Abgerutscht

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4

Jemand stolperte über sie.

Nina spürte im Halbschlaf einen schweren Männerkörper, der neben ihr auf die Matratze plumpste.

„Du bist so süß“, lallte Klaus. „Mein Gott, bist du süß!“ Und seine Hände fingen an, an ihr herumzutatschen.

Nina wurde wach. Sie roch den Alkohol. Der Kerl war ja stockbesoffen! Energisch schob sie ihn von sich.

„Hau ab, du Schwein!“, schimpfte sie. „Was fällt dir ein?“

„Nur ein Kuss …“

Sie holte aus und schlug ihm mit aller Kraft ins Gesicht. Das brachte ihn zur Besinnung, er zog sich zurück. Nina rappelte sich inzwischen auf und suchte den Lichtschalter.

Das Flurlicht ging an.

Die Szene war grotesk.

Klaus lehnte an der Wand und hielt sich die Nase. Nina konnte nicht sehen, ob sie blutete. Auf alle Fälle hatte sie wohl einen Volltreffer gelandet.

Sein gestreiftes Pyjamaoberteil klaffte vorne auseinander und gab den Bauch frei. Eine Wölbung wie bei einer Schwangeren, bloß mit lauter schwarzen Haaren. Es sah lächerlich aus. Zu einem anderen Zeitpunkt hätte Nina laut gelacht, aber jetzt war sie stinksauer.

„Glaubst du, ich hab mich in den Flur gelegt, nur dir zum Spaß?“, donnerte sie los. „In meinem Zimmer stinkt’s so nach Farbe, dass man unmöglich schlafen kann. Aber wenn ich gewusst hätte, dass du über mich herfällst, hätte ich unten im Erdgeschoss geschlafen, selbst wenn’s dort von Mäusen wimmelt! Du Arsch!“

Klaus wirkte kleinlaut. Die Ohrfeige hatte ihn ernüchtert. Er sah nicht so aus, als wollte er seine Bemühungen fortsetzen.

„Ich hab ja nicht gewusst, dass du hier herumliegst“, grunzte er. „Ich wollt bloß pinkeln gehen.“

„Ach!“ Nina nahm ihm die Ausrede nicht ab. „Und da bist du über die Matratze gestolpert und hast dir gedacht, dass du gleich liegen bleiben kannst?“

Klaus sagte gar nichts, sondern massierte seine Nase.

„Hast mich wohl mit Eileen verwechselt“, stichelte sie.

Beim Stichwort Eileen hielt Klaus seine Armbanduhr vor die Augen, aber er war zu betrunken, um die Uhrzeit zu erkennen. „Zum Teufel, wie spät ist es überhaupt?“

„Viertel nach vier.“

„Und sie ist immer noch nicht da.“ Klaus’ Stimme klang fast weinerlich. „Bestimmt hat sie einen anderen Kerl!“

„Und du denkst, du kannst es dann mit mir treiben“, empörte sich Nina.

„Ich denke gar nichts“, behauptete Klaus. Er hatte Mühe aufzustehen, erwischte eine Türklinke und hangelte sich an der Wand hoch.

„Mensch, geh bloß wieder ins Bett. Du bist ja völlig zu.“

Nina sah ihm nach, wie er in Richtung Schlafzimmer abzog. Er taumelte dabei von links nach rechts. Fast tat er ihr leid. Aber dann schob sie alles Mitleid beiseite. Es war sein Problem, wenn er sich betrank!

Nina war jetzt völlig aufgekratzt. Sie konnte nicht einfach das Licht ausmachen und sich wieder hinlegen!

Ihr Herz hämmerte noch immer. Klaus würde sich nicht noch mal trauen, da war sich Nina ziemlich sicher. Wahrscheinlich war er ohnehin gleich wie tot ins Bett gefallen und schnarchte schon längst. Und morgen würde er sich vermutlich nicht einmal mehr daran erinnern, was passiert war!

Trotzdem mochte Nina nicht mehr auf dem Flur schlafen. Sie wollte lieber in ihr Zimmer und die Tür hinter sich abschließen, selbst wenn es noch so sehr nach Farbe stank!

