Kirchliches Begräbnis trotz Euthanasie?

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Из серии: Erfurter Theologische Studien #113
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124 EV 65.

125 Vgl. „La pietà suscitata dal dolore e dalla sofferenza verso malati terminali, bambini anormali, malati mentali, anzianti, persone affette da mali inguaribili, non autorizza nessuna eutanasia diretta, attiva o passiva.“ [Pontificio Consiglio della Pastorale per gli Operatori Sanitari, Carta, Nr. 147.]

126 Angelini, Vorwort, 6.

127 Charta 147.

128 Vgl. IB 4; EV 65.

129 Vgl. Pius PP. XII., Allocutio Adstantibus multis honorabilibus Viris ac praeclaris Medicis et Studiosis, quorum plerique Nosocomiis praesunt vel in magnis Lyceis docent, qui Romam convenerant invitatu et arcessitu Instituti Genetici „Gregorio Mendel“, Summus Pontifex propositis quaesitis de „reanimatione“ respondit (24.11.1957), in: AAS 49 (1957) 1027-1033, 1031-1032. Dt. Übersetzung: A.-F. Utz/J.-F. Groner (Hg.), Aufbau und Entfaltung des gesellschaftlichen Lebens. Soziale Summe Pius XII. Bd. III, Freiburg/Schweiz 1961, Nrn. 5538-5554, Nr. 5544. (Im Folgenden wird bei erstmaliger Nennung die vollständige Literaturangabe mit Abschnittsnummer und im weiteren Verlauf unter Verwendung der Initialen UG und Angabe der Abschnittsnummer zitiert.) Als Synonyme für übliche und unübliche therapeutische Mittel sind die Unterscheidungen in gewöhnliche und ungewöhnliche sowie in ordentliche und außerordentliche zu sehen. Einen ausführlichen Überblick über die Begriffsgenese bietet Bender, Verhältnismäßigkeit, 33-57.

130 Vgl. IB 4.

131 Vgl. Conseil Pontifical Cor Unum, Document Dans le cadre, Nr. 1248.

132 Vgl. CÉC 2278.

133 Vgl. EV 65.

134 Vgl. Charta 120.

135 Vgl. IB 4. Zwar enthält das vom Päpstlichen Rat Cor Unum 1981 veröffentlichte Arbeitsdokument noch die Unterscheidung in Anwendung gewöhnlicher und außergewöhnlicher therapeutischer Maßnahmen. Dies ist aber darauf zurückzuführen, dass es bereits 1976 erstellt wurde. [Vgl. Conseil Pontifical Cor Unum, Document Dans le cadre, Nr. 1248.] Eventuell hat die Glaubenskongregation das Arbeitsdokument studiert und rezipiert.

136 Vgl. IB 4.

137 Vgl. ebd.

138 Vgl. EV 65. Diese terminologische Sprachänderung bezeichnete der Moraltheologe Klaus Demmer (1931-2014) als stillschweigenden Paradigmenwechsel, weil eine Verschiebung des Blickwinkels von den objektiven Kriterien hin zur subjektiv einzuschätzenden Situation des Patienten und dessen Wohl zum Ausdruck kommt. [Vgl. K. Demmer, Leben in Menschenhand. Grundlagen des bioethischen Gesprächs (SThE 23), Freiburg 1987, 146.]

139 Vgl. Charta 65, 120.

140 IB 3.

141 Vgl. IB 3.

142 Vgl. Conseil Pontifical Cor Unum, Document Dans le cadre, Nr. 1256.

143 Vgl. CÉC 2279.

144 Vgl. EV 65.

145 Vgl. Pontificio Consiglio della Pastorale per gli Operatori Sanitari, Carta, Nrn. 122-123.

146 H. Pichlmaier, Art. Palliative Therapie. 1. Zum Problemstand, in: LBE 2 (2000) 818-819, 818.

147 EV 65.

148 Ebd.

149 Vgl. ebd.

150 Vgl. KKK 2277; EV 65.

151 Vgl. Kirchenamt der Evangelischen Kirche in Deutschland / Sekretariat der Deutschen Bischofskonferenz (Hg.), Sterbebegleitung statt aktiver Sterbehilfe. Eine Sammlung kirchlicher Texte (GT 17), Bonn 22011, 9; Die deutschen Bischöfe, Menschenwürdig sterben und christlich sterben (DB 17), Bonn 1978, 3; Die deutschen Bischöfe, Das Lebensrecht des Menschen und die Euthanasie (DB 4), Bonn 1975, 7; Die österreichischen Bischöfe, Leben in Fülle. Leitlinien für katholische Einrichtungen im Dienst der Gesundheitsfürsorge (Die österreichischen Bischöfe 6), Wien 2006, 22.

