Die Kugel von Kandra

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Schweigend blickten sie aus dem Fenster. Der Zug fuhr gemächlich durch die Landschaft und wiegte sie sanft hin und her.

Irgendwann kam die historische Altstadt von Boston in Sicht. Sie war bezaubernd, wie in einem alten Film. Oliver war aufgeregt. Er wusste zwar nicht, was passieren würde, wenn er seine richtigen Eltern gefunden hatte, aber er konnte es kaum erwarten, sie endlich zu treffen.

„Nächste Haltestelle: Boston“, kündigte eine Männerstimme über Lautsprecher an.

KAPITEL SIEBEN

Als der Zug in den Bahnhof einfuhr, klopfte Olivers Herz bis zum Hals. Die Familie Blue war nie mit ihm verreist, und war es für ihn besonders aufregend, in Boston zu sein.

Sie stiegen aus dem Zug und gingen in den geschäftigen Bahnhof. Dort war es großartig! In der Halle standen Marmorsäulen und Skulpturen. Menschen in Geschäftsanzügen eilten umher und sprachen lautstark in ihre Handys. Oliver war überwältigt

„Von hier aus sind es etwa zwei Meilen zur Harvard Universität“, sagte er. „Wir müssen nach Norden gehen und den Fluss kreuzen.“

„Sagt das dein Kompass?“, fragte Esther.

Oliver lachte und schüttelte den Kopf. Dann zeigte er auf einen großen Stadtplan, der an der Wand hing. Alle wichtigen Sehenswürdigkeiten waren darauf verzeichnet, auch die Harvard-Universität.

„Ach so“, lachte Esther.

Als sie den Bahnhof verließen, wirbelte ein kühler Herbstwind ein paar Blätter über den Gehsteig. Der Himmel glänzte golden.

Langsam gingen sie in Richtung Cambridge.

„Es sieht hier ganz anders aus als zu meiner Zeit“, sagte Esther.

„Wirklich?“, fragte Oliver erstaunt. Esther kam aus den 70er Jahren, so viel wusste er.

„Ja, mehr Autos und mehr Menschen. Aber die Studenten sehen noch genauso aus.“ Sie grinste. „Brauner Cord kommt wohl nie aus der Mode.“

Umso näher sie der Universität kamen, desto mehr junge Leute kamen ihnen mit dicken Büchern unter dem Arm entgegen.

Es erinnerte Oliver an die Schule für Seher, wo die Kinder auch immer mit ernsten, fleißigen Mienen zu ihrem nächsten Ziel eilten.

„Ich vermisse die Schule. Glaubst du, unseren Freunden geht es gut?“, fragte er.

Er sah Hazel, Walter und Simon vor sich. Doch am meisten vermisste er Ralph. Ralph Black war für ihn der erste Mensch in seinem Leben, den er als besten Freund ansah.

„Ich bin sicher, es geht ihnen gut“, entgegnete Esther. „Sie haben bestimmt viel zu tun. Dr. Ziblatt hatte gerade mit Astralprojektion begonnen, als ich abgehauen bin.“

„Astralprojektion?“, fragte Oliver mit großen Augen. „Das hätte ich gerne mitgemacht!“

„Ich auch.“

Oliver hörte einen Hauch von Melancholie in ihrer Stimme. Wieder fragte er sich, was Esther dazu bewogen hatte, ihm zu folgen. Er hatte das Gefühl, dass sie ihm nicht alles erzählte.

Sie erreichten eine Brücke, die über den Charles River führte. Sie war voll mit Studenten. Im Wasser darunter konnten sie Ruderboote, Kanus und Kajaks sehen. Es schien ein sehr lebendiger Ort zu sein.

Sie gingen über die Brücke.

„Hat sich dein Kompass schon verändert?“, fragte Esther neugierig.

Oliver warf einen Blick darauf. „Nein, er zeigt immer noch die gleichen Symbole an.“

Esther streckte die Hand aus und Oliver legte ihr den Kompass in die Hand. Fasziniert sah sie ihn an. „Ich frage mich, wo er herkommt. Merkwürdig, dass Armando nicht mehr über ihn sagen konnte. Er ist doch schließlich Wissenschaftler.“

„Ich glaube, dass er von Sehern gebaut wurde“, sagte Oliver. „Ich meine, nur das Universum kennt die Zeitachsen und kann darauf reagieren.“

Esther gab ihn zurück und Oliver steckte ihn ein.

