Rost

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Erst wenn sie damit fertig war, konnte er tun, was er wollte. Er hatte bis zum Mittagessen Zeit. Nach dem Essen musste er mit ihr noch in den Heizkeller gehen, wo die Wachteln wohnten, danach hatte er endlich seine Ruhe. Bis zum nächsten Tag, wo alles wieder von vorn losging: Frühstück, Friedhof, Kaninchen.

Auch die Wochentage hatten ihre Ordnung. Freitags fuhren sie in die Stadt zum Einkaufen. Er lenkte den Wagen. Manchmal durfte er sich in der Zeitschriftenabteilung ein Comic-Heft mit Geschichten über Dagobert Duck und all die anderen holen. Meistens nicht. Samstags gab es eine Stunde Gymnastik und abends wurden Bücher gelesen, sonntags lief eine Tiersendung im zweiten Programm, nach dem Mittagessen gab es Nachtisch, und später schaute man feierlich zusammen die Serie Im Guten und im Schlechten. Montagabends kamen zwei Damen zum Kartenspielen, dienstags musste man zu Herrn Romek fahren, der von Großmutter Eier kaufte. Mittwochabends hängte Szymek einen leeren Futtersack an den Zaun, denn Donnerstagmorgens kam der Wagen von Naturka. Man hörte ihn schon von Weitem. Die lebhafte Melodie ergoss sich über Chojny und lockte die Menschen aus den Häusern. Das gelbe, schlammbeschmierte Auto mit dem Lautsprecher auf dem Dach stoppte bei den ausgehängten Säcken und den auf die Straße gestellten Schubkarren. Für einen Moment verstummte die Musik, die Tür ging weit auf und hinter dem Lenkrad schlüpfte geschickt Herr Jurek hervor, mit seinen ganzen hundert Kilo, seinem runden Gesicht und dem Nacken wie ein Baumstamm. Um seinen Kopf ringelten sich rote Löckchen. Szymek lief die Treppe hinunter, schlüpfte in die Schuhe, und schon war er am Gartentor. Herr Jurek gab ihm immer die Hand wie einem Erwachsenen, und Szymek drückte sie fest. Es fiel ihm auf, dass ihm Herr Jurek, im Gegensatz zu anderen Leuten, nie Fragen stellte, sich nicht über ihn beugte, keine witzigen Geschichten erzählte, sondern nur ans Auto gelehnt dastand und wartete.

Großmutter kaufte Futter für die Kaninchen und für die Wachteln, das sie später mit Körnern mischte. Herr Jurek trug die Säcke in den Heizkeller und stellte sie an ihren Platz. Wenn Großmutter ihm die fünfzig Zloty reichte, sagte sie immer:

»Und für den Rest kauf dir ein Brötchen oder so, Junge.«

Manchmal fuhr Szymek mit ihm zum Laden, weil Frau Duszna keine Rothaarigen bediente. Beim Anblick eines rothaarigen Kunden drehte sie sich jäh um und verschwand in dem kleinen Hinterzimmer: angeblich schon immer.

Szymek ging dann allein hinein und kaufte Coca-Cola, Waffeln, manchmal ein Brötchen mit einer Wurst drin. Er zahlte mit dem Geld von Herrn Jurek, reichte ihm draußen die Sachen, gab das Wechselgeld zurück, und Herr Jurek fuhr weiter, während Szymek sich auf den Heimweg machte, ein Fuß vor den anderen, ein Haus nach dem anderen, alles immer bekannter. Das Zlotystück, das er gewöhnlich bekam, für einen Lutscher oder sonst was, legte er später meistens auf die Gleise.

Mit Budzik traf er sich täglich. In der Regel verabredeten sie sich schon vor dem Mittagessen und gingen zur Schaukel, in den Wald oder Fußball spielen. Manchmal versuchten sie, durch das Fenster heimlich Wera Matusiak zu beobachten oder mit der Schleuder ein Rebhuhn zu jagen. Am Nachmittag gingen sie meist zu den Gleisen. Sie legten ihre Gegenstände auf die Schienen und suchten sie später im Gras. Sie winkten den Maschinisten und zählten die Waggons. Budzik fragte ein paarmal nach dem Unfall, nach der Beerdigung und ob es schrecklich gewesen sei. Schließlich hörte er auf damit, es gab wichtigere Themen. Zum Beispiel, ob es Geister gebe. Budzik war der Ansicht – ja.