152 Vgl. Vicariato di Roma, Ufficio stampa e comunicazioni sociali (22. Dezember 2006), in: http://www.radioradicale.it/il-vicariato-di-roma-sospende-i-funerali-per-welby-cerimonia-laicadomenica-mattina (Zugriff: 16.04.2016).

II. KONTEXT DER FRAGE NACH LEBENSBEENDIGUNG

Die Bitte nach einer kirchlichen Begräbnisfeier nach Vollzug von Euthanasie oder Abbruch bzw. Verzicht auf eine therapeutische Maßnahme am Lebensende wird nicht in einem kontextfreien Raum gestellt, sondern in einer ganz konkreten Situation, die durch jeweils eigene Parameter geprägt ist. Aus diesem Grund muss der Seelsorger in seinem Entscheidungsprozess bezüglich der Fragestellung der vorliegenden Studie auch mehrere Faktoren bedenken.

Der Seelsorger bedarf erstens einer grundlegenden Kenntnis des anthropologischen Kontextes des schwerkranken Verstorbenen und dessen freiheitsrelevanten Implikationen, die über eine oberflächliche Beschreibung hinausgeht. Eventuell gehen nämlich mit schwerer Krankheit nicht nur physische Schmerzen, sondern auch psychische Drucksituationen und Gefühlszustände einher, die die Freiverantwortlichkeit der Bitte um und Einwilligung in Euthanasie oder Behandlungsabbruch bzw. -verzicht am Lebensende in ein anderes Licht stellen. Hervorgerufen durch den enormen medizinischen Fortschritt seit den 1950/60er Jahren ist es den Ärzten der Gegenwart möglich, nicht nur das Leben, sondern auch das Sterben selbst hinauszuzögern, weshalb Schwerkranke bzw. Sterbende zunehmend auf eine zuvor nie dagewesene Weise mit dem Sterbeprozess selbst konfrontiert wurden. Daraus entwickelten sich vor allem in den westlichen Ländern1 sowohl auf wissenschaftlicher wie gesellschaftlich-politischer Ebene Diskussionen über die Grenzen der ärztlichen Tätigkeit im Kontext von irreversibler schwerer Krankheit und hohem Alter sowie die ethische wie rechtliche Zulässigkeit eines Eingriffes in den Sterbeprozess durch entsprechende medizinische Interventionen bei Zustimmung des Patienten.2 Diese Diskussionen wurden durch den zunehmenden Wertewandel beeinflusst, der mit der Auflösung fester Wertesysteme, dem Verlust von religiöser und kirchlicher Bindung, der Suche nach Identität und dem Sinn des Lebens sowie der Pluralisierung der Lebensformen einherging.3 Aus Sicht der Patienten sind vorwiegend Schlagwörter wie Selbstbestimmungsrecht, Patientenautonomie, Recht auf Leben, Recht auf Sterben, menschenwürdiges Sterben, Vermeidung von Schmerzen und Isolation in Krankheit und hohem Alter sowie Angst, anderen zur Last zu fallen, gegenwärtig. Ausdruck dieser auch heute noch bestehenden Auseinandersetzungen sind diverse Eingaben in die Politik, die die Bitte nach gesetzlichen Regelungen ins Wort heben. Bereits jetzt gibt es weltweit verschiedene staatliche Rechtsordnungen, mit denen die verschiedenen Formen medizinischer Handlungen am Lebensende von aktiver Lebensbeendigung bis hin zum Verbot von Suizidbeihilfe normiert werden. Sie weisen dem Patienten als medizinischen Laien heutzutage die Kompetenz zu, über Behandlungsmethoden und -abläufe zu entscheiden und zur Frage nach den, -erhaltenden oder -verlängernden Maßnahmen Stellung zu beziehen.

Der Seelsorger muss zweitens die Beurteilung einer medizinischen Handlung am Lebensende mit Blick auf eine Qualifizierung als objektive Sünde durch das kirchliche Lehramt in seinen Entscheidungsprozess einbinden. Während staatliche Gesetzgebungen über Möglichkeiten und Grenzen der medizinischen Intervention am Lebensende womöglich großen Einfluss auf den subjektiven Prozess der Gewissensbildung des Einzelnen und somit auf die subjektive, schuldhafte Zurechenbarkeit einer objektiv als Sünde deklarierten Handlung haben können, sind diese staatlichen Gesetze für den lehramtlichen normativen Maßstab über Zulässigkeit und Verurteilung entsprechender Handlungen von geringerer Relevanz. Stattdessen wird der ethische Gehalt einer vollzogenen Handlung im Licht des Gebotes der Unantastbarkeit des von Gott geschenkten menschlichen Lebens und des göttlichen Herrschaftsrechts eruiert. Aus diesem Grund stellen die lehramtlichen Aussagen über die objektive Sündhaftigkeit entsprechender medizinischer Handlungen eine entscheidende Größe für den Seelsorger in seinem Entscheidungsfindungsprozess dar.

