Brüder und Schwestern

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V.

Seit Königs Arbeiten zu Brüder und Schwestern sind über fünfzig Jahre vergangen. Versucht man heute das Stichwort Geschwisterbeziehung zu «googeln», so ergibt das an die zigtausend Treffer. Ob das Interesse an dieser Thematik mit der sinkenden Geburtenquote in Deutschland und in den reicheren Industrienationen mit dem Trend zum einzigen Kind zu tun hat, bleibt dahingestellt. Die Fragestellungen sind jedenfalls eng verbunden mit der psychologischen und soziologischen Familien- und Lebensweltforschung. In der Praxis spielen sie in der Pädagogik, der Erwachsenenbildung, der Psychotherapie und in der Biographiearbeit eine nicht ganz unbedeutende Rolle.

Jeder weiß, dass sich in den letzten Jahrzehnten die Verhältnisse für Kinder und Familien grundlegend geändert haben. Die Kinder werden immer weniger, werden dafür aber mit immer mehr verschiedenen Erwachsenen und professionellen Organisationen – Tagespflegestellen, Kinderkrippen, Kindergärten, Horten, Schulen – konfrontiert. Die Verhältnisse sind komplexer und komplizierter geworden: Kindheit wird nicht nur unter dem Aspekt der Geschwisterposition betrachtet, sondern im Zusammenhang mit lebensweltlichen Gesichtspunkten, sozialen, ökologischen, materiellen und individuellen Ressourcen. Königs Forschungsinteresse lag, wie weiter oben schon angedeutet, im sozialen Verhalten innerhalb der Geschwisterreihe und vor allem in der damit verbundenen «Kontaktfähigkeit». Die moderne Entwicklungspsychologie hat sich mittlerweile fast zwangsläufig auf ganz verschiedene Fragestellungen und Themen ausgeweitet. Ein Blick in Hartmut Kastens Geschwister – Vorbilder, Rivalen, Vertraute gibt den Stand der neueren Diskussion wieder. Erwähnenswert ist, dass es Abschied zu nehmen gilt von dem, was uns frühere Forschungen an Befunden über Einzelkinder hinterlassen haben:

Einzelkinder unterscheiden sich gar nicht oder nur noch sehr unwesentlich von Nichteinzelkindern, wenn sie nicht in gestörten familiären Verhältnissen mit Eltern, die beide berufstätig sind, sondern in materiell und ökonomisch gesicherten, harmonischen Verhältnissen aufwachsen (Kasten 2003, S. 45).

Alle Autoren – einschließlich König und Toman – weisen auf die relative Gültigkeit ihrer Ergebnisse hin. Nicht jedes Detail oder konkrete Beispiel gilt für den Einzelfall. Das haben wissenschaftliche Untersuchungen an sich: Es sind Abstraktionen, Verallgemeinerungen der Wirklichkeit, die zwar eine empirische Basis haben, aber zunächst nichts Verbindliches und Definitives über den Einzelfall, den einzelnen Menschen aussagen. Theorien können allerdings helfen, individuelle menschliche Situationen und menschliches Verhalten besser zu verstehen. Denn wer würde behaupten, dass es keinen Unterschied mache, ob man als erstes, zweites oder drittes Kind zur Welt kommt? Keine Schrift, kein Okular eignet sich dazu aus meiner Sicht immer noch besser als Brüder und Schwestern.

VI.

Jenseits der Fachliteratur gibt es wunderbare Beschreibungen von ganz unterschiedlichen Geschwisterbeziehungen. Das Schöne daran ist, dass sie das, was die Wissenschaft relativ trocken beschreibt, viel lebendiger und eindringlicher vor Augen führen, es bestätigen, aber auch widerlegen. Ach, was gibt es da, neben eigenen und fremden ungeschriebenen Geschichten nicht alles zu entdecken über Brüder und Schwestern! Beispielsweise Adalbert Stifters Bergkristall und Der Hochwald, Erzählungen, die König ohnehin in seine umfassenden Vorbereitungen einbezog. Stifters Zwei Schwestern ist relativ unbekannt geblieben, jene geheimnisvolle Geschichte, die sich in den Höhen über dem Gardasee abspielt. Oder Unsre Lieb aber ist außerkohren. Die Geschichte der Geschwister Clemens und Bettine Brentano von Hartwig Schultz, eindringlich auch Uwe Timm, Am Beispiel meines Bruders. Und wem fielen, wenn von Dreien die Rede ist, nicht Dostojewskijs Die Brüder Karamasow ein, oder das jiddische Epos Die Brüder Maschber von Pinhas Kahanowitsch und Die drei Schwestern Piale von Richard Millet. Das beste Geschwisterbuch, das ich in letzter Zeit gelesen habe, ist Der Schwimmer von Zsuzsa Bánk. In dem Roman wird, unglaublich berührend und eindringlich, von der ziellos-sehnsüchtigen Reise des kleinen Isti, seiner älteren Schwester Kata und ihrem Vater erzählt, die von der Mutter und Partnerin im Ungarn der fünfziger Jahre plötzlich verlassen wurden. Den ungewöhnlichen Dokumentarfilm 7 Brüder verdanken wir Sebastian Winkels. In ihm erzählen sieben Männer, geboren zwischen 1929 und 1945, aus ihren Biographien, die sich zu einem faszinierenden Familienuniversum verdichten, in dem sich auf ungewöhnliche Weise deutsche Geschichte spiegelt.