Mühsam wuchtete sie die Matratze vom Flur in ihr Zimmer zurück. Der Farbgeruch kam ihr nicht mehr so schlimm vor. Die ganze Zeit hatte das Fenster sperrangelweit aufgestanden. Nina ließ es offen, legte sich hin und löschte das Licht. Die Nacht war mild und ein leichter Wind wehte herein. Hoffentlich kam kein Fassadenkletterer auf die Idee, ihr einen Besuch abzustatten. Von nächtlichen Übergriffen hatte sie genug!

Sie konnte nicht einschlafen. Irgendwo in der Ferne schlug eine Turmuhr. Wenig später hörte Nina, wie sich ein Schlüssel in der Wohnungstür drehte. Eileen kam zurück.

Nina kämpfte mit sich. Sollte sie ihr erzählen, was passiert war?

Eileen summte draußen im Flur vor sich hin. Zweimal plumpste etwas zu Boden – ihre hochhackigen Schuhe. Dann ging Eileen leise trällernd ins Bad.

Nein. Nina rollte sich auf der Matratze zusammen. Sie würde Eileen nichts sagen. Jedenfalls jetzt nicht. Vielleicht auch nie.

Nina versuchte, ihren Gedanken eine andere Richtung zu geben. Sie brauchte unbedingt Geld. Morgen würde sie alle Zeitungen nach Anzeigen durchsehen. Wenn sie nicht gleich einen Job fand, was dann? Betteln? Oder stehlen? Einmal hatte sie in einem Kaufhaus einen Lippenstift mitgehen lassen. Es war ihr nicht leichtgefallen. Nein, zum Klauen hatte sie wahrscheinlich nicht die Nerven.

Auf alle Fälle kam es nicht infrage, dass sie reumütig nach Hause zurückkehrte. Irgendwie würde sie schon Geld auftreiben.

Viel Geld.

5

Lichter zuckten, Bässe dröhnten.

Nina schob sich auf die Tanzfläche. Ihre Laune wurde zusehends besser. Auf der Bühne spielte eine Live-Band, die Dangerous Drops. Die Band übertraf alle anderen, die Nina von daheim kannte. Sie spielten ungeheuer rockig und es gelang ihnen, die Gäste mitzureißen.

Nina ließ sich von der Stimmung anstecken. Sie tanzte nach vorne, zur Bühne. Den Bassisten fand sie besonders süß. Er hatte lange blonde Haare und trug ein dunkelblaues T-Shirt mit glitzernden Sternen. Ein bisschen ähnelte er Steffen, aber nicht viel. Nina lächelte ihm zu. Er lächelte zurück und Ninas Laune hob sich.

Die Musik heizte sie immer mehr an. Sie flippte über die Tanzfläche, gab sich ganz dem Rhythmus hin und sang bekannte Songs mit. Alle Probleme abschütteln. Bloß nicht mehr daran denken, wie mistig der Tag verlaufen war.

You make me feel so good …

„So good“, summte Nina und wirbelte zwischen einem Pärchen hindurch. Den ganzen Tag hatte sie am Telefon gehangen, auf der Suche nach einem Job unzählige Nummern angerufen. Überall dasselbe. Vergeben oder unterbezahlt. Oder sie erfüllte die Voraussetzungen nicht, weil sie weder einen PC noch ein Auto hatte.

Sie war desillusioniert, enttäuscht und frustriert.

Ein beknackter Tag auf der ganzen Linie.

Yeah, you’re my beautiful baby …

Sie hatte sogar bei der Redaktion einer Hamburger Frauenzeitschrift angerufen. Dort hatte sie erfahren, dass die Models durch Agenturen vermittelt wurden oder dass die Fotografen mit festen Models arbeiteten. Man hatte ihr angeboten, sie könne bei der Aktion „Das neue Gesicht“ mitmachen. Da würden immer Mädchen gesucht. Richtig geschminkt, und aus dem hässlichen Entchen wird ein wunderschöner Schwan. Nina hatte wütend aufgelegt.

So, wie sie war, fand sie sich total in Ordnung, und mit der neuen Frisur sah sie sogar noch viel besser aus. Da gab es nichts zu verbessern, gar nichts.

Sie konnte mithalten. Sie musste bloß eine Chance kriegen.