Der dritte in der Entscheidung über ein kirchliches Begräbnis zu beachtende Aspekt ist das Objekt selbst, welches von den Angehörigen für den Verstorbenen erbeten wird: die Feier des kirchlichen Begräbnisses und dessen theologisch-ekklesiologische Bedeutung. Als Sakramentalie wirkt es in Nachahmung der Sakramente auf die Fürbitte der kirchlichen Gemeinschaft. In dem Sich-Solidarisieren der Gemeinde mit dem Verstorbenen kommt ein grundlegend ekklesialer Aspekt zum Tragen, der nicht nur Zeichen der Einheit mit dem Verstorbenen ist, sondern auch therapeutische Wirkung für die Hinterbliebenen erzielt. Hier offenbart sich ein doppelter Fokus der kirchlichen Begräbnisliturgie, der im Begraben der Verstorbenen und im Trösten der Trauernden begründet liegt. Aufgrund diverser historischer Verständniswechsel ist das derzeitige theologisch-ekklesiologische Verständnis des kirchlichen Begräbnisses zu analysieren, da seine Bedeutung für den Verstorbenen sowie die therapeutische Wirkung desselben für die Hinterbliebenen für die Rechtsanwendung von großer Relevanz sind.

3. Die Entscheidung des schwerkranken Menschen am Lebensende

Die Reflexion über Grenzen des menschlich Erträglichen im Kontext von Krankheit und Sterben und damit einhergehend über die Zulässigkeit der vorzeitigen, selbst herbeigeführten Lebensbeendigung ist keine Reaktion auf eine Entwicklung in der jüngeren Vergangenheit, wie das Aufblühen der Debatten in Wissenschaft, Politik und Gesellschaft oder die wachsende Anzahl der lehramtlichen Stellungsnahmen gegen Ende des 20. Jahrhunderts vermuten lassen. Seit Menschen Gedenken wurde über die vorzeitige Lebensbeendigung wegen schwerer Schmerzen philosophiert, vor einem Leben mit unheilbarer Krankheit kapituliert und unabhängig der zeitgenössischen Beurteilung durch Kirche und Obrigkeit das Leben vorzeitig beendet, um einem als untragbar, endlos und sinnentleert empfundenen Leid zu entfliehen.4 Der Umstand, dass der Ruf nach einem selbstbestimmten Leben und Sterben vor allem im vergangenen Jahrhundert zu einem viel diskutierten Thema wurde, das nicht selten in ein an die entsprechenden staatlichen Gesetzgeber gerichtetes Ersuchen um Legalisierung von Tötung auf Verlangen, Behandlungsabbruch bzw. -verzicht sowie Beihilfe zur Selbsttötung zur vermeintlichen Gewährleistung eines würdevollen Sterbens mündete und noch immer mündet, ist ein Spiegel und Ergebnis der stetig wachsenden medizinischen Möglichkeiten.5 Entwicklungen auf dem Gebiet der kurativen Medizin sowie mannigfaltige Erfolge in der Bekämpfung viraler Erkrankungen des Immunsystems, die zugleich mit breit gefächerten Hygiene-Präventionsprogrammen, der Umsetzung der Diätetik-Erkenntnisse, arbeitsmedizinischen Maßnahmen sowie einer entsprechenden Krankenversicherungs- und Sozialpolitik verbunden waren, bieten dem gegenwärtigen schwerkranken und sterbenden Menschen ein Umfeld an ambulanter und stationärer Versorgung, das nie sicherer und komfortabler war.6 Im Ergebnis dehnen sich die gegenwärtigen Grenzen des medizinisch Machbaren weiter aus, da Krankheiten, die früher unweigerlich zum Tode geführt hätten, beherrscht und geheilt werden.7

 

