Meine persönliche Reformation

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Klaus Niederwimmer


Ökumene XL – oder: Wie mich zwei Kirchen durch mein Leben begleiten

Ich will dich segnen, und du sollst ein Segen sein.“ (1 Mose 12,2) Mit dieser Zusage und mit diesem Auftrag schickt Gott Abraham auf seinen Weg in ein unbekanntes und fremdes Land. Diese Worte hat mir 1985 mein katholischer Kollege und Freund in Kärnten mit auf meinen Weg als evangelischer Pfarrer gegeben. Sie finden sich als Widmung in meinem Benediktionale, einem römisch-katholischen Buch für die Gestaltung von Segensfeiern, das ich heute noch verwende. In meinen mehr als dreißig Jahren als evangelischer Pfarrer begleiten mich diese Worte als Leitwort für mein Leben und Arbeiten durch Höhen und Tiefen, durch segensvolle Zeiten, aber auch durch die Brüche in meinem Leben. Und wenn ich heute darüber nachdenke, stellen sie mir auch die Frage: Warum habe ich gerade diese biblischen Worte ausgerechnet von einem römisch-katholischen Priester bekommen? Warum sind gerade sie mir als ehemaligem Katholiken zum Leitwort meines Lebens geworden? Wenn ich heute darauf eine ehrliche Antwort suche, dann erkenne ich darin etwas vom Handeln Gottes an mir über Konfessionsgrenzen hinweg und vor allem darüber hinaus. Es ist nicht in erster Linie die Frage, in welcher Konfession ich versuche, Glaube und Heimat zu suchen, zu finden und zu leben, sondern die Frage, ob ich mich suchen und finden lasse und dem Handeln Gottes Raum schenke in meinem Leben. Mir ist diese Gnade in der evangelischen Kirche geschenkt worden. Und ich bin davon überzeugt, dass der Weg dorthin durch meine katholische Zeit gut und wichtig war und bis heute unverzichtbarer Bestandteil meines Lebens ist. Vielleicht sind diese Worte aus der Heiligen Schrift ein Ausdruck dafür, dass meine Reise in die evangelische Kirche hinein auch eine Reise in ein unbekanntes Land war, das ich nach und nach erkundet und entdeckt habe und in dem ich schließlich heimisch geworden bin – und in dem ich den Segen Gottes reichlich erfahren habe.

Dabei beginnt meine Konversionsgeschichte eher unspektakulär: Als Schüler der Handelsakademie in Innsbruck werde ich von einem Freund in den evangelischen Jugendkreis eingeladen und fühle mich von Anfang an wohl. Die Gemeinschaft, das Singen, die Ausflüge und auch das Nachdenken über biblische Fragen tun mir gut, ich fühle mich angenommen und zuhause. Da gibt es keinen großen Bruch mit meiner alten katholischen Heimat, keine schlechten Erfahrungen, die ich machen musste, keine Verletzungen, die einen Austritt zwingend werden ließen. Eher ein Herauswachsen und ein Hineinwachsen in Neues. Heute würde ich vom kairós sprechen: davon, dass es einen Zeitpunkt im Leben gibt, zu dem Dinge geschehen, die zu keinem anderen Zeitpunkt so geschehen könnten; einen Moment, der einfach geschieht, weil es so sein soll; einen von Gott geschenkten Augenblick, der auch – wie in meinem Fall – eine Zeitspanne sein kann, in der sich Dinge wesentlich verändern, neu und anders werden, eine Gnadenzeit. Und erst im Rückblick zeigt sich klar und deutlich, dass es richtig war und sich stimmig anfühlt.

Aufgewachsen bin ich in einer normalen katholischen Familie – Gottesdienstbesuche an den Feiertagen, Gräbersegnung zu Allerheiligen, aber auch die Suche nach dem Mehrwert. Meine Zeit als Ministrant habe ich in guter Erinnerung: Das Geheimnisvolle, Fremde, Besondere als Kind zu erleben – es zwar nicht zu verstehen, aber es zu erleben, das ist etwas Unvergessliches. Ich erinnere mich auch daran, dass ich den katholischen Religionsunterricht sehr gerne besuchte, immerhin treu bis zur Matura – einen Unterricht, der mich sehr interessierte und der in meinem Schulalltag eine besondere Rolle spielte. Denn da wurden Fragen des Lebens und Glaubens angesprochen, die auch meine Fragen waren – und ich muss gute Religionslehrer gehabt haben, auch wenn die Erinnerung an sie heute verblasst ist. Da war wohl eine tiefe religiöse Sehnsucht, die schon in meiner katholischen Zeit stark war, aber in ihr nicht erfüllt wurde.