Marie-Luise Kaschnitz, ein Jahr vor König geboren, hatte zwei ältere Schwestern und einen jüngeren Bruder. Ob sie sich in ihrem Leben als drittes Kind in Königs Aussagen hätte finden können, kann getrost offen bleiben. Kaschnitz wusste jedenfalls, wovon sie sprach in ihrem zeitlos gültigen Gedicht:

Geschwister

Was anders heißt Geschwister sein

als Abels Furcht und Zorn des Kain,

als Streit um Liebe, Ding und Raum,

als Knöchlein am Machandelbaum,

und dennoch, Bruder, heißt es auch,

die kleine Bank im Haselstrauch,

den Klageton vom Schaukelbrett,

das Flüstern nachts von Bett zu Bett,

den Trost –

Geschwister werden später fremd,

vom eigenen Schicksal eingedämmt,

doch niemals stirbt die wilde Kraft

der alten Nebenbuhlerschaft,

und keine andere vermag

so bitteres Wort, so harten Schlag.

Und doch, so oft man sich erkennt

und bei den alten Namen nennt,

auf wächst der Heckenrosenkreis.

Du warst von je dabei. Du weißt.

VII.

Abgesehen von Autobiographien erzählen Menschen, die schreiben, ob gewollt oder nicht, immer auch etwas von sich. Sogar Forschungsinteressen, insbesondere mit psychologischem und sozialwissenschaftlichem Hintergrund, haben, schaut man genauer hin, gelegentlich auch einen, wie auch immer gearteten, biographischen Bezug. Freilich lassen sich Menschen nicht in jedem Falle gern zum Studierobjekt für jene machen, die dem Zusammenhang zwischen Biographie und Werk auf die Spur kommen wollen.

Karl König hat das an zahllosen Biographien getan. Aber immer mit einem verstehenden, einfühlenden Gestus und Blick, dem die reine psychologische Beurteilung und die bloße Neugier fremd war. Auch in Brüder und Schwestern heißt es:

Hier aber geht es um Mit-Empfinden, Mit-Erleiden und Mit-Verstehen (König 2013, S. 38).

Diese Haltung lässt sich auch auf ihn selbst, auf das, was er beispielsweise über den Schicksalsweg des einzigen Kindes geschrieben hat, anwenden. Denn wer über Brüder und Schwestern schreibt, muss zwangsläufig auch seine eigene Kindheit und Herkunftsfamilie im Blick haben, kann gar nicht anders, als in seine Überlegungen die Konstellation der angeheirateten Partnerin und der mit ihr gegründeten Familie mit ihren vier Kindern einzubeziehen.

Auffallend ist, dass König, dieser ungeheuer viel schreibende Mensch, in seinem schmalen autobiographischen Fragment, das 1940 endet, nur wenige Zeilen über sich und seine Kindheit berichtete:

Am Anfang dieses Jahrhunderts wurde ich in Wien geboren. Meine Eltern waren Juden; der Vater stammte aus dem Burgenland, die Mutter kam aus dem tschechischen Mähren. Ich wuchs als einziges Kind in relativer Einsamkeit auf. Der Besuch der Volks- und Mittelschule ging nicht ganz reibungslos vor sich, da ich in manchen Dingen recht eigenwillig war (König 2008 a, S. 106 f.).