Als Begleiterscheinung ist zunächst die signifikant gestiegene Lebenserwartung zu nennen, durch die auch schwerstkranke Menschen in ungeahnter Weise mit den Folgen ihrer Krankheit und ihres fortgeschrittenen Alters konfrontiert werden.8 Ferner ist auf den in der Sache schwerwiegenderen Umstand hinzuweisen, dass aufgrund der unüberschaubaren Kapazitäten der therapeutischen Möglichkeiten das Ende einer kurativen Behandlung heutzutage nicht mehr insinuiert ist.9 Arzt und Patient sind gefordert, über bestehende und neu entwickelte Behandlungsmethoden, ihren Beginn, ihre Dauer, die damit verbundenen physischen wie psychischen Belastungen und ihren Abbruch bzw. Verzicht zu entscheiden. Aus der Notwendigkeit einer bewusst entschiedenen Gestaltung des Lebensendes entstanden einerseits in „Medizin und Ethik […] Suchbewegungen bezüglich Kriterien für Entscheidungen über Behandlungen“10 sowie einen verantworteten Umgang mit Sterben und Tod und andererseits in Recht und Politik hinsichtlich der Relevanz des Patientenwillens neben der medizinischen Indikation als Kriterium, das der ärztlichen Entscheidung über Behandlungsabbruch bzw. -verzicht zugrunde zu legen ist. Diese Suchbewegungen werden von Debatten über die Qualität des Lebens mit schwerer Krankheit, über das Recht auf ein selbstbestimmtes Leben und Sterben und in seiner Konsequenz über die legitime Herbeiführung des Todes begleitet.

Als wichtigstes Resultat dieses Ringens um ethische wie rechtliche Klarheit ist die Erkenntnis zu werten, dass schwerkranke und sterbende Menschen immer in die Entscheidungsprozesse über das weitere ärztliche Handeln einzubinden sind, indem sie nach subjektiver Einschätzung der eigenen lebensgeschichtlichen Situation ihren eigenen Willen formulieren und entsprechend äußern.11 Deswegen soll in einem ersten Schritt nach den medizinethischen wie staatlich-rechtlichen Konsequenzen gefragt werden, die sich aus den Erfolgen und steten Veränderungen der modernen Medizin für die schwerkranken Menschen sowie ihre Behandlungs- und Entscheidungssituation erwachsen.

In einem zweiten Schritt soll der Entscheidungsbildungsprozess des schwerkranken Patienten über bewusste Lebensbeendigung sowie me, -abbruch oder -verzicht reflektiert werden. Dabei soll besonders den psychosomatischen Implikationen von schwerer Krankheit, der Konfrontation mit dem eigenen Sterben und den Konsequenzen für das persönliche Umfeld nachgegangen werden. Es wird abschließend danach gefragt, ob aus diesen Erkenntnissen eine (Rechts-)Präsumtion über die psychische Verfassung schwerkranker Menschen, die um Euthanasie oder AVvtM gebeten und diese vollzogen haben, angemessen ist.

3.1. Entscheidungsvielfalt durch medizinischen Fortschritt

Die heutige medizinische Landschaft zeigt sich dem Betrachter in einem spannungsgeladenen Verhältnis. Auf der einen Seite präsentiert sie sich als hochmoderne und durchtechnisierte Disziplin, die mit einer detaillierten Kenntnis des menschlichen Körpers und einer immensen Fülle von Therapieansätzen und -möglichkeiten vor allem im Bereich der Krankheitsanalyse und -diagnose, der Stammzellenforschung, der Krankheits- und Schmerzbekämpfung und auf dem gesamten Gebiet der Reanimation ausgestattet ist. Auf der anderen Seite aber wird die moderne Medizin als entpersonalisierte „Apparatemedizin“12 wahrgenommen, die unter dem dominanten Einsatz hochtechnisierter Geräte sowie der Flucht in die Kostenminimierung und Ertragmaximierung leidet und in der Faszination des technisch Möglichen den Menschen und dessen Wohl aus dem Blick verloren hat: kranke und alte Menschen wurden zu Objekten ärztlichen Handelns, ärztliche Fürsorge generierte zusehends zu paternalistischer Fremdbestimmung13 und belastende „Altersmerkmale [wurden] elongiert bzw. neue hervorgebracht“14. Aus dieser innermedizinischen Spannung resultierte das Paradoxon, dass ausgerechnet zu der Zeit, in „welcher die moderne Medizin ihre größten Erfolge […] feiert, der Ruf nach der Legalisierung der aktiven Sterbehilfe wieder so stark geworden ist“15. Dies hatte eine Neujustierung des herkömmlichen paternalistisch geprägten Arzt-Patienten-Verhältnisses vor dem Hintergrund der jüngeren staatlichen Gesetzgebung zur Normierung des Mitsprache- und Gestaltungsrechts des Patienten auf seinen Krankheits- und Sterbeprozess zur Folge.16