Bald schon fingen mein evangelischer Freund und ich an, den Jugendkreis der Pfarrgemeinde zu leiten und auch sonst in der Gemeinde mitzuarbeiten. Und faszinierend – niemand fragte danach, ob ich denn evangelisch sei. Es wurde entweder stillschweigend angenommen, oder man sprach einfach nicht darüber, weil es nicht wichtig war. In dieser Zeit wurde mein Kontakt zum damaligen evangelischen Pfarrer immer enger. Er imponierte mir sehr als Mensch und Pfarrer mit seiner Familie. Ich begann, ernsthaft darüber nachzudenken, ob ich nicht vielleicht auch Pfarrer werden könnte. Von Anfang an war klar, dass ich mir nicht vorstellen konnte, Priester zu werden. Warum, das kann ich eigentlich gar nicht sagen. Es war mehr ein unbestimmtes Gefühl als ein reflektiertes Wissen. Vielleicht waren mir die Priester, die ich damals kannte, zu fern, zu wenig geerdet, zu wenig persönlich als Menschen erreichbar. Aber sicher bin ich mir nicht. Nur eines ist mir immer klar gewesen: Ich möchte heiraten, eine Familie gründen, Kinder haben, so wie der evangelische Pfarrer, den ich besser kennengelernt hatte – und so war es auch ein sehr pragmatischer Grund, der mir den Weg zur evangelischen Theologie und schließlich ins Pfarramt gewiesen hat.

Es begann ein langer Weg über den Zivildienst, die Sprachhürden Latinum, Graecum und Hebraicum zum Theologiestudium in Wien und Zürich. Inzwischen war ich auch „so nebenbei“ aus der römisch-katholischen Kirche ausgetreten und evangelisch geworden – wenig spektakulär, einfach logisch und konsequent, da ich zu diesem Zeitpunkt schon fünf Jahre sehr aktiv in der evangelischen Pfarrgemeinde mitarbeitete. Wenn ich das heute, 40 Jahre später, reflektiere, merke ich: Es war wohltuend, damals keinerlei Druck von irgendeiner Seite gespürt zu haben, so nach dem Motto: „Jetzt musst du aber schon evangelisch werden.“ Es waren auch diese Weite und Offenheit, die mich bewusst oder unbewusst in meinem Weg bestärkten. Ich wusste – besser: Ich spürte, ich hatte Heimat gefunden in der evangelischen Kirche und in der Pfarrgemeinde in Innsbruck. Ich ging also nach Wien und wurde Student der evangelischen Theologie. Für mich noch heute faszinierend: Gerade in dieser Zeit habe ich die katholische Theologie und Kirche richtig kennen- und besser verstehen gelernt – egal, ob im Fach Kirchengeschichte, in dem mich Personen wie Franz von Assisi genauso faszinierten wie ein Dietrich Bonhoeffer, oder in der Beschäftigung mit Personen und theologischen Fragen der ersten nachchristlichen Jahrhunderte bis hin zum Mönchtum, das von jeher eine große Faszination auf mich ausübte. Vieles Katholische begann ich jetzt auf einmal zu verstehen, bewusst zu achten und zu schätzen, aber auch kritisch zu betrachten (wie z. B. die hierarchischen Strukturen in der römischen Kirche, die mich bis heute befremden, und ich bin stolz auf die manchmal mühsamen demokratischen Strukturen unserer Evangelischen Kirche A.B. in Österreich). Und mir wurde immer bewusster, dass es ein Evangelisch-Sein ohne intensive Beschäftigung mit dem Katholischen gar nicht geben kann. Diese kritisch-wertschätzende Auseinandersetzung konnte ich in meinem Studium führen, und sie ist mir geblieben – bis heute.

Und dennoch war es das typisch Evangelische, das mich in den Bann gezogen hat: das intensive Studium des Alten und Neuen Testaments. Das kritische Lesen biblischer Texte hat mich fasziniert und bis heute ist (fast) jeder biblische Text für mich immer wieder neu beglückend und fordernd zugleich. Mich dem biblischen Text auszusetzen, ihn zu verinnerlichen, ihn mehr und mehr zu begreifen und einen Weg zu suchen, ihn für andere Menschen hör- und verstehbar zu machen, gehört zu den schönsten Herausforderungen für mich als Mensch und Pfarrer.