Seine berufstätigen Eltern betrieben ein Schuhgeschäft, liebten «Karli» und umsorgten ihn. Das Einzelkind hatte von Geburt an einen leicht deformierten Fuß, war aber mit überaus wachen Sinnen und starker Empfindungsfähigkeit begabt und schaute die Welt aus recht altklugen Augen an. Und er hatte etwas Besonderes an sich (Lindenberg 1991, S. 19):

Als einmal ein Professor der Psychologie an dem Schuhgeschäft vorbeiging, wo der zweijährige Lockenkopf in seinem Kinderwagen vor der Tür saß, geriet dieser in solches Staunen, dass er den Laden betrat und fragte, wem das Kind da draußen gehöre. Der stolzen Mutter verkündete er sodann: Das wird einmal ein berühmter Mann werden! Ich habe während meiner gesamten wissenschaftlichen Laufbahn noch nie eine so auffällige Kopfform wie die des Kindes dort gesehen.

Karl König war, was er über Einzelkinder schreibt, ein «Kind der Schwelle». Jene leben in einer Art «splendid isolation», sind nicht viel mit anderen Kindern zusammen, haben nicht viele Möglichkeiten, ihr soziales Kontaktverhalten zu entwickeln. Sehr viel später erst bat er seine Mutter, ihre Erinnerungen aufzuschreiben. Einmal heißt es da:1

Mit großer Sorge habe sie zusehen müssen, wie ihr Sohn immer mehr in sich gekehrt und verschlossen wurde. Migränen hielten ihn oft tagelang im Bett, die Abende verbrachte er außerhalb des Hauses, bei seinem Freund, dessentwegen er die Schule gewechselt hatte. ‹Es lag so eine Traurigkeit in ihm, als wenn er den ganzen Weltschmerz allein tragen müsste. Wir hatten Angst, die Türe zu öffnen, ob wir ihn heil vorfinden werden (Müller-Wiedemann 2016, S. 26).

Der heranwachsende Knabe hatte die Statur des Vaters und ein überproportional großer Lockenkopf ruhte auf einem relativ kleinen, schmächtigen Leib. Die Deformität der Füße machte es notwendig, ein Leben lang orthopädisches Schuhwerk zu tragen. Der Frühreife, der seinen Altersgenossen weit voraus ist, liest und liest und bis zum Lebensende hat er ein besonderes Verhältnis zu Büchern gepflegt. So ein besonderes Kind, band vor allem den Beistand der Mutter, der sich bald in Verehrung und Bewunderung wandelte, die ein ganzes Leben anhielt. Adolf König, der Vater, zog sich, zumal sich sein Sohn früh schon von den Wurzeln des jüdischen Glaubens entfernte, ins Pfeife rauchende Schweigen und die Resignation zurück.

 

Wenn auch Königs Autobiographie nur ein Fragment geblieben ist, seinen Tagebüchern vertraute er bereits als Jugendlicher viel an. Bis zu seinem Lebensende behielt er diese Übung bei, schilderte darin nicht nur äußere Tatsachen, sondern auch innere Stimmungen und Seelenzustände, Reflexionen über die «Rätsel meiner Existenz». Es finden sich Notizen wie «Das Leid der Welt ist in mir» und «Zu Leid, Arbeit und Schaffen bin ich erkoren. Ich bin ein Mensch». Vieles davon ist bislang noch unveröffentlicht. Erfreulich ist, dass sich das, unter anderem im Rahmen der Werkausgabe, zu ändern beginnt und die Quellen für eine objektive König-Forschung zugänglich gemacht werden.

Die Erfahrungen der frühen und späteren Kindheit prägen den Verhaltensstil des erwachsenen Menschen. Dies trifft auch auf Karl König zu. Anke Weihs’ Beitrag «Leben mit Karl König» fasst das, was ansonsten punktuell in den verschiedenen Erinnerungen auftaucht, anschaulich zusammen. Sie, die zum engsten Kreis der Gründerinnen und Gründer gehörte, der Gruppe, die sich bereits in Wien um König scharte, erlebt seine Stärken und Schwächen unmittelbar. Ihr Bild beschreibt den ganzen König, einen Menschen, der streng, anspruchsvoll und oft ungeduldig war, der sehr zornig werden konnte, der pedantisch Ordnung hielt und sie auch von anderen erwartete, der konkrete Vorstellungen hatte, wie eine Arbeit erledigt werden sollte, der den «roten Teppich» liebte, dem es schwerfiel zu verzeihen, der kein Erbarmen kannte, «wenn menschliche Beziehungen in Unordnung gerieten oder Motive verwechselt wurden» (Weihs 2008, S. 162). Aber angesichts der Größe und Energie dieses kleinwüchsigen Mannes relativiert sich all das (ebd., S. 172 f.):