Oh please, let my dream come true …

Das Größte wäre natürlich, wenn sie irgendwie zum Film käme. Sie wäre bestimmt eine gute Schauspielerin, davon war sie überzeugt. Man musste dazu nicht unbedingt jahrelangen Unterricht nehmen, es gab zahlreiche Gegenbeispiele. Jemand musste sie bloß entdecken …

Yeah!

Nina sah die Schlagzeilen schon vor sich. Berühmt über Nacht! Ein neues Gesicht! Ein Star wie Emma Watson und Kristen Stewart. Ein Riesentalent, eine ganz große Naturbegabung. Und die Welt würde ihr zu Füßen liegen.

Nina schloss die Augen. Selbst durch die Lider nahm sie die bunten Lichter wahr. Ein Gefühl, als müsste sie gleich abheben. Alles war möglich, alles!

Ausgepowert landete sie schließlich an der Bar und bestellte sich eine Cola mit Schuss. Sie spülte das Getränk auf einen Rutsch hinunter. Links neben ihr saß ein Typ, der sie beobachtete. Nina registrierte hellblaue Augen, ein sympathisches Gesicht und blonde Haare, die für ihre Begriffe ein bisschen zu kurz geschnitten waren. Die Art, wie er mit den Augen lächelte, gefiel Nina.

„Hey, ich kenn dich nicht. Neu hier?“

„Ich bin erst seit ein paar Tagen in Hamburg.“

„Hallo, da hab ich aber Glück, dass ich dich so schnell kennenlerne.“ Er ließ noch eine Cola kommen und schob sie Nina über den Tisch zu. „Ich bin übrigens Lukas.“

„Ich heiße Nina.“

„Nina.“ Er wiederholte den Namen. „Gefällt mir.“ Er wartete, bis sie ihre Cola ausgetrunken hatte. „Willst du tanzen?“

Nina zögerte. „Na ja, eigentlich – “

„Eigentlich hast du wahnsinnige Lust. Komm!“ Er zog sie auf die Tanzfläche.

Nina lachte. Er ergriff einfach die Initiative. Sie wirbelten zusammen herum. Es war völlig verrückt und machte irrsinnig viel Spaß. Nach einigen Songs fiel Nina wie ein Mehlsack in seine Arme.

„Ich kann nicht mehr“, japste sie.

„Aber, aber …“

„Ehrlich.“ Sie erzählte, dass sie den ganzen Tag auf Jobsuche gewesen war und endlos herumtelefoniert hatte. „Ergebnis gleich null. Ich glaub, die wollen mich hier nicht.“ Sie schmiegte sich an seine Lederjacke. Lukas duftete nach Rasierwasser, sehr angenehm. Seit Steffen war sie mit keinem Jungen mehr zusammen gewesen. Sie sehnte sich nach Zärtlichkeit.

„Hört sich nicht besonders gut an“, meinte Lukas. „Mein armes, geplagtes Nina-Mäuschen! Aber ich weiß, wie’s dir gleich besser geht.“ Er kramte in seiner Tasche und zog eine Tablette hervor, auf der ein Kleeblatt eingestanzt war.

Nina schüttelte den Kopf. „Kann ich mir im Moment nicht leisten.“

„Quatsch. Will ich dich ausnehmen? Natürlich geschenkt.“

„Na dann.“ Nina hatte schon einmal Ecstasy genommen, aus Neugier. Noch zu Hause, auf der Party einer Klassenkameradin. Der irre Energieschub und das Gefühl, über allem zu stehen, waren genau das, was sie jetzt brauchte. Hamburg war toll, aber anstrengend.

 

„Thanks.“ Sie schluckte die Pille mit geschlossenen Augen. Die Wirkung ließ auf sich warten. Nina dachte schon, sie hätte ein Placebo erwischt. Außen Verpackungsschwindel und innen nur Traubenzucker … Aber dann fuhr sie plötzlich total ab. Die Müdigkeit verflog völlig. Sie war auf einmal wahnsinnig gut drauf.

Alle Ängste waren weg. Alle Zweifel, ob sie einen Job bekommen würde, verpufften. Überschwänglich umarmte sie Lukas. Er war so nett. Die anderen ringsum auch. Sie liebte sie alle. Und erst die Musik! War es noch Musik? War nicht alles um sie herum eins, ein wummerndes Universum? Ihr Körper war zugleich Farbe und Bewegung, Gitarre und Rhythmus. Alles im Kosmos hing zusammen und der Sinn des Lebens war Glück.