Vielleicht gehört es auch gerade zu meiner Geschichte, dass ich gleich zu Beginn meines Studiums meine erste Frau kennenlernte, die selbst Theologin und Tochter eines evangelischen Pfarrers ist. So habe ich evangelisches Leben und evangelische Kirche in sehr positiven und vielfältigen Formen kennengelernt, die mich in meinem Evangelisch-Werden sehr geprägt haben.

Seit mehr als dreißig Jahren bin ich als evangelischer Pfarrer tätig. Eine schöne, lange und erfüllte Zeit, in der ich den Segen Gottes in vielfältiger Weise erleben durfte und – so hoffe ich jedenfalls – auch zum Segen für einzelne Menschen in den verschiedensten Lebenssituationen wurde. In diese Zeit fallen auch unzählige Begegnungen mit katholischen Priestern, unzählige ökumenische Feiern in Schulen, in der Öffentlichkeit, bei Trauungen und Begräbnissen. „Ökumene XL“ habe ich in den letzten 30 Jahren erlebt. So erinnere ich mich zum Beispiel an Schulweihnachtsfeiern, bei denen wir die Schüler mit unseren Sketcheinlagen zum Lachen und zum Nachdenken gebracht haben, oder an gemeinsame Trauungen, wo die Hochzeitsgäste über das selbstverständliche gute Miteinander so erstaunt waren, dass sie manchmal fragten: „War das jetzt evangelisch oder katholisch?“

Fast immer waren diese gemeinsamen Gelegenheiten ein Miteinander. Wir versuchten, durch unseren gemeinsamen Einsatz Wege zu finden, damit Menschen etwas von der Nähe Gottes spüren konnten – egal, ob auf dem Friedhof oder bei der „Segnung“ einer Bank. Wir wollten zum Nachdenken anregen, auch herausfordern, aber über allem: den Menschen Gottes Segen zusprechen. Nie wurde mir das Gefühl vermittelt, ich als Konvertit sei weniger wert, man nehme mich nicht ganz für voll oder sehe mich gar als abtrünnig – nie hat mich dieses Gefühl beschlichen. Viele Freundschaften mit katholischen Geistlichen haben sich entwickelt und halten bis heute, und wir sind nicht nur freundschaftlich miteinander verbunden, sondern führen manch theologisches Streitgespräch und lernen immer wieder voneinander im Hören und Argumentieren vom Anderssein des anderen. Ich denke an ökumenische Fahrten nach Rom, Assisi oder zu den Waldensern, bei denen viel Raum war, den jeweils anderen in seinem eigenen konfessionellen Denken und religiösen Empfinden zu erleben, manchmal schmerzlich, manchmal aber auch befreiend offen. Immer wieder fanden wir zusammen, beteten und feierten miteinander und kamen einander näher, auch wenn wir nicht immer einer Meinung waren.

 

Und – dessen bin ich mir ganz sicher: Ich habe mein evangelisches Selbstverständnis gefunden. Nach wie vor ist die Bibel für mich das Zentrum, dem ich mich immer wieder neu zuwende – und das nicht nur, wenn es um das Vorbereiten einer Predigt geht. Auch unser evangelischer Gottesdienst. Er ist mir lieb geworden und diese Liebe wächst mit meinem Lebensalter. Es sind nicht nur die vertraute Form, die bekannten Lieder, es ist auch die zentrale Stellung der biblischen Botschaft, die ich höre und hörbar machen kann. Bereichert durch immer mehr „sinnliche“ Momente ist der Gottesdienst für mich Ort der Gottesbegegnung in einem besonderen Raum zu einer besonderen Zeit. So sehr ich mich freue, ökumenische Gottesdienste zu feiern, so sehr genieße ich es, mich hineinfallen zu lassen in meinen vertrauten Gottesdienst. Er ist mir Heimat geworden in seiner Geradlinigkeit. In unseren einfacheren und manchmal kargeren Gottesdiensten spüre ich das sola gratia, diese bedingungslose Liebe Gottes zu uns Menschen, die mir im katholischen Gottesdienst oftmals durch die priesterlich-liturgische Überhöhung schwerer erkennbar scheint. In den letzten Jahrzehnten habe ich erlebt, dass die Feier des Abendmahls in unseren evangelischen Gottesdiensten immer mehr ins Zentrum gerückt ist, dass immer öfter Abendmahl gefeiert wurde und wird. Ich spüre, dass meine katholische Vergangenheit doch noch sehr stark vorhanden ist und sich nach regelmäßigem Abendmahl sehnt, und bin froh, dass Wort und Sakrament im evangelischen Gottesdienst auch in der Praxis gleichrangig nebeneinander Raum finden – eine gute Entwicklung, die mir ein großes Anliegen war und ist.