Als persönlicher Ratgeber in der Geisteswissenschaft Rudolf Steiners war Dr. König geduldig, verständnisvoll, aufmunternd, solange sein Gesprächspartner sich ernsthaft bemühte. Er konnte aber beinahe erbarmungslos werden, wenn er den Eindruck bekam, man spiele nur oder wäre der Falschheit verfallen. Sein Zorn hatte die gleiche eigenartige Wirkung, wie seine anderen Charakterzüge: Man fand zu sich selbst zurück, er half einem, das innere Gleichgewicht wiederherzustellen … Ich habe den Eindruck, dass er in diesem Leben eine Portion ‹Göttlichen Zorns› zugeteilt bekommen hatte, um ihn für die Verwandlung anderer Menschen zur Verfügung stellen zu können.

Und freilich, nicht alle haben diesen absoluten und gebieterischen König ausgehalten. Aber, das zählt letztlich, er hat unerschöpflich mit sich gerungen, um «den Löwen in ein Lamm zu verwandeln» (ebd., S. 174).

Auch in der breit angelegten Biographie von Hans Müller-Wiedemann erfährt man merkwürdig wenig und nur andeutungsweise etwas über die familiäre Situation von Karl und Tilla König, die als Mathilde Maßberg als viertes von sieben Kindern zur Welt kam. Der Verbindung, 1929 geschlossen, entstammen vier Kinder. Man kann als Leser nur ahnen, welche Dramatik sich beispielsweise hinter diesem Satz des Biographen verbirgt:

Zunehmend musste Tilla König neben dem immer sich Wandelnden und Voranschreitenden die Liebe des Verzichts üben, aber nie durch all die vielen Prüfungen hindurch ist die Beziehung zu ‹Markus›, wie sie Karl König nannte, abgerissen. Die regelmäßigen Besuche in Botton und die bis zu seinem Tode geführte Korrespondenz mit Tilla legen Zeugnis ab von dem Seelenort, den, im Hintergrund stehend, Tilla für ‹Markus› immer bereithielt, wenn er ihn brauchte (Müller-Wiedemann 2016, S. 404).

Tilla Maßberg, die König bereits in Arlesheim kennenlernte, lud ihn 1928 zu einem Besuch ins schlesische Eulengebirge ein, wo sie mit ihrer Schwester Maria ein kleines heilpädagogisches Institut gegründet hatte. Dort, in Gnadenfrei, einer Siedlung der Herrnhuter Brüdergemeine, die vom Graf Zinzendorf ins Leben gerufen wurde, schildert König in seinem autobiographischen Fragment eine Situation, die sich tief in meine Seele eingrub und schicksalsbestimmend für mich wurde. Es war ein Unbekanntes, das mich hier ergriff und Saiten zum Schwingen brachte, deren Melodien in meinem Inneren bisher nicht erklungen waren. […] Da lag der große Platz mit den beiden mächtigen Wohngebäuden – dem Brüder- und Schwesterhaus. Dort stand die Kirche; sie war innen ganz hell gehalten, vornehm und still. Ich war zutiefst bewegt von der einfach-feierlichen Atmosphäre, die in diesem Raum waltete. […] Hinter dem Ort lag der Gottesacker … jedes Grab war mit einem Stein bedeckt; keiner war größer als der andere. Im Tode sind alle gleich! Auch hier waltete Ernst und Würde, ohne Pomp und Putz. ‹Ja›, dachte ich, ‹so müsste Leben und Sterben von einer Menschengemeinschaft geführt werden.› Die freudige Erschütterung, einem bedeutsamen Ereignis begegnet zu sein, durchdrang mich vollends. Selten hatte mich vorher ein Ort und seine Atmosphäre so unmittelbar ergriffen (König 2008a, S. 122 f.).

Merkwürdig, so denkt sich der zugewandte Leser unwillkürlich, dass er all das ganz und gar nicht mit seiner Liebe zu Tilla Maßberg in Verbindung bringt, die er ein Jahr später heiratet.