„Vielleicht kann Professor Nightingale mehr dazu sagen. Glaubst du wirklich, dass er ein Seher ist?“

Oliver nickte. Er freute sich schon darauf, ihn zu treffen und zu hören, was er Oliver zu sagen hatte.

„Glaubst du, er weiß etwas über deine Eltern?“, fragte Esther.

Oliver spürte einen Kloß im Hals. Schnell schluckte er ihn hinunter. „Ich will mir keine falschen Hoffnungen machen, aber die Zeichen haben mich hierher geführt. Ich bin optimistisch, dass er etwas weiß.“

Esther grinste. „Sehr gut.“

Sie erreichten das Ende der Brücke und gingen auf der Hauptstraße weiter. Der Verkehr war hier sehr stark, also nahmen sie eine der vielen kleinen Alleen, die parallel dazu verliefen.

Doch schon nach ein paar Schritten bemerkte Oliver eine Gruppe von Jungen, die um ein paar Jahre älter waren als er und Esther. Sie standen im Schatten zwischen den Bäumen herum, als würden sie jemandem auflauern. Sofort spürte er Gefahr.

Als sie sich der Gruppe näherten, sahen die Jungs plötzlich auf und fixierten die beiden. Sie fingen an, tuschelten aufgeregt und schubsten sich gegenseitig. Es ging ganz eindeutig um Oliver und Esther. Ihre hinterhältigen Blicke machten es offensichtlich, dass sie ihnen nicht freundlich gesinnt waren.

„Sieht nach Ärger aus“, sagte Esther leise.

Oliver dachte daran, wie er mit den Fieslingen an der Campbell Junior High fertig geworden war. Früher hätte er versucht, ihnen aus dem Weg zu gehen, aber jetzt trat er ihnen selbstbewusst entgegen. Esther war hingegen nicht so selbstsicher. Sie ging jetzt ganz nahe an seiner Seite.

„Schicker Overall“, spottete einer der Jungen.

Die anderen lachten.

„Was bist du denn? Ein Schornsteinfeger oder sowas?“, sagte ein anderer.

Oliver sah sie nicht an. Er ging etwas schneller und Esther tat es ihm gleich.

„Hey!“, rief der erste. „Ich rede mit dir!“

Schon umzingelten die Jungen sie. Sie waren zu fünft. Esther sah angespannt aus.

„Bitte nicht kämpfen, mein Schild ist zu schwach gegen sie alle“, flüsterte sie Oliver zu.

Doch Oliver blieb ganz ruhig. Er wusste, wie stark Esther sein konnte, wenn es darauf ankam. Und zusammen konnte ihnen niemand etwas anhaben. Jedenfalls kein normaler Mensch.

„Entschuldigt bitte, aber wir müssen weiter“, sagte Oliver ganz gelassen.

Der größte von ihnen, scheinbar der Anführer, stellte sich mit gekreuzten Armen vor ihn. „Du gehst nirgends hin, bis du deine Taschen geleert hast.“ Er streckte die Hand aus. „Handy und Geldbeutel, bitte sehr.“

Oliver zeigte sich unbeeindruckt. „Habe ich nicht. Weder das eine, noch das andere. Und selbst wenn, würde ich es dir bestimmt nicht geben.“

„Bitte nicht, Oliver“, flüsterte Esther noch einmal.

Der große Junge lachte schallend. „Ach so ist das! Ich soll es mir selbst nehmen!“

Als er Oliver packen wollte, hob dieser abwehrend die Hand.

„Das würde ich nicht tun“, sagte er.

Wieder lachte der große Junge und holte aus.

Sofort erzeugte Esther einen Schild. Der Junge prallte dagegen. Verwirrt versuchte er es noch einmal, aber die Schutzhülle war so stark wie kugelsicheres Glas.

„Worauf wartest du, Larry? Schnapp‘ dir das Großmaul!“, rief ein anderer Junge.

„Ich… ich kann nicht“, stammelte Larry. „Das ist irgendwas im Weg.“

„Was für ein Quatsch!“, rief wieder ein anderer.

Er ging selbst auf die beiden zu, doch auch er prallte gegen die Barriere und stöhnte auf.

Oliver blickte zu Esther. Sie leistete wunderbare Arbeit, aber Oliver sah ihr an, wie sehr es sie anstrengte, den Schild aufrecht zu erhalten. Er musste ihr helfen.