Dennoch fahre ich seit Jahren immer wieder in ein benediktinisches Kloster ins Salzkammergut, um innezuhalten, einen Wüstentag einzulegen, mich ins Stundengebet der Mönche zu vertiefen, mich mit meinem geistlichen Begleiter zu treffen. Ich tauche gerne ein in diese Jahrhunderte alte Tradition, die nicht nur unsere Kultur geprägt, sondern auch immer wieder Menschen verändert hat. Das treue Gebet Tausender Menschen tagtäglich rund um den Globus hat etwas geheimnisvoll Schönes, Wertvolles, macht Hoffnung und Mut, dass diese Welt anders sein und werden kann – durch das Beten und Tun vieler! Diesen alten guten Geist zu spüren, diese spirituelle Kraft zu erleben und zu teilen, tut mir gut – vielleicht ein Stück meiner alten katholischen Existenz, die nach Nahrung sucht und sie dort findet; vielleicht ein Zeichen dafür, dass wir in unserer evangelischen Kirche Wege suchen müssen, Menschen auf ihrer Suche nach Spiritualität zu begleiten und ihnen Angebote an die Hand zu geben, die ihnen helfen, ihren Glaubensweg zu finden und gehen zu können. Gerade in der katholischen Kirche gibt es hier ein breites Angebot, das wir nicht zu kritisch betrachten, sondern für uns nutzbar machen sollten. Der ganzheitliche Blick auf den Menschen wird immer wichtiger. Ich denke zum Beispiel an die steigende Beliebtheit von Pilgerwegen und freue mich darüber, dass es nicht nur den Jakobsweg gibt, sondern auch den Weg des Buches. Oder darüber, dass es ein evangelischer schwedischer Bischof war, der vor 22 Jahren die „Perlen des Glaubens“ erfunden hat, ein Gebetsarmband als ganzheitliche Lebens-, Glaubens- und Gebetshilfe. Solche ganzheitlichen Angebote brauchen wir in der evangelischen Kirche, die lange in der Gefahr stand, „nur“ oder in erster Linie etwas für Kopfmenschen zu sein. Ich bin überzeugt davon, dass ich ohne meine katholische Vergangenheit diesen evangelisch-kritischen und zugleich katholisch-offenen Blick nicht haben würde – und ich bin darüber sehr froh.

Es erscheint mir nun fast konsequent, dass mich mein Weg in der „Ökumene XL“ als Klinikseelsorger ins „Heilige Land Tirol“ in ein Team von 15 katholischen Theologen und Priestern mit mir als einzigem evangelischem Theologen/​Pfarrer geführt hat. Ich bin im Team voll anerkannt, geschätzt und gewürdigt und werde immer wieder um meine evangelische Meinung gefragt. Meine katholischen Kolleginnen und Kollegen wissen, dass ich Konvertit bin, und es stört sich auch hier niemand daran. Ganz im Gegenteil: Ich erlebe, dass es oft spannende ökumenische Diskussionen gibt, dass es meinen katholischen Kolleginnen und Kollegen guttut, wenn ich meine evangelische Stimme, die auch eine Stimme der Minderheit ist, erhebe und wir miteinander feiern und beten, gerade auch in unserer Verschiedenheit. Wie gerne bringe ich mich ein bei dem oft geäußerten Wunsch, in einem ökumenischen Gottesdienst zu predigen, das Wort Gottes auszulegen, das die katholischen Kollegen immer noch gerne „uns Evangelischen“ überlassen, weil wir das ja so gut können – aber nicht nur deshalb, sondern weil ich gelernt habe, es gut zu tun, und weil ich es einfach gerne verkündige.