Letztlich, so empfindet man, beschreibt König in diesem Abschnitt das, was er, der Heimatlose, ein Leben lang unter großen Mühen sowohl für sich als auch für andere suchte und schließlich auch geschaffen hat: die Entwicklung einer «wahren Gemeinschaft». Sie gehört zu den Grundpfeilern von Camphill. Ein Ort, eine Heimat, eine Gemeinschaft von Menschen, die sich in einem anderen, höheren Sinne als Brüder und Schwestern begreifen. Oder, wie es König in dem Vortrag «Staunen, Mitleid und Gewissen – die neuen Kleider Christi» ausdrückte:

Ich bin ein Mensch nur wenn ich unter Menschen bin. Allein bin ich ein Nichts, kann ich kein Mensch sein (König 2009, S. 97).

VIII.

Ja, es gibt Bücher, die Menschen eine lange Spanne des Lebens begleiten. Ganz individuelle Klassiker, deren man nicht überdrüssig wird. Die man von Zeit zu Zeit durchblättert, hineinliest, wieder weglegt, und dann, irgendwann, wieder zur Hand nimmt. Manche von ihnen sagen einem, dass sich die Mühen des Lebens immer noch lohnen. Manche tragen und entspannen einen mit ihrem langen Atem. Wiederum andere Bücher können einem helfen, sich selbst und andere Menschen besser zu verstehen. Zu ihnen gehört Königs Brüder und Schwestern. Von ihm geht, trotz des sachlichen Impetus, eine Art Poesie aus, die etwas Stilles und Wahres ausstrahlt.

Alfons Limbrunner wurde 1944 geboren und lehrte Soziale Arbeit an der Evangelischen Hochschule für Sozialwissenschaften in Nürnberg. Seine Erfahrungen im Bereich der Sozialen Arbeit bildeten die Basis für zahlreiche Veröffentlichungen als Zeitschriften- und Buchautor. Daneben war er Mitherausgeber der Karl König Werkausgabe. Ein Jahr vor seinem Tod 2017 erschien 2016 im Verlag Freies Geistesleben seine vorletzte Publikation; eine Hommage an die von Karl König ins Leben gerufene Camphill-Bewegung, die bis heute weltweit wirksam ist: Die Wanderer ins Morgenrot – Karl König, Camphill und spirituelle Gemeinschaft.

Brüder und Schwestern

von Karl König

Einleitung

Das Thema, das hier behandelt wird, hat immer wieder die Aufmerksamkeit bedeutender Denker und Beobachter der Menschennatur erregt. Denn die Frage, welche Bedeutung die Geburtenfolge für den Charakter und das Verhalten des einzelnen Menschen hat, ist nicht neu. Verschiedenste Versuche wurden gemacht, eine Antwort auf dieses Problem zu finden; bisher aber konnte keine eindeutige Lösung vorgelegt werden.

Das hing wohl vor allem daran, dass man die Antwort auf einer falschen Fährte gesucht hat. Man dachte da an Unterschiede der Intelligenz, der Initiative, des emotionellen Verhaltens und ähnliche individuelle Charakterverschiedenheiten. In diesen Bereichen aber konnten keine nennenswerten Variationen im Rahmen der Geburtenfolge entdeckt werden. Weder Intelligenz noch Charakter sind zwischen erst-, zweit- und drittgeborenen Kindern so verschieden, dass man von deutlichen Divergenzen sprechen könnte.

Niemand aber versuchte es bisher, das soziale Verhalten innerhalb der Geschwisterreihe ins Auge zu fassen. Als ich – vor jetzt sieben Jahren – mich mit diesen Fragen zu befassen begann, sammelte ich zunächst anhand von einfachen Fragebogen die Geburtenfolge von 150 mir gut bekannten Freunden. Dabei erkannte ich bald, dass weder der Habitus noch der Charakter noch die Fähigkeiten des Empfindens und Erkennens sich der Geburtenreihe entsprechend einordnen ließen.

Stellte ich aber die sozialen Möglichkeiten und Kontaktfähigkeit von Erst- und Zweitgeborenen zusammen, dann wurden die Unterschiede deutlich sichtbar. Ja, ein erster Sohn ordnete sich sozial ganz anders ein als ein zweites Kind. Ein Einzelkind ist in dieser Hinsicht wieder verschieden. Und bei weiteren Vergleichen und dem Studium ihres Lebens und ihrer sozialen Einstellung gaben mir meine Freunde den Schlüssel dafür, die Unterschiede ihres Verhaltens in der Geschwisterfolge zu finden.