Schnell schloss er die Augen und stellte sich vor, wie ein kräftiger Wind durch das Laub fuhr und kleine Tornados bildete. Dann öffnete er die Augen und ließ seine Kräfte wirken.

Sofort stiegen die Blätter tanzend in die Höhe. Oliver kreierte fünf dieser kleinen Wirbelstürme, für jeden Jungen einen.

„Was geht hier vor?“, rief Larry, dessen halblanges Haar im Wind flatterte.

Oliver konzentrierte sich darauf, die Tornados immer stärker werden zu lassen. Schon waren die Jungen in wahren Gefängnissen aus wirbelndem Laub, wie in einem Bienenschwarm. Sie schlugen um sich und versuchten auszubrechen, doch die Tornados waren zu stark.

Panisch drehten sie sich um und versuchten zu flüchten. Sie stürzten dabei mehr als einmal.

Oliver nahm Esthers Hand. Sie kicherte.

„Komm, wir gehen weiter.“

KAPITEL ACHT

Harvard sah schon aus der Ferne wunderschön aus. Die Architektur war beeindruckend. Rote Backsteingebäude mit Türmen und großen Rasenflächen, zwischen denen immer wieder kleine Cafés, Kneipen und Buchläden zu sehen waren.

„Wie sollen wir Professor Nightingale finden?“, fragte Esther. „Diese Uni ist riesig!“

Oliver zog das Buch aus der Tasche, das Mrs. Belfry ihm gegeben hatte. Er blätterte zu den Angaben über den Professor und las laut vor:

Professor H. Nightingale forscht und unterrichtet am Institut für Physik in Harvard. Im Wissenschaftlichen Zentrum ist er bekannt für die Experimente, die er größtenteils im historischen Farnworth-Labor mit einem kleinen Team herausragender Doktoranden durchführt.“

Esther zeigte auf ein Gebäude jenseits der großen Rasenflächen. „Da drüben steht Wissenschaftliches Zentrum.“

 

Oliver steckte das Buch wieder ein. Zielstrebig gingen sie über den Rasen auf das Gebäude zu. Am Eingang stand ein Wachposten.

„Besucherausweis?“, fragte er brüsk und streckte die Hand aus.

„Besucherausweis?“, wiederholte Oliver. Er klopfte seine Taschen ab. „Hmm… Mal sehen… Wo habe ich den denn nur?“

„Hier!“, sagte Esther plötzlich.

Oliver staunte, als sie etwas, das wie ein Besucherpass aussah, aus ihrer Tasche zog. Wie hatte sie das gemacht? War sie mit ihren Kräfte imstande, einen anderen Gegenstand zu verwandeln? Er hoffte, dass es den Wachposten überzeugen würde.

Doch der warf nur einen kurzen Blick darauf, bevor er ihn Esther zurückgab. „Einen echten bitte, junge Dame.“ Er klang gelangweilt. Wahrscheinlich waren sie nicht die ersten Besucher, die versuchten, unangemeldet an ihm vorbeizukommen. „Mit dem Ding kommt ihr nicht weiter.“

Oliver zerbrach sich den Kopf. Wenn sie keinen falschen Ausweis machen konnten, musste er sich etwas anderes einfallen lassen.

Er sah sich um. Sein Blick fiel auf eine Metalltonne neben dem Eingang. Rasch ließ er Rauch daraus aufsteigen.

„Oh nein! Sehen Sie mal! Der Mülleimer brennt!“, rief er.

Sofort rannte der Wachmann hinüber. Esther und Oliver grinsten sich an und huschten eilig ins Gebäude.

„Das war schlau!“, lobte Esther ihn, als sie den Gang entlangrannten.

Das Gebäude war wie ein Labyrinth. Es erinnerte Oliver an die Fabrik, nur dass es hier nach verschiedenen Chemikalien roch.

Sie kamen zu einem Schild, das ihnen anzeigte, auf welcher Etage welche Fachrichtung zu finden war.

„Institut für Physik! Ganz oben“, sagte Oliver.

Schnell stiegen sie die Treppen hinauf. Oben angekommen folgten sie einem langen Gang. An jeder Tür prangte ein kleines Goldschild, das den Namen des jeweiligen Wissenschaftlers verkündete. Sie brauchten nicht lange, bis sie die richtige Tür gefunden hatten.