Und – es ist gut zu sehen, wie viele meiner katholischen Geschwister kritisch zu ihrer Kirche stehen und dies auch äußern. Diese kritische Liebe fasziniert mich: Die eigene Kirche zu lieben, in ihr zu wirken und sie gleichzeitig mit sehr kritischen Augen zu betrachten – das finde ich aufregend, das ist für mich auch ein Stück Reformation heute in der katholischen Kirche. Diese kritische Einstellung teile ich oft mit ihnen, habe meine Anfragen z. B. an das katholische Amtsverständnis und die Hierarchie. Gleichzeitig spüren wir, dass wir miteinander unterwegs sind auf derselben Straße – hin zu den Menschen und ihren Nöten und um Wege zu suchen, damit mehr Frieden, Gerechtigkeit und Bewahrung der Schöpfung möglich werden.

Wenn ich diese Zeilen schreibe, dann merke ich, wie viele Momente in meinem Leben zusammenspielen, mich geprägt haben, mich verändert haben und dies immer noch tun. Und das ist gut so! Ich bin auf dem Weg, immer noch ein Suchender und Fragender. Nicht, weil ich meinen Ort und meine Heimat nicht gefunden hätte. Nein! Ich bin evangelisch und das aus vollem Herzen. Aber ich merke, dass es da noch viel mehr und Größeres gibt als konfessionelles Bewusstsein.

So bin ich mir meiner Wurzeln bewusst, will und kann sie nicht verleugnen, aber ich darf weiterwachsen in eine Weite und Offenheit hinein, weil Gottesbegegnung und Menschsein so vielfältig sind wie die Kirchen, in denen sie erlebbar und erfahrbar sind.

KLAUS NIEDERWIMMER, geboren 1956 in Innsbruck; Volksschule und Hauptschule in Innsbruck, Matura an der Handelsakademie 1976; Zivildienst in Gallneukirchen; Studium der evangelischen Theologie in Wien und Zürich; Vikariat in Wallern, Oberösterreich; Pfarrer von 1985 bis 1999 in Spittal an der Drau, anschließend in Unterhaus und Weiz, dann Pfarrer in Klagenfurt Johanneskirche, von 2005 bis 2014 Pfarrer in Salzburg, nördlicher Flachgau; halbjähriges Sabbatical in verschiedenen Pfarrgemeinden in Südschweden; seit 2014 Klinik- und Gefängnisseelsorger in Innsbruck.


Stefan Fleischner-Janits


Allein aus Gnade

Ob ich am Karfreitag in ihren Gottesdienst kommen könnte? Ich kann mich noch genau erinnern, wie aufgeregt ich war, als ich die Pfarrerin der evangelischen Nachbargemeinde gefragt habe, ob ich diesen Feiertag in und mit ihrer Gemeinde feiern dürfe. Vor dem Eingangstor des Evangelischen Gemeindezentrums Arche in Wien-Simmering wartete ich nervös das Ende des Gründonnerstagsgottesdienstes ab, um dann mit schlottrigen Beinen und Herzklopfen Pfarrerin Gerda Pfandl anzusprechen. Ich kam gerade aus der Gründonnerstagsmesse meiner römisch-katholischen Pfarre St. Benedikt, die nur wenige Schritte neben dem mittlerweile verkauften Gemeindezentrum Arche liegt.

In meiner Erinnerung war Pfarrerin Pfandl etwas überrascht von meinem Wunsch, kannte sie mich doch als aktives Mitglied der katholischen Nachbargemeinde. Zu meiner Freude stimmte sie aber sofort zu, freute sich wohl auch ein bisschen und erklärte mir gleich, dass ich als römisch-katholischer Christ selbstverständlich am evangelischen Abendmahl teilnehmen dürfe.

Als ich am nächsten Tag den Karfreitagsgottesdienst besuchte, war ich natürlich auch aufgeregt: ein ungewohnter Kirchenraum, unbekannte Menschen, ein Gottesdienst, der mir nur wenig vertraut war. Zwar hörte ich zu dieser Zeit regelmäßig die evangelischen Gottesdienste auf Ö1 am Sonntagabend, dennoch war vieles fremd und neu für mich. Aber bereits wenige Minuten, nachdem die Glocke den Gottesdienst eingeläutet hatte, wich die Nervosität. Die konzentrierte Liturgie, die schönen Lieder und die ruhige Atmosphäre zogen mich in ihren Bann. Bereits dieser erste Gottesdienst überzeugte mich nachhaltig. Mir war sofort klar: Ich möchte jetzt eigentlich nur noch auf diese Art und Weise Gottesdienst feiern und nicht mehr anders.