Nun ging ich ein Stück weiter und las eine große Zahl von Romanen, Novellen und Biographien unter einem völlig neuen Gesichtspunkt: dem der Geburtenfolge. Und bald konnte ich erkennen, dass die lebensnahen Geschichten und die großen Kunstwerke – den Autoren mehr oder weniger bewusst – der von mir erkannten Regel entsprachen. Der grüne Heinrich, Wilhelm Meister, die Buddenbrook-Geschwister, die beiden Brüder in Otto Ludwigs Zwischen Himmel und Erde und viele, viele andere erdachte und erdichtete Gestalten erschienen plötzlich in einem neuen Licht!

Ein Erstgeborener hat andere Voraussetzungen für sein Verhältnis zu den ihn umgebenden Menschen als ein Zweitgeborener. Ein drittes Kind ist wieder verschieden, und ein Vierter wiederholt die sozialen Züge des Ersten, wie ein Fünfter dem Zweiten, ein Sechster dem Dritten in dieser Hinsicht ähnlich sind. Und dann begann sich Figur an Figur zu fügen, um allmählich ein Bild zu enthüllen, das eine erste Antwort auf viele offene Fragen zu geben schien.

In der Begegnung mit neuen Menschen und Kindern studierte ich ihre Geburtenfolge und fand Bestätigung auf Bestätigung für das einmal Erkannte. Ich beschloss, eine größere Arbeit anhand von Hunderten von Beispielen zu schreiben. Bisher aber konnten nur Ansätze dazu gemacht werden, denn immer vielfältiger wurde der Stoff, immer faszinierender und umfassender. Neue Bilder ergaben sich, die bis ins Mythische der Sagen und Märchenwelt hineinführten. Das ewige Lied der «Zwei Brüder» und die große Elegie der «Zwei Schwestern» tauchten auf. Die hundertfältige Geschichte vom «Brüderlein und Schwesterlein», in der die Schwester älter als der Bruder ist. Aber gleich faszinierend ist der Bilderkreis vom älteren Bruder und der jüngeren Schwester; von den sieben Brüdern, den drei Schwestern (wer denkt nicht sofort an die drei Töchter des König Lear!), den sechs Söhnen und der siebenten Tochter! Hier werden Ur-Imaginationen des Menschseins offenbar, die – heute verborgen – dennoch wirksam sind. Langsam beginnt sich der Schleier, der diese geheimnisvollen Zusammenhänge verdeckt, zu heben.

Vor Kurzem erschien eine Untersuchung, die von der «Workers Educational Association» in London an 7000 Schulkindern durchgeführt wurde. Dabei konnten sehr interessante Tatsachen aufgedeckt werden. Die Verfasserin, die diese Beobachtungen anstellte, schreibt zum Beispiel: «Wir fanden, dass das Ältere von zwei Kindern sowohl als das Ältere von drei und mehr Geschwistern erfolgreicher im Erwerb von Mittelschulplätzen waren, als das Jüngere von zwei und das Jüngste von drei und mehr Kindern.» Und weiter:

«Erstgeborene verbleiben im Großen und Ganzen viel länger in der Schule nach dem Schulentlassungs-Alter als das bei Letztgeborenen der Fall ist. In Mittelschulen stieg das Verhältnis von älteren und ältesten Geschwistern von 34 Prozent für die unter fünfzehn Jahre alten Schüler auf 43 Prozent für die, die sechzehn Jahre und darüber waren, an. Dagegen sank das Verhältnis der Jüngeren und Jüngsten in den gleichen Altersgruppen von 29 auf 20 Prozent.»

An diesen Beispielen zeigt sich zwischen älteren und jüngeren Geschwistern ein deutlicher Unterschied, den man leicht damit erklären könnte, dass die zuerst Geborenen eben klüger sind als die späteren Kinder. Das ist aber nicht der Fall, denn Mary Stewart weist ganz eindeutig darauf hin, «dass sehr eingehende Untersuchungen bei Kindern und Erwachsenen ergeben haben, wie wenig Unterschiede im Intelligenzquotienten zwischen erst- und später geborenen Kindern nachzuweisen sind».1 Und sie fügt dann zwei Beobachtungen hinzu, die von größter Wichtigkeit sind; sie sagt: «In den Staatsschulen scheint es so zu sein, dass spät geborene Kinder weniger Vorteile aus ihren Möglichkeiten und Gegebenheiten ziehen als Erstgeborene.» Und fügt hinzu: «Letztgeborene Kinder sind nicht kraft ihrer Stellung innerhalb der Geburtenfolge weniger intelligent als Erstgeborene. Sie haben aber weniger Selbstvertrauen und Antrieb, um das Beste aus ihren Fähigkeiten herauszuholen.»