„Hier ist es!“, rief Esther.

Oliver kam zu ihr. Professor H. Nightingale. Sein Herz schlug schneller. Würde er hier eine Antwort finden?

Oliver atmete tief durch. Dann klopfte er laut an.

Nichts. Er versuchte es noch einmal.

Stille. Ratlos blickte er zu Esther. Sie zuckte mit den Schultern und drückte beherzt auf die Türklinke.

„Es ist offen“, sagte sie überrascht.

Sie öffnete die Tür und stieß sie weit auf. Der Raum war vollkommen leer.

Oliver seufzte. „Oh nein. Wir kommen zu spät! Er ist nicht mehr hier.

Seine Arme und Beine fühlten sich plötzlich an wie Blei. Er war enttäuscht.

„Keine Sorge, wir finden ihn bestimmt“, sagte Esther.

Hinter ihnen kam jemand den Gang entlang. Esther drehte sich um. Es war offenbar ein anderer Professor.

„Entschuldigen Sie, wissen Sie vielleicht, wo wir Professor Nightingale finden können?“

Er sah die Kinder kurz an und hob die Augenbrauen. „Nightingale? Keine Ahnung. Der arbeitet schon seit ein paar Jahren nicht mehr hier.“

KAPITEL NEUN

Oliver und Esther sahen sich verwirrt an.

„Er arbeitet nicht mehr hier?“ Oliver hätte heulen können. „Wir werden ihn nie finden!“

Doch Esther schüttelte den Kopf. „So schnell geben wir nicht auf. Komm!“

Esther führte ihn aus dem Gebäude und über den Rasen. Sie ging direkt in eines der Cafés und sah sich um. Ein paar Computer standen im hinteren Raum bereit. Entschlossen ging sie darauf zu und setzte sich.

„Ähm… Esther, ich glaube, wir müssen etwas kaufen. Wir können nicht einfach hereinkommen und umsonst den Computer benutzen.“

„Okay, einverstanden. Ein Schokoladen-Brownie wäre gut.“ Sie zog den Stuhl näher an den Tisch und grinste ihn an. „Sehr nett von dir, danke.“

Oliver ging zur Theke und zählte das bisschen Kleingeld, das er in der Tasche hatte. Er kaufte einen Brownie, den sie sich teilen konnten. Als er wieder zurückkam, durchforstete Esther bereits eine Webseite, auf der die Einwohner der Stadt gelistet waren.

„N…Night…Nightin…Hier! Nightingale!“ Sie grinste. „Es gibt nur einen in Cambridge. Das muss er sein!“

Schnell schrieb sie die Adresse auf. „Ich habe doch gesagt, dass wir ihn finden.“

Damit stand sie auf und nahm den Brownie vom Teller. Als Esther bereits zur Tür ging, starrte Oliver immer noch beeindruckt auf den Bildschirm.

„Oliver! Komm schon!“, rief Esther.

Er schüttelte den Kopf und folgte ihr.

*

Die Adresse, die Esther gefunden hatte, führte sie zu einer idyllischen Seitenstraße neben einer hübschen Parkanlage. Die Straßen bestanden aus Kopfsteinpflaster und die Häuser sahen viktorianisch aus, wie kleine Villen aus einer anderen Epoche. Bald fanden sie die richtige Hausnummer. Das Haus hatte wie die anderen in der Straße eine Fassade aus Stein und eine bunte Holztür. Die Farbe blätterte bereits stellenweise ab und ein dicker Rosenbusch wuchs direkt neben der Tür. Zwischen den Dornenzweigen entdeckten sie ein verblichenes Schild.

Professor H. Nightingale.

Oliver sah Esther zufrieden an.

Dann klopfte er.

Eine gedämpfte Stimme meldete sich. „Ich komme!“

Nervös blickte Oliver zu Esther, die ihm ermutigend zunickte.

Das Schloss klickte und die Tür öffnete sich knarrend.

Eine kleine Figur erschien. Der Professor war sehr alt. Er hatte einen langen, weißen Bart und trug eine braune Cordweste. Obwohl ein grauer Schleier auf seinen Augen lag, wirkte er hellwach.

„Ja bitte?“, fragte er mit rauer Stimme.