Selbstverständlich hatte ich mich schon vorab mit dem Protestantismus beschäftigt. Ich hatte mich, so gut es mir möglich war, in Büchern und im Internet über die evangelischen Kirchen informiert. Ich erinnerte mich an meine Schulzeit und an die ökumenischen Veranstaltungen, die in unserer Schule von den katholischen Religionslehrerinnen bzw. -lehrern und der evangelischen Pfarrerin Lydia Burchhardt gestaltet wurden: die Rorate-Andachten in der Adventzeit, die Andachten in der Fastenzeit, aber auch die gemeinsamen Orientierungstage. Eines jedoch fehlte mir noch: der Besuch eines evangelischen Gottesdienstes.

Bereits sehr früh habe ich mich mit religiösen Fragen beschäftigt, obwohl ich aus einer wenig religiösen Familie komme. Erstmals in Kontakt mit Kirche kam ich in der Volksschule in Wien-Simmering im katholischen Religionsunterricht. Ich weiß nicht mehr genau, was mich so sehr an Glaube und Kirche begeistert hat, aber ich habe gleich Feuer gefangen für die Geschichten, die erzählt wurden. In der zweiten Klasse Volksschule nahm ich an der Erstkommunionsvorbereitung teil, besuchte nach der Erstkommunion die Jungschar und war Ministrant. Ich erlebte meine katholische Pfarre in Kaiserebersdorf als offen und lebendig und traf auf freundliche und engagierte Menschen, die sich um uns Kinder und Jugendliche bemühten. Mir gefielen die Messen an den Wochentagen und am Sonntag. Von Anfang an fühlte ich mich in der Kirche wohl. Und ich ging nicht nur gerne in die Kirche; ich interessierte mich bereits in jungen Jahren für religiöse und – im Nachhinein kann ich sagen – auch für theologische Fragen. Dieses Interesse steigerte sich in der Unterstufe des Gymnasiums und erreichte einen ersten Höhepunkt während der Firmvorbereitungszeit. Eine Zeit, die ich nutzte, um mich noch einmal intensiv – soweit man das in diesem Alter kann – mit religiösen Fragen zu beschäftigen. Zwei Themen waren es, die mir damals schon Kopfzerbrechen bereiteten. Mir war völlig unverständlich, warum wir im Glaubensbekenntnis von der „heiligen katholischen Kirche“ sprachen. Heute weiß ich natürlich, dass damit nicht die römisch-katholische Amtskirche gemeint ist. (Im anglikanischen Gottesdienst habe ich kein Problem damit, wenn im Glaubensbekenntnis von der „holy catholic church“ gesprochen wird.) Aber damals kam es mir komisch vor, und ich tat mir mit der Formulierung schwer. Ich konnte nicht begreifen, warum ausgerechnet diese eine Kirche „heilig“ sein soll, und fand es unpassend, dass ausgerechnet hier die eigene Kirche hervorgehoben wird. In der Konsequenz ließ ich über einen längeren Zeitraum beim Glaubensbekenntnis in der Messe diese Zeile aus und schwieg stattdessen.

Noch viel schwerwiegender war, dass ich am Weihesakrament und allem, was damit zusammenhängt, zweifelte. Mir leuchtete einfach nicht ein, warum nur wenige Auserwählte in der Lage sein sollten, einem Gottesdienst vorzustehen. Warum sollte es nicht möglich sein, dass irgendjemand aus unserer Mitte der Eucharistiefeier vorsteht? Wenn Jesus im Johannesevangelium sagt: „Was ihr mich bitten werdet in meinem Namen, das will ich tun“ (Joh 14,14) – warum sollte das nicht auch bei der Eucharistiefeier gelten? Warum sollte Gott nur dann das Brot und den Wein wandeln, wenn ein geweihter Priester darum bittet? Warum sollte das nicht möglich sein, wenn ein „einfacher“ Christ das tut?