 

In dieser Beschreibung zeigt sich deutlich, dass nicht die Intelligenz, sondern das Verhalten eine ausschlaggebende Rolle zwischen Erst- und Spätgeborenen spielt. Wenn man dazu noch erfährt, dass «Mitgliedschaft in uniformierten Organisationen (Pfadfinder, Kadetten usw.) viel größer bei älteren und ältesten Geschwistern als den später geborenen ist» und dass «die ältesten von zwei Geschwistern weniger oft ins Kino gehen als die jüngsten von drei und mehr Geschwistern», dann beginnen sich Unterschiede zu enthüllen, die bisher noch nicht beachtet worden waren. Die Erstgeborenen sind zielstrebiger, eindeutiger und ausgerichteter in ihrem Verhalten als die späteren Geschwister; die Letzteren nehmen das Leben leichter, während die Ersteren den Erfolg und die Bewährung suchen.

Eine amerikanische Psychologin, Margret Lautis, hat die Geburtenfolge in Familien untersucht, deren Väter oder Mütter erfolgreich das Harvard-College absolviert hatten. Sie fand unter den Kindern dieser amerikanischen Oberschicht einen sehr deutlichen Unterschied zwischen Erst- und Zweitgeborenen, den sie in der folgenden Art beschreibt:

Das älteste Kind ist auf die Erwachsenen hinorientiert. Es ist ernster, empfindlicher (d.h. es ist leichter verletzlich und muss kaum bestraft werden). Es ist gewissenhaft und brav. Es liest gerne und liebt es, Dinge zusammen mit Erwachsenen zu tun. Es ist entweder ein Mutterkind und scheu, ja oft auch furchtsam; oder es ist voll Selbstvertrauen, unabhängig und in sich ruhend […] Im ersten Fall braucht das Kind die Nähe des Erwachsenen und wird von ihm geleitet und geführt. Im anderen Fall imitiert das Kind die Großen und wird zu ihrem Abbild.

Das zweite Kind hingegen ist nicht so bemüht um die Anerkennung der Erwachsenen. In dieser Hinsicht ist es kräftiger als die Erstgeborenen. Entweder ist es gelassen, bequem, freundlich, fröhlich und leicht lenkbar – trotzdem es keine besonderen Anstrengungen macht, den anderen zu gefallen. Andererseits kann es aber auch trotzig, rebellisch und unabhängig sein, fähig, eine große Zahl von Strafen zu ertragen und zu akzeptieren. Was diese beiden Typen Zweitgeborener gemeinsam haben, ist ihre relative Unberührtheit von aller Art von Strafen und ihre relative Unabhängigkeit von der Welt der Erwachsenen.2

Diese Beschreibung des Unterschiedes zwischen Erst- und Zweitgeborenen wirft ein deutliches Licht auf die Art ihres Verhaltens. Nicht die Intelligenz, nicht die geistigen Fähigkeiten oder der Umfang und die Vielfalt der Gefühle sind verschieden, sondern die Beziehung zur Umwelt der Großen wird hier primär hervorgehoben und charakterisiert. Im sozialen Kontakt zeigen sich die Differenzen, die dann sekundär auf den Charakter in seiner Ausbildung und Entfaltung einwirken.

Allerdings sind die Verhaltensweisen nicht immer so eindeutig und einfach, wie sie hier beschrieben werden; denn die Geschwisterreihe als Ganzes muss immer mit in Betracht gezogen werden, und erst wenn das geschieht, enthüllen sich die markanten, aber vielfältigen Züge der Erst-, Zweit- und Drittgeborenen. Brüder und Schwestern ergänzen einander und bilden zusammen eine höhere Einheit. Erst das Gesamt einer Familie ergibt eine Ganzheit, in welcher der Einzelne die ihm zustehende Aufgabe zu erfüllen hat. Grundlegend aber ist der Unterschied zwischen denen, die an erster, zweiter oder dritter Stelle der Geburtenreihe stehen. Dort entfalten sich die Hauptthemen, die das soziale Verhalten bestimmen. Der Viert-, Fünft- und Sechstgeborene wiederholt die drei ersten Geschwister, und die folgenden Kinder sind thematische Variationen der drei Grundmelodien.