3.1.1. Wandel und Erfolg der modernen Medizin

Im Übergang vom ausgehenden 19. zum beginnenden 20. Jahrhundert markierten die ganzheitliche Sorge um den Menschen und der Versuch, für Schwerkranke und Sterbende mithilfe palliativmedizinischer Betreuung ein würdevolles Sterben zu gewährleisten, die Grenzen der medizinischen Möglichkeiten. Ernsthaften Krankheiten sowie lebensbedrohlichen Situationen standen die Ärzte dieser Zeit weitgehend hilflos gegenüber.17 Weder verfügte die Ärzteschaft über ein vielfältiges diagnostisches Instrumentarium, noch konnte sie mit einer wirklich effektiven Schmerzbekämpfung aufwarten. Mit der kontinuierlichen Verbreitung und Akzeptanz der sogenannten „Schulmedizin“ mit ihrem naturwissenschaftlichen bzw. biomechanischen Ansatz begannen sich die Vorläufer und Anfänge der heutigen modernen Medizin in den medizinischen Zentren und Lehrinstitutionen zu verorten.18 Deren theoretisches Denkmodell, ein Relikt aus der Zeit der Industrialisierung, betrachtete den Mensch als Konstrukt diverser Entitäten, von denen jene ausgetauscht bzw. durch aufwendige Reparatur wiederhergestellt werden konnten, die instabil geworden waren. Im Gegensatz zum vormals herrschenden ganzheitlichen Ansatz wurde versucht, durch Symptomanalyse das erkrankte Körperteil zu identifizieren und mithilfe operationalisierter physikalisch-chemischer Verfahren entweder dessen biologische Funktionalität wiederherzustellen oder aber wenigstens die (patho-)physiologischen Folgen abzuwenden.19 Als problematisch ist zu werten, dass mit diesem „analytischwissenschaftlichen Umgang mit Krankheit das Krankheitsgeschehen vom leidenden Subjekt losgelöst [wurde …, sodass die] Person des Patienten […] gleichsam hinter eine Kulisse wissenschaftlich formulierter Krankheitsentitäten“20 trat. Dieses zugrunde liegende iatrotechnische Konzept der Medizin, das seine Inhalte von der Entwicklung der technisch-industriellen Lebenswelt empfing und spätestens mit dem medizinischen Fortschritt in den 1950/60er Jahren im „individuellen wie öffentlichen Bereich […] zur sozialen Wirklichkeit“21 wurde, führte zu einem sich selbst ernährenden Kreislauf, der „die naturwissenschaftliche Forschung und die technische Entwicklung von Heilverfahren“22 vorantrieb.23

Die Medizin konnte durch diese Fokussierung vor allem in der Forschung und Analyse von Kausalzusammenhängen zur Erklärung diverserer Pathomechanismen weitreichende Erkenntnisse in der Zellen- und Vererbungslehre, der Entwicklungstheorie und Mikrobiologie sowie der Genetik und Molekularbiologie vorweisen. Neben die immense Erweiterung des Therapie- und Behandlungsspektrum der modernen Medizin traten weitreichende technologische Errungenschaften.24 Sie haben sowohl in Verbindung mit den pharmakologischen Forschungen auf dem Gebiet der Narkose und Schmerzbekämpfung zur Gründung der Anästhesiologie als innermedizinische Spezialdisziplin als auch zur Entwicklung der eigentlichen Intensivmedizin als direkte Reaktion auf lebensbedrohliche Situationen und Zustände geführt.25 Hervorzuheben sind die künstliche (Langzeit-)Beatmung, mit der schwerkranke und sterbende Patienten nicht nur in Grenzsituationen, sondern über einen nicht bezifferbaren längeren Zeitraum mit Sauerstoff versorgt werden konnten,26 sowie die medizinische Therapie der künstlichen Nahrungs- und Flüssigkeitszufuhr mithilfe einer perkutanen endoskopischen Gastrostomie (=PEG-Sonde).27

Innersystemisch wurden diese Ereignisse von der Institutionalisierung der modernen, mit technischen Geräten ausgestatteten Kliniken mit sterilen Operationssälen, der Einführung von Hygienestandards, der Verarbeitung elektronischer Daten und der Verwendung moderner Kommunikationstechniken begleitet,28 sodass „am Ausgang des 20. Jahrhunderts medizinisches Denken und ärztliches Handeln neue Dimensionen“29 erreichte, die in einen Paradigmenwechsel und eine qualitativ neue Medizin mündeten.30