Irgendwann viel später lief sie mit Lukas durch die Straßen, noch immer total aufgekratzt. Sie klammerte sich an seinen Arm, lachte über die Späße, die er machte, und alberte unbeschwert herum. Sie erzählte ihm, dass sie von zu Hause abgehauen sei, weil sie es dort nicht mehr ausgehalten habe. Es hätte nicht viel gefehlt und sie hätte ihm sogar von Steffen erzählt. Wie sehr sie ihn geliebt hatte und wie sehr er sie enttäuscht hatte. Aber komisch, der Schmerz war jetzt völlig weg. Sie hasste Steffen auch nicht mehr. Er war ihr einfach ganz gleichgültig. Sollte er doch mit so vielen Mädchen schlafen, wie er wollte! Nina fand es toll, dass sie jetzt so über den Dingen stehen konnte.

„Wohnst du hier?“, fragte Lukas, als sie vor dem alten Haus angekommen waren.

Nina lehnte sich an ihn. „Ich hab da ein winziges Zimmer, ganz für mich allein“, flüsterte sie ihm ins Ohr. Sein kurzes Haar kitzelte sie im Gesicht. Das fand sie sehr aufregend. „Du kannst es dir gern mal anschauen. Kommst du noch mit rauf?“

Lukas lachte. Dann küsste er sie.

Nina genoss es. Sie war schon so lange nicht mehr richtig geküsst worden. Lukas’ Lippen waren weich. Er stöhnte leise, als sie ihre Zunge zwischen seine Zähne schob. Sie hätte es jetzt gern gehabt, wenn seine Hände unter ihre Bluse geschlüpft wären und sie gestreichelt hätten. Es störte sie nicht, dass sie auf der Straße standen. Es war sowieso keiner mehr unterwegs.

Aber Lukas machte keine Anstalten. Nina presste sich noch dichter an ihn und kraulte zärtlich sein kurzes Haar.

„Ich finde dich nämlich total süß.“

„Ich dich auch, das musst du mir glauben.“ Er löste sich von ihr.

Nina runzelte die Stirn. „Aber?“

Er druckste herum. „Aber ich hab ’ne Freundin. Carolin.“

Sie fand es fair, dass er es ehrlich sagte. „Na ja, schade. Trotzdem können wir uns mal wiedersehen, oder?“

„Klar doch.“ Lukas drückte sie noch einmal zum Abschied, dann ging er die Straße hinunter. Nina blickte ihm nach. Er drehte sich um und winkte. Sie hob ebenfalls die Hand. Dann war Lukas verschwunden. Nina sah, dass der Himmel allmählich heller wurde.

Als sie die Treppe zur Wohnung hinaufstieg, kam plötzlich die Ernüchterung. Wütend schlug sie gegen die Wand. Verdammt! Da traf sie einen netten coolen Typen und war drauf und dran, sich zu verlieben – und dann hatte er schon eine Freundin!

Ihre Hand zitterte so sehr, dass ihr zweimal der Schlüssel aus der Hand fiel, als sie die Wohnungstür aufschließen wollte. Ihr Zimmer kam ihr kalt und armselig vor. Das zerwühlte Bett, die Enge, die angebrochene Safttüte – alles störte sie. Durchs Fenster sah sie, wie über den Dächern die Sonne aufging. Das zarte Licht verband sich mit der gelben Farbe ihres Zimmers und gaukelte einen Sommertag vor.

Alles Lüge!

Nina hätte es am liebsten laut herausgeschrien. Sie trat ans Fenster und schaute deprimiert auf die Autowracks hinunter. Ein kleines Zimmer, kein Job und das Gefühl, der einsamste Mensch der Welt zu sein … das also war aus ihren Träumen geworden!

Sie ließ sich aufs Bett fallen und trank die Safttüte aus. Sie war unheimlich durstig. Der Saft reichte nicht, sie ging noch einmal in die Küche und trank Wasser. In der Küche roch es nach kaltem Rauch. Es war so widerlich, dass Nina sich fast übergeben hätte. Sie kehrte in ihr Zimmer zurück und warf sich aufs Bett, völlig kaputt. Sie rollte sich zusammen und war gleich darauf eingeschlafen.