Fällt ein Kind durch Tod oder schwere und chronische Erkrankung aus, dann rückt die gesamte Geschwisterreihe nach und die Änderung der Plätze führt meistens zu erhöhten seelischen Spannungen in den einzelnen Persönlichkeiten. Stirbt zum Beispiel der älteste Bruder, dann tritt der Zweitgeborene an seine Stelle und kommt nun in schwere innere Konflikte, weil er seelisch etwas in seinem sozialen Verhalten umstellen muss, was bisher seiner innersten Anlage entsprochen hat.

Der ermordete amerikanische Präsident Kennedy war ein zweites Kind. Sein hochbegabter älterer Bruder, der sich darauf vorbereitete, Präsident zu werden, kam im Krieg bei einem Fliegereinsatz um. Der zweite Bruder musste nachrücken; er war eigentlich ein Künstler; ein mutiger, frischer, unabhängiger Mensch, der nun die Schuhe der Erstgeburt anziehen musste. Er tat dies mit völliger Hingabe und erreichte das Ziel, das seinem älteren Bruder versagt war. Eine ähnliche Schicksalsfigur waltete beim vierten und fünften Kind der gleichen Familie. Denn die Schwester Kathleen kam – als verwitwete Herzogin von Devonshire – bei einem Flugzeugunglück um. Nun musste die fünfte, Eunice, an ihre Stelle treten. Sie ist die Frau von Sargent Shriver, dem gegenwärtigen Leiter des amerikanischen Friedens-Korps. Sie aber organisiert die ausgedehnte Hilfe, die heute in USA zurückgebliebenen Kindern und Erwachsenen gegeben wird.

Überhaupt sind die Schicksale der neun Kennedy-Geschwister ein erstaunliches und sprechendes Beispiel für die in den folgenden Aufsätzen beschriebenen Regeln der Geschwisterreihe.

Beginnt man dafür einen Blick zu entwickeln, dann eröffnen sich ganz neue Seiten für das Verständnis menschlichen Verhaltens. Was hier dargestellt wird, ist ein Anfang und kann deshalb keinerlei Anspruch auf Vollständigkeit machen. Allerdings wird eine Tür geöffnet, deren Vorhandensein bisher noch kaum bemerkt wurde. Nimmt man sie wahr und versucht man ihren Schlüssel zu erwerben, um sie aufzuschließen, dann führt sie in die drei Säle des ersten, zweiten und dritten Kindes. In diesen drei Räumen findet man die vielgestaltigen Zeichen und Embleme, die den Kindern mit in ihre Wiegen gelegt werden.

Ein Erstgeborener verhält sich anders als ein Zweiter oder gar ein Dritter. Denn der Erste ist durch seine Erstgeburt ein traditionsgebundener Mensch; ob er es will oder nicht – ob es seinem Temperament und seiner Lebensart entspricht oder nicht –, er ist vom Schicksal dazu gezwungen und geführt, ein Wahrer und Bewahrer, ein Mehrer und Behüter zu sein.

Der Zweite aber ist ein In-sich-Ruhender; ein Freier, Ungebundener und Streifender. Die ganze Erde ist sein Eigen; nicht zum Besitz, sondern zur Freude. Nicht zum Ziel, sondern zur seligen Lust.

Der Dritte ist der Seltsame und Fremde. Der Zweite kehrt gerne nach Hause zurück; nicht so der Dritte. Er bleibt ein Eigener, In-sich-Abgeschlossener, nach kaum erreichbaren Zielen Strebender. Die Großen unter ihnen werden Feldherren und Päpste. Johannes XXIII. zum Beispiel war ein neuntes und daher drittes Kind; Feldmarschall Montgomery, der politisierende und eigenwillige Sieger von El Alamein, ist ein Drittgeborener.

Solche Zusammenhänge zu erkennen, wird in den kommenden Jahrzehnten von größter Bedeutung sein. Denn die alten Formen der Familie sind im Umbau begriffen. Die Großfamilien sind in Auflösung, und die Kleinfamilien, die nur mehr aus Eltern und Kindern bestehen, versuchen ihre neuen Gesetzmäßigkeiten zu finden. Dazu aber wird es gehören, die besonderen sozialen Verhaltensweisen innerhalb der Geschwisterreihe zu verstehen, um den Kindern und heranwachsenden Jugendlichen besser gerecht werden zu können, als das bisher noch der Fall ist.

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