Relevanz für die vorliegende Studie

Die starke Dominanz der naturwissenschaftlich-technischen Medizin und der daraus resultierende medizinische Wandel im 20. Jahrhundert haben sich „nachhaltig auf den Gesundheits- und Krankheitsbegriff, den Umgang mit Sterben und Tod sowie die Frage nach einem Behandlungsabbruch und -verzicht“31 ausgewirkt: Krankheit wurde vor dem Hintergrund des iatrotechnischen Konzepts nicht mehr als Teil des Lebens, sondern als „Störung der Lebensprozesse“32 empfunden, die mit Zielsetzung des einwandfreien Funktionierens des Organismus bereinigt werden müsse; die Medizin des 20. Jahrhunderts hat mit ihren Teilbereichen und innerdisziplinären Spezialisierungen den ganzheitlichen Blick auf den Menschen als Entität aus Leib und Seele, Körper und Geist verloren; der medizinische Machbarkeitswahn ließ die Frage nach den Grenzen des medizinisch Therapierbaren und des für Menschen Erträglichen sowie nach einem würdevollen, ganzheitlichen Umgang mit dem Patienten, seinem Leben und seinem Sterben laut werden.

Erst im Übergang zum 21. Jahrhundert sind auch als Reaktion auf die Forderungen und Bestrebungen zur Legalisierung von Tötung auf Verlangen, Behandlungsabbruch bzw. -verzicht sowie (ärztlich) assistiertem Suizid ein reflektiertes Innehalten sowie ein Umdenken bezüglich der ganzheitlichen Betrachtung des Menschen zu verzeichnen. Es wächst die Erkenntnis, dass „sich in einer modernen Medizin Technisierung und ein Zugang, der den Menschen in seiner Gesamtheit wahrnimmt, nicht ausschließen“33. Dies zeigt sich besonders in der Enttabuisierung von Sterben und Tod in der Gesellschaft, im Vorantreiben einer flächendeckenden palliativmedizinischen Versorgung und Verankerung einer entsprechenden Ausbildung im Kanon der medizinischen Disziplinen34 sowie in der würdevollen und mitmenschlichen seelsorglichen Begleitung sterbender Menschen innerhalb der Hospizbewegung.35

3.1.2. Arztberuf im Wandel: Ethos der Machbarkeit oder der Fürsorge?

Durch den medizinischen Wandel haben sich nicht nur die Situation des Patienten und die gesellschaftliche Deutung von Krankheit, Sterben und Tod gewandelt. Die skizzierten Errungenschaften haben auch die „Handlungsspiel- und Handlungsfolgenräume“36 erheblich ausgedehnt. Es wurden intensivmedizinische wie diagnostisch-therapeutische Bedingungen geschaffen, die es Ärzten ermöglichen, schwerkranke Menschen in nahezu sämtlichen Lebens- und Alterslagen vor dem Tod zu bewahren, in akuten Krisensituationen zu intervenieren und auf diese Weise das Leben zu verlängern. Im Subtext dieser sich eröffnenden Chancen wurde dem Arzt jedoch ein neues Selbstverständnis vermittelt: Anstatt einen Patienten mit schwerer Krankheit in seinem Sterbeprozess lediglich schmerzlindernd zu begleiten, konnte sich der Arzt durch die ihm gebotenen Möglichkeiten um Identifikation und Behandlung der Krankheitssymptome bemühen und den Todeseintritt abwenden oder wenigstens hinauszögern.37 Durch die folgende Erfahrung des Kontrollierens und Heilens von immer mehr Krankheiten wuchs innerhalb der Ärzteschaft der Glaube an das medizinisch Machbare und mit ihm die Gefahr, dass das vormoderne ärztliche Ethos der Fürsorge38 zu einem modernen Ethos des Machbaren verzerrt wurde.39

 

In der Konsequenz wandelte sich die Zielsetzung ärztlichen Handelns, da die Sterblichkeit des Menschen nicht mehr als natürliches Element des Lebens, sondern als Krankheit wahrgenommen, die es zu bekämpfen galt. Diese Hermeneutik des medizinisch-technisch Machbaren ließ den Tod des Menschen dann als persönliche Niederlage des Arztes erscheinen, dessen Kompetenz an den Erfolgen seines Handelns, d. h. in der Verhinderung des Sterbens gemessen wurde.40 Begleitet wurde diese Tendenz von dem Umstand, dass die vielfältiger gewordenen medizinischen Handlungsoptionen keine klar definierten Ziele mehr vorgaben, an denen sich Ärzte in ihren Entscheidungsprozessen über Anwendung, Abbruch oder Verzicht einer therapeutischen Behandlung orientieren konnten. Markierte noch zu Vorkriegszeiten das Ende der wenigen Therapien die Grenzen der traditionellen Medizin, wurden Ärzte und Pflegepersonal mit einer sukzessiv voranschreitenden Verwischung der Grenze zwischen Nützlichkeit und Überbelastung einer Therapie konfrontiert.41 Bender sieht das Drama der modernen Medizin im „Verlust von Eindeutigkeit des Endes einer Therapie und einer Behandlungsmöglichkeit“42. Die dadurch entstehende Verunsicherung in der Ärzteschaft und die Erfahrungen des therapeutischen Misserfolgs sowie der ärztlichen Hilf- und Machtlosigkeit bei Todeseintritt des Patienten bekräftigten in der Ärzteschaft die weit verbreitete Einstellung, das eigene Handeln an der Hermeneutik des medizinisch Machbaren und des technischen Imperativs zu orientieren, die eine „Übertherapie am Lebensende vorprogrammiert“43 elongierten.