6

Als Nina erwachte, war es fast Mittag. In der Küche traf sie Eileen, die ebenfalls gerade aufgestanden war.

„Kaffee?“, fragte Eileen.

Nina hielt die Tasse hin und Eileen schenkte ihr ein.

„Schlecht drauf, wie?“

Nina nickte. „Ich hab mir gestern fast die Hacken nach einem Job abgelaufen. Alles umsonst. Und heute bin ich so spät dran, dass ich mir erst gar keine Zeitung zu kaufen brauche. Die Jobs sind bestimmt schon alle weg.“

„Hm.“ Eileen setzte sich an den Tisch. „Suchst du was Bestimmtes?“

Nina zuckte mit den Schultern. „Ach, eigentlich ist es mir jetzt egal. Hauptsache, ich verdien irgendwie Geld. Ich bin nämlich inzwischen knapp.“

Eileen überlegte. Sie zündete sich eine Zigarette an. „Es sieht hier insgesamt ziemlich schlecht mit Jobs aus.“

„Das hab ich auch schon gemerkt. Scheiße.“

„Hast du denn niemanden, den du anhauen kannst? Freunde? Verwandte?“

Nina dachte nach. „Höchstens die Oma. Aber wenn ich die anpumpe, wissen meine Eltern gleich, wo ich bin. Nein, geht nicht.“

Oma Anna war eine Seele von Mensch, alles andere als geizig. Sie würde ihr unter allen Umständen helfen, da war sich Nina sicher. Allerdings war sie sich genauso sicher, dass Geheimnisse bei Oma Anna denkbar schlecht aufgehoben waren. Sie konnte einfach nichts für sich behalten.

„Und dass du mit deinen Eltern wieder redest, kannst du dir nicht vorstellen?“, fragte Eileen.

„Nein, ausgeschlossen.“ Nina schüttelte den Kopf.

„Ich frag ja bloß. Es hätte doch sein können, dass sie alles einsehen und dir deine Freiheit lassen. Vielleicht würden sie dir auch Geld schicken.“

„Nein, nie im Leben, nein.“ Das war völlig absurd. Ihre Eltern würden sofort verlangen, dass Nina nach Hause käme. Es würde ihnen auch nicht im Traum einfallen, Ninas Freiheit finanziell zu unterstützen.

„Das tun sie schon aus Prinzip nicht“, behauptete Nina. „Dabei haben sie jede Menge Kohle.“ Die Eltern verdienten beide nicht schlecht. Nina erinnerte sich wieder daran, wie oft zu Hause davon gesprochen worden war, was man sich alles „leisten“ konnte. Ihr war dabei jedes Mal fast schlecht geworden. Ein größeres Auto als der Nachbar, ein Einfamilienhaus mit einem gepflegten Garten und trotz der Schulden mindestens zweimal im Jahr Urlaub …

„Das hat überhaupt keinen Sinn.“ Nina ballte die Fäuste. „Ich will auch gar nichts von ihnen haben. Ich brauch einen Job. Unbedingt.“

Eileen drückte ihre Zigarette in der Untertasse aus. „Ich kann ja mal Paul fragen.“

„Wer ist Paul?“

„Mein Chef. Ihm gehört die Alsterjungfer. Das ist die Kneipe, in der ich arbeite. Eigentlich braucht Paul noch jemanden. Carmen, meine Kollegin, hat nämlich eine Sehnenscheidenentzündung und fällt todsicher noch ein paar Wochen aus.“

„Als Bedienung?“

„Stört’s dich?“

„Nein. Und was verdient man da so?“

Eileen sagte ihr, wie viel sie pro Abend bekam. „Manchmal wird’s auch eine besonders lange Nacht und Paul legt noch was drauf. Dazu kommt natürlich noch das Trinkgeld, das bessert die Sache ganz schön auf.“ Sie sah Nina kritisch an. „Bei deinem Aussehen wirst du ’ne hübsche Menge Trinkgeld kassieren, schätze ich.“

Nina grinste und strich ihr Haar zurück. Sie musste es dringend wieder waschen. „Meinst du, ich krieg den Job überhaupt?“

„Keine Ahnung“, gab Eileen zu. „Es kommt drauf an, wie Paul gelaunt ist. Aber mir wird die Arbeit ohne Carmen langsam zu viel. Klaus glaubt schon, ich hätt ’nen anderen Kerl, weil ich immer so spät komme.“

„Und bei der Gelegenheit lässt er sich volllaufen“, rutschte es Nina heraus.