Oliver räusperte sich. „Guten Tag, mein Name ist Oliver Blue und das hier ist meine Freundin Esther. Wir würden Ihnen gerne ein paar Fragen stellen, Mr. Nightingale.“

„Fragen? Bitte nicht schon wieder so eine Volksbefragung. Davon habe ich langsam genug.“

Er wollte schon die Tür schließen, als Oliver die Hand ausstreckte. Als er sprach, klang seine Stimme weit selbstbewusster, als ihm zumute war.

„Kein Umfrage, Professor. Ich bin auf der Suche nach jemandem. Ich suche meine Eltern.“ Oliver atmete tief durch, um seine Nerven zu beruhigen. „Ich habe Grund zu der Annahme, dass Sie sie kennen.“

Der Mann fixierte Olivers Gesicht. Die Art, wie er die Augen zusammenpresste, verriet Oliver, dass er nicht mehr allzu gut sehen konnte.

„Deine Eltern? Und was bringt dich zu der Annahme, dass ich dir dabei helfen kann?“

„Ich bin ein Seher“, platzte es aus Oliver heraus.

Der alte Mann schwieg einen Moment. „Ein Seher?... So so…“

„Wir beide“, fügte Esther hinzu.

„Ihr beide, ja…?“ Er sah von einem zum anderen.

Sie nickten.

Der Professor nestelte an seiner Armbanduhr herum. Als er sie schließlich gelöst hatte, drehte er sie um und legte sie Oliver in die Hand. Auf der Rückseite war ein Ring mit drei Augen eingraviert.

Das Symbol der Schule für Seher.

„Dann kommt mal herein. Ich bin sicher, wie haben einiges zu besprechen.“

KAPITEL ZEHN

Im Haus des Professors war es düster. Die Vorhänge waren zugezogen und es brannte kein Licht. Oliver vermutete, dass jemand, der fast nichts mehr sehen konnte, auch kein Licht brauchte.

Sie folgten ihm ins Wohnzimmer und Oliver setzte sich auf einen Sessel. Professor Nightingale entschuldigte sich kurz und kam nach ein paar Minuten mit einer etwas schmutzigen Teekanne und drei abgegriffenen Tassen zurück.

Esther sprang auf und half ihm, das Tablett sicher auf dem Tisch abzustellen.

„Soll ich die Vorhänge aufmachen?“, fragte sie dann, als der alte Mann Platz genommen hatte.

„Wenn du möchtest. Percy wird das aber nicht gefallen.“

Wer ist Percy?, fragte sich Oliver.

Esther ging zu den Fenstern und zog die Vorhänge auf. Sofort fiel das Licht herein und beleuchtete die Staubwolken, die sie aufgewirbelt hatte.

„Zu hell!“, schrie eine schrille Stimme. „Zu hell!“

Oliver fuhr zusammen und drehte sich um. In einer Ecke des Wohnzimmers stand ein großer Käfig mit einem Papagei, der hin und her hüpfte und wütend mit seinen bunten Flügeln schlug.

„Entschuldige bitte, Percy“, sagte Esther besänftigend. „Ich werde sie wieder schließen, wenn wir gehen, das verspreche ich dir.“

Dann warf sie dem Papagei eine Kusshand zu, was ihn zu beruhigen schien. Das Tier begann sich zu putzen.

„Ich habe Percy auf einer meiner Missionen vor einem Feuer gerettet“, erzählte der alte Mann. „Ich sollte eine Zeitschleife schließen, in London. 1666. Es war ein wahnsinnig heißer Sommer.“

Oliver hörte aufmerksam zu. Professor Nightingale erzählte und schenkte dabei jedem eine Tasse Tee ein.

„Ihr beide geht auf die Schule für Seher von Professor Amethyst, nehme ich an?“, fragte er dann und nippte an seiner Tasse.

Oliver spürte ein Stechen in der Brust. Instinktiv wanderte seine Hand zu dem Amulett, aber es war wie immer kalt.

„Wir haben die Schule verlassen um meine leiblichen Eltern zu finden“, erklärte Oliver.

„Ach so, ja, deine Eltern“, murmelte der Professor und nahm noch einen Schluck Tee. „Nun erklär mir doch, warum denkst du, dass ich dir weiterhelfen kann?“

Oliver lehnte sich nach vorne. „Das ist nicht leicht zu erklären. Mein Kompass hat mich hierher gebracht. Auch wenn es kein normaler Kompass ist.“

„Ein Kompass?“

„Zeig ihn ihm“, sagte Esther.