In diesem spannungsgeladenen ethischen Dilemma zwischen einem Ethos der Fürsorge und einem Ethos des Machbaren befinden sich Medizin und Ärzteschaft teilweise heute noch, wobei mit der Hospizbewegung und der palliativmedizinischen Versorgung bereits Initiativen angesprochen worden sind, die eine Kurskorrektur eingeläutet haben.44 Dennoch bedarf es mit Blick auf den Umgang mit den neuen, unzähligen Möglichkeiten der modernen Medizin einer fundamentalen Anpassung oder Ersetzung der ärztlichen Leitbilder und Zielvorgaben, um dem therapeutischen Übereifer im vermeintlichen Interesse des Patienten nach unabdingbarer Lebenserhaltung und -verlängerung vorzubeugen.45 Ein Orientierungspunkt wäre die Perspektive, den Patienten wieder „neu“ als ganzheitliches, mit personaler Würde ausgestattetes Individuum wahrzunehmen.46 Mit dieser Zielkorrektur muss das Streben nach einer klaren Rechtsstruktur über die rechtliche Legitimation des Behandlungsabbruchs bzw. -verzichts einhergehen, da auf diese Weise vermieden werden kann, dass sich Ärzte im Zweifel über Aufnahme, Abbruch oder Verzicht einer medizinischen Therapie zunächst aus Angst, etwas rechtlich Verbotenes zu tun, für einen Therapieversuch entscheiden.47

Medizinische Indikation als primäres Entscheidungskriterium

Ein probates Mittel der modernen Medizin, sowohl rechtlicher Unsicherheit als auch therapeutischem Übereifer und ärztlicher Machbarkeitsphantasien vorzubeugen, ist die Institution der medizinischen Indikation.48 Sie rechtfertigt die Vornahme oder der Abbruch einer medizinischen Handlung und ist noch vor dem Patientenwillen primäres Kriterium zur Entscheidung über ginn, -fortsetzung, -abbruch oder -verzicht.49 Zur Beurteilung der medizinischen Indikation wird vor dem Hintergrund des aktuellen Stands der Medizin und des Patientenwohls hinterfragt, ob die angedachten oder bereits laufenden therapeutischchirurgischen Maßnahmen für den jeweiligen Patienten in seiner konkreten Situation und für das im Vorfeld mit dem Patienten abgestimmte Therapieziel förderlich sind.50 In der Begegnung mit schwerkranken und sterbenden Patienten muss der Arzt mit Blick auf deren Alter, physiologisches Leistungs- und Belastungsvermögen sowie den ganzheitlichen Gesundheits- bzw. Krankheitszustand eruieren, ob der Beginn einer Therapie hinsichtlich des vereinbarten Therapieziels erfolgversprechend ist ob der zu erwartende Nutzen in verantwortbarer Relation zu den Belastungen steht, die eine jede Therapie am Lebensende unweigerlich mit sich bringt.51 Sofern das vereinbarte Therapieziel mit der angedachten medizinischen Behandlung nicht oder mit einer verschwindend geringen Wahrscheinlichkeit erreicht werden kann, ist der Eingriff aus medizinisch-ethischer Perspektive nicht indiziert und daher rechtlich nur mit Einwilligung durch den Patienten zulässig. Fehlt einer begonnenen oder aufrechterhaltenen Behandlung eine solche medizinische Indikation und die Einwilligung des Patienten, kann dies für den Arzt und das Pflegepersonal aufgrund fahrlässiger und vorsätzlicher Nichtbeachtung des Selbstbestimmungsrechts erhebliche straf- wie standesrechtliche Konsequenzen nach sich ziehen.52