Eileen runzelte die Stirn. Ihr Blick wanderte zur Spüle. Dort standen einige leere Weinflaschen. „Ach so, deswegen. Ja, richtig, manchmal trinkt er.“

Und dann steigt er anderen Weibern hinterher, lag es Nina schon auf der Zunge. Sie verbiss es sich gerade noch. Warum sollte sie Eileen ärgern? Sie wollte doch, dass sie ihr half, den Job zu kriegen.

„Am besten, du erzählst Paul, dass du schon achtzehn bist“, meinte Eileen und fummelte sich eine neue Zigarette aus der Packung. „Vorsichtshalber. Der will nämlich keinen Ärger kriegen – von wegen Jugendschutzgesetz und so.“

Nina nickte. „Kapiert.“

Sie machten aus, dass Nina am Abend einfach mitkommen sollte.

Nina war guter Dinge. Sie verbrachte den Nachmittag damit, auf dem Bett zu liegen und auf ihrem MP3-Player Musik zu hören. Mit geschlossenen Augen träumte sie vor sich hin. Von dem ersten selbst verdienten Geld würde sie sich einen Laptop kaufen. Dass sie zurzeit nicht jederzeit ins Internet konnte, vermisste sie am meisten. In Eileens Schlafzimmer stand zwar ein alter Computer, aber der funktionierte im Moment nicht richtig.

Gegen Abend machte sich Nina sorgfältig zurecht. Sie wusch ihr Haar, schminkte sich und zog sich schick an.

Klaus fielen fast die Augen aus dem Kopf und Eileen sagte anerkennend: „Hey, du siehst wirklich super aus. Ich wette, du kriegst den Job.“

Nina lachte. Sie fühlte sich gut und selbstbewusst. Wenn Lukas sie so sähe, würde er bestimmt nicht widerstehen können, da war sie sicher.

Bis zur Alsterjungfer war es eine Viertelstunde Fußweg.

„Meistens laufe ich“, sagte Eileen. „Eine gute Busverbindung gibt’s hier nicht. Manchmal nehme ich mir nachts auch ein Taxi.“

Als sie die schummrige Kneipe betraten, spürte Nina ein Kribbeln im Bauch. Jetzt war sie doch ziemlich aufgeregt. Ob es mit dem Job klappen würde? Und ob er das Richtige für sie war?

Eileen fand ihren Chef in der Küche. Er kniete auf den Fliesen und hantierte an der Geschirrspülmaschine.

„Verflixt, das Ding ist schon wieder mal verstopft!“

„Guten Abend, Paul.“

Er hob den Kopf. „Hallo, Eileen. Heut ist gar nichts los.“

„Wird schon noch kommen.“

„Wen hast du da mitgebracht?“

„Das ist Nina“, stellte Eileen ihre Begleiterin vor. „Sie wohnt bei uns.“

„Ich such einen Job“, erklärte Nina.

Paul kam langsam hoch. Er war untersetzt und hatte eine Halbglatze. Nina schätzte den Mann auf Ende vierzig.

„Einen Job, so. Und warum fragt ihr mich?“

Das war’s, dachte Nina. Wieder mal Pech gehabt. Mist!

Doch Eileen gab nicht so schnell auf. „Bis Carmen wiederkommt, könnte Nina doch hier aushelfen.“

„Hm.“ Paul schien über den Vorschlag ernsthaft nachzudenken. Dann musterte er Nina. „Na ja … Hast du schon mal bedient?“

„Nein.“ Nina merkte, wie sie feuchte Hände bekam. Verdammt, sie war doch sonst nicht so schüchtern!

„Eileen wird’s dir zeigen. Achtzehn bist du hoffentlich schon?“

„Seit August“, antwortete Nina prompt, womit sie sich ein volles Jahr älter machte.

