du mitkommen würdest, könntest du dich verletzen. Ein Schlachtfeld ist momentan nicht der richtige Ort für dich. Aber hier kannst du ausgebildet und unterrichtet werden, deshalb habe ich dich hergebracht.«

Caleb drehte sich um und überquerte die Terrasse, um mit ihr zusammen hinunter in den Hof zu blicken.

Tief unten sahen sie Dutzende Vampire, die im Licht der Fackeln trainierten, mit Schwertern kämpften und Ringkämpfe ausfochten.

»Auf dieser kleinen Insel lebt einer der besten Clans«, erklärte er. »Sie haben zugestimmt, dich aufzunehmen. Sie werden dich unterrichten. Sie werden dich ausbilden. Sie werden dich stärker machen. Und dann, wenn deine Kräfte vollständig entwickelt sind, wenn du vollständig geheilt bist, wird es mir eine Ehre sein, mit dir an meiner Seite zu kämpfen. Doch bis dahin kann ich dich leider nicht mitnehmen. Der Krieg, der vor der Tür steht, wird außerordentlich gefährlich sein. Selbst für einen Vampir.«

Caitlin runzelte die Stirn – sie hatte befürchtet, dass er so etwas sagen würde.

»Aber was ist, falls du nicht zurückkommst?«, fragte sie.

»Wenn ich überlebe, kehre ich zu dir zurück, das verspreche ich dir.«

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