 

Dass ich damals mit vierzehn Jahren noch nicht evangelisch wurde, liegt wohl daran, dass ich andere Kirchen einfach nicht am Schirm hatte. Trotz meiner Zweifel an diesen beiden Dingen war eine Konversion zu einer anderen christlichen Konfession überhaupt kein Thema. Das sollte sich auch in den kommenden Jahren nicht ändern. Während der Oberstufe des Gymnasiums war ich in meiner katholischen Pfarre in unterschiedlichen Bereichen tätig. Ich habe bei den Ministranten mitgeholfen, ich war Firmbegleiter und habe mich auch sonst immer wieder in unterschiedlichen Arbeitsbereichen engagiert. Als liberaler Katholik, der mit der Amtskirche nicht in allen Punkten einer Meinung war, aber trotzdem mit beiden Beinen in der römisch-katholischen Kirche stand. Meine Überzeugung war: Ich muss mich innerhalb der Kirche für Anliegen einsetzen, die mir wichtig sind – für einen anderen Umgang mit Sexualität, eine positive Sicht auf Homosexualität, einen barmherzigeren Umgang mit Geschiedenen, die Zulassung von Frauen zum Priesteramt.

Wann genau ich erstmals mit dem Gedanken spielte zu konvertieren, kann ich nicht mehr auf den Tag genau festmachen. Ich weiß nur, es war in meinem ersten Studienjahr. Ich hatte katholische Fachtheologie an der Universität Wien inskribiert, ein Studium, das mir sehr viel Freude bereitete, nicht zuletzt auch, weil ich viele nette Studienkolleginnen und -kollegen kennenlernte. Und trotzdem kamen in mir immer mehr Zweifel auf und auch meine alten Vorbehalte dem Weihesakrament gegenüber tauchten wieder auf. Ich wurde unglücklicher und unglücklicher mit der katholischen Lehre, mit meinem katholischen Glauben. Je bewusster mir wurde, dass ich mit dem, was ich an der Uni hörte, immer weniger anfangen konnte, umso klarer wurde mir, dass ich mich nach einer Alternative umzusehen hatte. In der römisch-katholischen Kirche sah ich für mich keine Zukunft mehr – auch weil ich wusste, dass ich eines Tages beruflich mit Kirche und Religion zu tun haben will. Ich weiß nicht, ob all diese Fragen ähnlich relevant für mein Leben geworden wären, hätte ich mich für eine andere berufliche Laufbahn entschieden. Hätte ich mich ganz meinem Psychologiestudium gewidmet, das ich gleichzeitig mit dem Studium der katholischen Fachtheologie begonnen hatte, wäre ich vielleicht heute noch katholisch. So aber musste ich mir ernsthaft Gedanken machen, wie es weitergehen sollte. Dabei ging es mir nicht viel anders als den meisten Österreicherinnen und Österreichern: Von den evangelischen Kirchen hatte ich so gut wie keine Ahnung. Was ich kannte, waren in erster Linie Vorurteile, die mit der Realität wenig bis gar nichts zu tun hatten. So sehr ich auch evangelische Pfarrerinnen und Pfarrer, die ich bis zu dem Zeitpunkt kennengelernt hatte, schätzte – auf den ersten Blick war die evangelische Kirche keine Alternative für mich. Nicht zuletzt aufgrund des evangelischen Verständnisses der Eucharistie, wie es mir im katholischen Religionsunterricht vermittelt worden war. „Bei den Evangelischen ist das alles nur symbolisch gemeint“, so das gängige Vorurteil. Das war mir als gutem Katholiken natürlich viel zu wenig. Eine Kirche, die „nur symbolisch“ Abendmahl feiert, damit konnte ich nichts anfangen.

Das Thema ließ mich trotzdem nicht mehr los. Ich begann, mich intensiver mit der Reformation, mit evangelischen Kirchen und protestantischer Theologie zu beschäftigen: Wie war das eigentlich mit Luther, Zwingli und Calvin? Wie verstanden sie das Abendmahl? Und warum gibt es nur zwei Sakramente und keinen Papst in der evangelischen Kirche? Noch bevor ich ganz zurückhaltend und schüchtern anfragte, „ob-ich-denn-wohl-einmal-vielleicht-wenn-es-denn-möglich-sei“ einen evangelischen Gottesdienst besuchen dürfe, hatte ich mich damit auseinandergesetzt. Dabei hatte ich viel gelernt, Erstaunliches gelesen und meine Vorurteile auf den Prüfstand gestellt.