Aufgrund des nicht statischen Verlaufs der Krankheit ist eine einmalige Feststellung der medizinischen Indikation nicht ausreichend. Sie bedarf einer kontinuierlichen Reflexion und gegebenenfalls einer angemessenen Anpassung an die Lebenslage des Patienten. Sofern eine Behandlung oder Therapie nicht (mehr) medizinisch indiziert ist, bedarf es für deren Verzicht bzw. Abbruch weder ethischer noch rechtlicher Rechtfertigung. Diese können sogar geboten sein, sodass der erneute Beginn oder die Fortdauer einer solchen medizinischen Behandlung ethisch gerechtfertigt werden müssten.53

Es zeigt sich, dass die Systematik der medizinischen Indikation grundlegend auf das Wohl des Patienten ausgerichtet ist und als Absicherungsmechanismus gegen therapeutischen Übereifer installiert wurde. Aus dieser Perspektive sind Abbruch und Verzicht einer aussichtslos gewordenen Therapie und das Zulassen des Sterbens nicht Zeichen einer ärztlichen Niederlage, sondern Realisierung der „ärztlichen Fürsorge auch in der letalen Phase des Sterbeprozesses“54. Auch wenn der Abbruch bereits begonnener Behandlungen für viele Ärzte „nachweislich psychologisch schwer“55 wiegt, ist es mitunter medizinisch indiziert, die Behandlungsstrategie von einer kurativmedizinischen auf eine palliativmedizinische Ausrichtung zu wechseln. Da gerade solche „Entscheidungen über die Änderung des Therapieziels am Lebensende […] eine der häufigsten und schwierigsten Herausforderungen“56 der gegenwärtigen Medizin darstellen, muss sich diese zur Aufgabe machen, Ärzte und Pflegepersonal über die rechtliche Zulässigkeit des Therapieverzichts und -abbruchs bei fehlender medizinischer Indikation zu unterweisen.

Patientenwille als sekundäres Entscheidungskriterium

Neben der medizinischen Indikation gilt als sekundäres Entscheidungskriterium über Aufnahme, Fortsetzung, Abbruch oder Verzicht einer therapeutischen Maßnahme der Wille des schwerkranken bzw. sterbenden Patienten als Ausdruck seiner autonomen Selbstbestimmung. Konfrontiert mit den diversen Handlungsoptionen wird dieser gebeten, über das weitere Vorgehen zu entscheiden und seinen entsprechenden Willen zu bekunden.57 Die Sicherung und Stärkung der Patientenautonomie bezüglich Entscheidungen über Behandlungsmaßnahmen am Lebensende beruht vor allem auf der neuzeitlichen Emanzipation des Individuums von sozialen, religiösen und normativen Bindungen, dem Wunsch nach individuell gestalteter Selbstverwirklichung und einer dies umsetzenden progressiven Lebensgestaltung. Vom aufgeklärten Postulat individueller Freiheit und Vernunft ausgehend wird dem Menschen des 20. Jahrhunderts, der sich im zeitgenössischen pluralistischen Wertesystem nicht mehr an die Transzendenz eines Gottes als Schöpferwesen rückgebunden wähnt,58 suggeriert, selbst für die Herstellung des persönlichen irdischen Glücks verantwortlich zu sein.59 Nicht selten wird dieses irdische Glück mit Selbstverwirklichung und Lebensqualität übersetzt, die das „Verständnis vom Sinn des Lebens und von einem ‚menschenwürdigen‘ Leben“60 prägen. Aus diesem Grund sieht sich der gegenwärtige Mensch dazu berechtigt und befähigt, eine als sinnlos, hoffnungslos oder menschenunwürdig empfundene Lebenssituation mit mannigfaltigen Einschränkungen der Lebensqualität zu vermeiden, selbst dann, wenn dies nicht nur einen Eingriff in das eigene Leben, sondern vor allem auch in das eigene Sterben bedeuten würde.61 Die Wahrung der Patientenautonomie vor allem am Lebensende erfuhr durch die „Erfahrungen mit der verbrecherischen Instrumentalisierung der Patienten in totalitären Systemen, vor allem im deutschen Nationalsozialismus“62, eine massive Bekräftigung und Bestätigung. Diesem Ansinnen als auch der ärztlichen Bitte um rechtliche Klärung des medizinisch Erlaubten wurde von der Rechtsprechung und Gesetzgebung in vielfältiger Weise weitestgehend entsprochen. Mit der sogenannten informierten Einwilligung (informed consent) wurde ein System geschaffen, in welchem der Patientenwille zuzüglich der medizinischen Indikation maßgebliches Handlungs- und Entscheidungskriterium war und über die medizinische Behandlung bestimmte. Demgemäß konnte niemand verpflichtet werden, sich behandeln zu lassen.63

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