Eileen zwinkerte ihr aufmunternd zu. Na also, es klappte ja!

Nina lächelte. Ihre Laune stieg.

„Wann kannst du anfangen?“, fragte Paul.

„Eigentlich jederzeit.“

„Dann kann Eileen dich gleich ein bisschen anlernen.“ Paul verließ die Küche, weil man im Lokal nach ihm rief.

Eileen klopfte Nina leicht auf die Schulter. „Na, was sagst du?“

„Cool!“, freute sich Nina. „Hoffentlich krieg ich das auch alles hin.“

„Klar schaffst du es. Es ist nicht schwer, nur manchmal verdammt anstrengend.“ Eileen zeigte ihr, wie sie eine Bestellung aufnehmen musste. „Meistens steht Paul hinter der Theke und tippt den Betrag gleich in die Kasse. Du schnappst dir dann bloß die Gläser oder das Tablett und bringst es dem Gast an den Tisch. Sei nett und freundlich zu ihm, das ist wichtig und steigert den Umsatz. Und wenn ein Gast zahlen will, dann bringst du ihm die Rechnung oder sagst Paul Bescheid.“

Nina versuchte, sich alles zu merken. Ihr schwirrte der Kopf.

Die Kneipe draußen wurde allmählich voller. Eileen musste hinaus. Währenddessen sah sich Nina in der Küche um. Paul brachte ein Tablett mit benutzten Gläsern.

„Räum die mal in die Spülmaschine“, ordnete er an. Er blieb neben ihr stehen und sah ihr dabei zu.

„Nein, so nicht“, kritisierte er. „Du brauchst viel zu viel Platz.“ Er zeigte ihr, wie sie es machen sollte. Als Nina wieder zugriff, rutschte ihr ein Glas aus der Hand und zerbrach auf den Fliesen.

 

„Scherben bringen Glück!“, schrie jemand von draußen.

„Tut mir leid“, entschuldigte sich Nina. Sie kam sich richtig tölpelhaft vor. Das war ja gleich eine Glanzleistung zu Beginn!

„Im Schrank sind Schaufel und Besen“, knurrte Paul mürrisch und ging wieder hinaus, um sich seinen Gästen zu widmen.

Nina fegte die Scherben zusammen und kippte sie in den Mülleimer. Sie schwitzte. Hoffentlich verlief ihr Make-up nicht!

„Mach dir nichts draus“, tröstete Eileen sie, als sie auf einen Sprung in die Küche kam. „Was glaubst du, wie viele Gläser ich schon zerbrochen habe!“

„Aber gleich beim ersten Mal!“

„Na und?“ Eileen zog Nina zur Tür. „Schau. Siehst du den Gast in der Ecke? Den fragst du jetzt, was er möchte. Er ist Stammgast und ich kann dir schon jetzt sagen, dass er ein Bier und einen Schnaps bestellen wird.“

Es war ein komisches Gefühl – halb Spaß, halb Ernst –, den ersten Gast zu bedienen. Er bestellte genau das, was Eileen vorausgesagt hatte. Nina holte das Tablett, das schon auf der Theke bereitstand, und balancierte es durch den Raum. Bloß nichts verschütten! Jetzt erst schien der Gast Nina richtig zu bemerken. Er blickte sie durch dicke Brillengläser an und lächelte schief. „Oh, ein neues Gesicht!“

„Nein, das ist noch immer mein altes“, konterte Nina schlagfertig.

„Ich hab Sie aber noch nie hier gesehen.“

„Das wird sich ab jetzt ändern.“

„Na, das klingt sehr erfreulich.“

Nina kehrte zur Theke zurück.

„Gut gemacht“, lobte Eileen sie. „Du bist nicht auf den Mund gefallen, das braucht man in diesem Job.“

„Eileen, einmal Bratkartoffeln!“, rief Paul von der anderen Seite der Theke.

„Sofort.“ Eileen verschwand in der Küche. Im gleichen Moment kam ein neuer Trupp von Gästen herein, triefend vor Nässe. Draußen ging gerade ein Wolkenbruch nieder.