Den Entschluss, die Kirche zu wechseln, fasste ich schließlich wegen eines ganz bestimmten Punktes. So sehr ich davon begeistert war, dass evangelische Pfarrerinnen und Pfarrer heiraten dürfen, dass Sex vor der Ehe nicht unbedingt eine Sünde ist, dass Homosexualität nicht gleich direkt in die Hölle führt und auch Frauen alle Ämter offenstehen – überzeugt hat mich letztlich, ganz klassisch, die Lehre von der Rechtfertigung des Sünders allein aus Gnade durch den Glauben. Oder anders, vereinfacht gesagt: Ob ein Mensch nach seinem Tod in den Himmel kommt, entscheidet sich nicht nach dem, was er auf Erden getan hat oder unterlassen hat. Gott ist kein Buchhalter, der am Ende Bilanz zieht und Verstorbene dann zu sich nimmt, wenn die Zahl der guten Taten jene der bösen Taten übersteigt. Sondern Gott nimmt Menschen zu sich allein aus Gnade, darauf dürfen wir vertrauen, daran können wir glauben. So schrieb es Paulus in seinen Briefen. Eine Botschaft, die von den Reformatoren im 16. Jahrhundert wiederentdeckt wurde.

Mich überzeugte die Rechtfertigungslehre sofort. Nicht, weil ich befürchtete, in der Hölle zu landen. So viel Gottvertrauen hatte ich schon, auch wenn ich alles andere als heilig und perfekt bin. Aber weil diese frohe Botschaft so ganz und gar nicht in unsere Welt passen will und wunderbar paradox ist, fasziniert sie mich. Gott liebt uns, ohne etwas von uns zu verlangen. Ohne dass wir etwas leisten müssten. Er nimmt uns an, so wie wir sind, mit unseren Fehlern und Schwächen.

Freundinnen und Freunde in meinem Alter, aber auch ich selbst, blicken verzweifelt auf ihre Lebensläufe: Habe ich genug Ausbildungen? Sollte ich noch ein Studium dranhängen? Gibt es Kurse, die ich unbedingt machen muss, um beruflich nicht auf der Strecke zu bleiben? Reichen meine Referenzen beim Bewerbungsgespräch? Für Gott jedenfalls reichen sie. Aber auch in Bezug auf andere Religionen: Ich habe den Eindruck, dass immer etwas verlangt wird und man irgendwie verantwortlich für sein Heil ist. Wer lang genug meditiert, wird die Erleuchtung erlangen. Wer wallfahren geht und regelmäßig betet, wird in den Himmel kommen. Wer Armen hilft oder andere Menschen zum Herrn Jesus bekehrt, darf sich die notwendigen Pluspunkte von Gott erhoffen. Mir persönlich ist das alles viel zu menschlich, es entspricht mir zu sehr der menschlichen Logik von „Eine Hand wäscht die andere“ und „Hilfst du mir, helf ich dir“. Nein, Evangelisch-Sein ist anders: Du musst dir dein Heil nicht verdienen, du kannst dir dein Heil nicht verdienen. Vertraue nur auf Gott. Setze deinen Glauben auf ihn. Damit ist auch schon alles getan.

Mich persönlich überzeugt die eben beschriebene Rechtfertigungslehre noch aus einem zweiten Grund: Weil sie meiner Vorstellung von Liebe entspricht – einen anderen Menschen ganz und gar annehmen, so wie er ist, unabhängig davon, was er tut oder nicht.

Als ich mich das erste Mal mit der Rechtfertigungslehre, dem Herzstück evangelischen Glaubens, beschäftigt habe, fiel es mir wie Schuppen von den Augen: Das ist es! Damit hatte ich die Tür zum Katholizismus, der an einer Mitwirkung des Menschen zu seinem Heil festhält, ein für alle Mal zugeworfen. Ich war von einem Moment auf den anderen evangelisch geworden, auch wenn auf meinem Taufschein noch etwas anderes stand.

In den katholischen Vorlesungen hatte ich von da an ein ungutes Gefühl. Ich fühlte mich nicht mehr wohl in den Hörsälen der katholischen Fakultät, etwas hatte sich verändert. Ich hatte meinen Studienkolleginnen und Studienkollegen gegenüber ein schlechtes Gewissen. Denn ich wusste, dass ich irgendwie nicht mehr dazugehörte, innerlich hatte ich mich neu orientiert.

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