Oliver griff in seine Tasche.

„Haben Sie so etwas schon einmal gesehen, Professor Nightingale?“

Er legte den Kompass vorsichtig in die Hand des alten Mannes. Der hielt ihn dicht unter seine Augen und blinzelte.

„Oh ja. Ja, ja. So einen habe ich schon gesehen.“

Er klang nicht besonders beeindruckt. Oliver war verwundert.

„Was genau zeigt er eigentlich an?“

Professor Nightingale lächelte. „Dieser Kompass ist nur eine von zahlreichen Kleinigkeiten, die die Seher im Laufe der Jahrhunderte erfunden haben. Er soll dir bei deinen Entscheidungen helfen und dir die Zukunft zeigen.“

Die Zukunft zeigen? Oliver war erstaunt.

Er hatte eher den Eindruck, dass die Symbole ihn auf den richtigen Weg führen sollten. Oder zeigten sie im wirklich, was ihn als nächstes erwartete? Bedeutete das, dass er bald seine Eltern finden würde? Er spürte die Hoffnung in sich glühen.

Dann bemerkte er, wie Esther ihn grinsend beobachtete.

„Diese Symbole sind zu klein für meine Augen“, sagte der Professor. „Was zeigen sie an?“

Oliver lehnte sich zu ihm. „Also ein Pfeil zeigt auf einen Vogel, der für Sie steht, Professor. Zumindest glaube ich das. Der Hut steht für Harvard und das Eichenblatt für Boston.“ Dann deutete er auf das Paar, das ihm der Kompass von Anfang an angezeigt hatte. „Das hier sind glaube ich meine Eltern.“

Professor Nightingale sah sich die Symbole lange an. Dann lehnte er sich zurück und schüttelte den Kopf. „Das Symbol ist nicht das, wofür du es hältst.“

Er tippte auf den Mann und die Frau.

Oliver zog die Augenbrauen hoch. „Ist es nicht?“

Der Alte schüttelte den Kopf. „Nein. Sieh es dir genau an. Es muss ein Symbol geben, das besser auf Eltern zutreffen würde. Eine Figur mit einem kleinen Kind.“

Oliver suchte die Symbole ab, bis er das fand, das der Professor beschrieben hatte. Es war ihm bisher noch gar nicht aufgefallen, aber es sah in der Tat mehr nach Eltern aus, als der Mann und die Frau, die sich an den Händen hielten.

„Es ist nicht leicht, die Symbolik richtig zu interpretieren. Sie verleitet einen dazu, das zu sehen, was man sehen will.“ Er strich über den Kompass. „Ich glaube auch nicht, dass die beiden ein Mann und eine Frau sind, sondern ein Junge und ein Mädchen. Es könnte für die Freundschaft stehen oder für Weggefährten. Vielleicht sogar für die erste große Liebe.“

 

Sofort wurde Oliver bewusst, was das Symbol bedeutete. Esther. Die ganze Zeit hatte der Kompass ihm lediglich angezeigt, dass er auf seiner Reise nicht alleine war.

Er sah zu ihr hinüber. Esther hatte den Blick gesenkt und trank langsam von ihrem Tee. Sie hatte ebenso begriffen, dass das Symbol für ihn und sie stand und vielleicht für ihre Liebe. Olivers Wangen wurden warm.

Professor Nightingale gab Oliver den Kompass zurück. Der schob ihn wieder in seine Tasche. Er war vollkommen durcheinander. Der Kompass hatte ihn nicht zu seinen Eltern geführt, sondern sein Schicksal gezeigt. Im Prinzip war er jetzt völlig verloren. Er versuchte, der Verzweiflung nicht nachzugeben, die sich in ihm auszubreiten drohte. Er war schließlich den Hinweisen des Universums gefolgt und sie hatten ihn zu Professor Nightingale geführt. Es war noch nicht alles verloren.

„Dennoch frage ich mich, warum wir zu ihnen geführt wurden. Vielleicht kennen Sie meine Eltern ja doch.“

„Wie heißen sie denn?“, fragte der Professor.

Oliver stutzte. Er wusste es nicht. Alles, was er wusste, war dass sie ihn aufgegeben hatten.

„Keine Ahnung“, murmelte er enttäuscht.