Nina half den Gästen, die nassen Jacken aufzuhängen, zeigte ihnen den Schirmständer und nahm die Bestellungen auf. Im Nu war sie unzählige Male hin und her geflitzt. Ein anderer Gast wollte zahlen und Nina sagte Paul Bescheid. Die nächste Stunde war so anstrengend, dass Nina fast pausenlos herumhetzte. Dann wurde es etwas ruhiger und Nina flüchtete in die Küche. Eileen holte gerade ein paar Fertiggerichte aus dem Mikrowellenherd und deutete auf die Anrichte. „Hier steht eine Cola für dich.“

Nina trank gierig. „Ist das immer so stressig bei euch?“

„Unterschiedlich. Meistens kommt alles zusammen und dann bräuchte man vier Beine und acht Hände.“ Eileen lachte. „Und? Macht’s dir wenigstens Spaß?“

„Meine Schuhe drücken tierisch“, gestand Nina.

„Warte, irgendwo hier gibt’s Pflaster und Watte.“ Eileen schaute in die Schränke und fand schließlich das Gesuchte. Nina versorgte ihre Zehen.

„Du hast tolle Beine“, meinte Eileen. „Treibst du viel Sport?“

„Kaum. Ich tanze gerne und zu Hause bin ich manchmal Rad gefahren.“

„Der Job hier geht total in die Beine.“ Eileen seufzte. „Ich fürchte, in ein paar Jahren werde ich Krampfadern haben.“

„Habt ihr ein Plauderstündchen oder was?“ Paul steckte den Kopf in die Küche. „Jemand muss raus, es sind neue Gäste gekommen.“

„Heute ist wirklich der Teufel los“, bemerkte Eileen. „Halt, nimm das hier mit, Nina. Zweimal Lasagne für das Pärchen am Fenster.“

Nina verlor allmählich jedes Zeitgefühl. Irgendwann schaute sie auf die Uhr, da war schon Mitternacht vorbei. Als der letzte Gast endlich gegangen war, hatte Nina nur noch den Wunsch, ihre Beine hochzulegen.

„Mir tun alle Knochen weh“, beklagte sie sich auf dem Heimweg bei Eileen.

„Das gibt sich wieder“, meinte Eileen. „Ich glaube, Paul war mit dir zufrieden.“

Ich aber nicht mit ihm, schoss es Nina durch den Kopf. Irgendwann hatten sie über Geld gesprochen. Paul war nicht bereit, ihr so viel zu bezahlen, wie Eileen bekam. Sie sei ja erst eine Anfängerin, hatte er argumentiert. Eileen dagegen sei schon einige Jahre im Geschäft, sie sei fast seine rechte Hand, und etliche Gäste kämen nur wegen ihr.

Ausbeuter!, dachte Nina. Wenn sie das Geld nicht so dringend gebraucht hätte, hätte sie die Arbeit am liebsten gleich hingeschmissen. Sie war entschlossen, den Job nicht länger als nötig zu machen. Auf Krampfadern war sie überhaupt nicht scharf.

„Man lernt bei der Arbeit ’ne Menge Leute kennen“, sagte Eileen nachdenklich. „Hauptsächlich Männer natürlich. Manchmal bin ich so ’ne Art Seelenklempner, wenn sie mir von ihren Problemen erzählen.“

Nina fröstelte und bohrte die Hände tief in die Jackentaschen. Sie war so müde, dass sie keine rechte Energie mehr zum Zuhören hatte. Eileen dagegen wirkte ziemlich aufgekratzt. „Ab und zu verliebt sich ein Kerl dann tatsächlich in mich“, erzählte sie weiter.

„Und was tust du dann?“ Nina wurde neugierig.

„Och, ich mach ihm klar, dass bei mir nichts läuft.“

„Und wenn er dir gefällt?“

„Ich überleg mir gut, was ich aufs Spiel setzen kann.“ Eileens Stimme bekam einen verträumten Ton. „Aber wenn meine große Liebe durch die Tür käme, dann würde ich sofort mitgehen.“ Gleich darauf lachte sie und hakte sich bei Nina unter. „Das ist bloß so eine Spinnerei. Ich glaub, die große Liebe gibt’s gar nicht. Entweder ist es Liebe oder nicht.“

„Und Gefühle sind immer groß“, murmelte Nina und gähnte.

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