Esther, die ihm seine Niedergeschlagenheit ansah, meldete sich zu Wort. „Wir wissen, dass sie vor elf Jahren einen Sohn bekommen haben, den sie aufgeben mussten. Oliver.“

„Oliver…“ Professor Nightingale wiederholte den Namen. „Vielleicht kann ich euch doch weiterhelfen.“

Sofort erhellte sich Olivers Miene wieder. Er musste einfach etwas wissen!

„Ich hatte damals zwei außergewöhnlich begabte Studenten. Theodore Blue und Margaret Oliver. Sie waren die besten Studenten ihrer ganzen Stufe. Herausragende Wissenschaftler, brillante Erfinder. Natürlich haben sie sich sehr zueinander hingezogen gefühlt und wurden bald ein Paar. Teddy und Maggie waren ihre Spitznamen füreinander.“ Er lachte. „Ich wollte, dass sie ihrer Liebe Zeit gaben und sich zuerst auf ihre Ausbildung konzentrierten, doch sie heirateten schon in ihrem ersten gemeinsamen Sommer. Sie hat damals seinen Familiennamen angenommen, unter der Bedingung, dass ihr erstes Kind entweder Oliver oder Olivia heißen würde. Sie mussten nicht lange warten. Maggie war sehr bald guter Hoffnung.“

Oliver hörte gebannt zu. Ob das die Geschichte seiner Eltern war? Hatten sie hier an der Universität bei Professor Nightingale studiert?

Er spürte, wie Esther seine Hand drückte.

„Waren die beiden Seher?“

„Nein, das nicht. Sie waren nur einfach wahnsinnig begabte Menschen.“

„Was ist dann passiert?“

Professor Nightingale rieb sein Kinn. „Als die Geburt näher rückte, haben sie sich eine Auszeit von ihrem Studium genommen. Das muss etwa Anfang Dezember gewesen sein. Leider sind die nie zurückgekommen.“ Er machte eine Pause. Sein Gesicht sah auf einmal traurig aus. „Ich habe gehört, dass bei der Geburt etwas Schreckliches geschehen ist. Maggie und das Baby sollen dabei gestorben sein. Ich war erschüttert und wusste nicht, was ich tun sollte, also habe ich letzten Endes nur eine Beileidsbekundung an Teddy geschickt, aber der Brief kam ungeöffnet zurück.“ Jetzt sah der Professor Oliver lange und neugierig an, als hätte er ihn erst jetzt bemerkt. „Sag, Junge, glaubst du, du bist womöglich der Oliver?“

Oliver nickte langsam. „Mein voller Name ist Oliver Blue. Ja, ich glaube ich bin der Sohn von Maggie und Teddy.“ Seine Stimme war klar und deutlich. Oliver war überzeugt, dass er die Hinweise richtig gedeutet hatte und seinen echten Eltern einen bedeutenden Schritt näher gekommen war. Seine Gedanken überschlugen sich. Warum hatten sie ihn nur verlassen? Sie mussten einen guten Grund haben. Und was war an dieser Geschichte wirklich wahr? Wenn er noch lebte, dann war seine Mutter vielleicht auch noch am Leben!

„Dann bist du gar nicht gestorben…“, murmelte jetzt auch der Professor. „Heißt das, dass Maggie auch überlebt hat?“

„Ich weiß nur, dass ich zur Adoption freigegeben wurde.“ Seine Kehle war jetzt wie zugeschnürt.

„Können Sie uns vielleicht sonst noch irgendetwas sagen?“, fragte Esther.

Aber der alte Mann schüttelte den Kopf. „Leider nein. Ich bin alt, mein Gedächtnis ist nicht mehr das, was es einmal war. In einer anderen Zeitachse hätte ich euch vielleicht mehr sagen können.“ Er lachte leise.

In diesem Moment begann Percy zu krächzen. „Notizbuch! Notizbuch!“

Der Professor sprang auf. „Natürlich!“ Er ging geradewegs zu einem seiner überfüllten Bücherregale und suchte nach etwas.

Oliver sah Esther fragend an. Sie machte ein neugieriges Gesicht.

Schon kam der Professor zurück und übergab Oliver ein kleines Buch. Es sah sehr besonders und selten aus. Oliver sah es sich genauer an. Es hatte einen Einband aus altem Leder und die Einträge waren mit Hand geschrieben. Die Tinte verblasste bereits stellenweise.

„Das hier, junger Mann, gehörte deinem Vater.“

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