»Im Gebüsch hinter dem Haus der Ochyra stand früher eine Scheune, darauf haben sie Bomben geworfen, da sind fast hundert Leute verbrannt und alle gestorben, und jetzt geistern sie herum«, verkündete er eines Tages, als sie auf einem Baum saßen und mit der Schleuder auf Vögel schossen.

Szymek zielte mit zusammengekniffenen Augen. Er schoss, verfehlte, wie meistens. »Geister gibt’s nicht«, brummte er.

Budzik versicherte, die gebe es wohl, er wisse das hundertprozentig und würde ja nicht lügen. Sie kletterten vom Baum und gingen zu dem vernachlässigten Hof der Ochyra. Budzik vorneweg. Er ging schnell und schlenkerte mit den Armen. Seine dünnen Unterarme waren braungebrannt. Über dem ausgefransten Bündchen seines T-Shirts waren blasse Fetzen von abgehender Haut zu sehen.

Sie kamen an einigen Häusern vorbei und an einer Wiese mit einem Tor, das größere Jungs aus Latten gezimmert hatten. Ein Stück weiter hielt Budzik an und zeigte auf eine mit Unkraut überwucherte Baumgruppe.

»Da ist es.«

Sie gingen etwas näher ran, Schritt für Schritt, langsam. Junge Bäume, Gras bis zu den Knien, Disteln. Von einer Scheune und von Geistern keine Spur. Szymek nagte an seinem Daumennagel. Er sah sich um. Budzik guckte vor sich hin und erklärte:

»Alle verbrannt. Hundert oder sogar mehr Leute. Vielleicht auch zweihundert. Vater hat gesagt, nachts soll man lieber nicht hierherkommen, weil es hier spukt. Denkst du vielleicht, mein Vater lügt?«

Szymek blieb dabei, dass er es nicht glaube, Budzik nannte ihn einen Frosch, schließlich begannen sie, einander zu überbieten, wer mutiger sei.

»Ich kann sogar dort hingehen und ganz normal scheißen«, verkündete Budzik.

Szymek sagte: »Das machst du nie.« Sie wetteten und machten ab, dass der Verlierer dem Sieger das zweitbeste Klebteil aus seiner Sammlung geben müsse: das zu einem Schmetterling plattgepresste Scharnier oder das Spinnennetz aus Nägeln. Sie gaben sich die Hand und Budzik ging in die Büsche.

Er grinste sein Zahnlückengrinsen. Mitten auf dem zugewachsenen Platz blieb er stehen, ließ die Hose runter und hockte sich hin.

Am Nachmittag überreichte Szymek ihm seinen Metallschmetterling.


Am nächsten Morgen sah Großmutter die Schnur.

Sie setzte sich ans Bett und deckte Szymek bis zum Hals zu. Er schlief nicht mehr, tat nur so. Plötzlich schüttelte sie ihn, er spürte, wie sie ihre kleinere Hand auf seiner Schulter schloss. Er hatte sie einmal gefragt, warum sie an der einen Hand fünf und an der anderen nur drei Finger habe, aber sie wollte nichts sagen. »Durch meine Dummheit«, hatte sie nur gebrummt. Jetzt klang ihre Stimme ganz ernst.

»Szymek.«

Er kniff die Augen fester zusammen.

»Szymek!«

Er sah sie an und sagte nichts.

»Was ist das?«, fragte sie und zog an der Schnur.

Er wollte den entblößten Fuß zudecken, doch Großmutter machte ihn schon los: Sie nestelte lange an dem Knoten am Heizkörper herum, schließlich gelang es ihr, ihn zu lösen, sie wickelte die Schnur zusammen und heftete ihren Blick direkt auf Szymek.

»Ich höre.«

Er sagte ihr alles: von den Geräuschen, vom Allmächtigen, dass der nachts in sein Zimmer wolle und dass er Angst vor ihm habe.

Lange drückte sie ihre Hand auf seine Schulter und atmete tief aus. Sie roch nach Kaninchenfutter. Schließlich nahm sie die Hand weg, steckte die Schnur in die Tasche ihrer Weste und beugte sich zu ihm hinunter.

»Das ist sehr gut, dass du Angst hast. Als ich klein war und im Dunkeln von der Schule heimging, hatte ich auch immer Angst, dass etwas aus dem Gebüsch springen könnte. Das ist bis heute so. Es reicht ein Geräusch, schon springe ich weg. Aber das ist gut, Szymek. Ist es vielleicht eine Kunst, im Dunkeln zu laufen, wenn man sich nicht fürchtet? Eine Kunst ist es, im Dunkeln zu laufen, wenn man vor Angst am ganzen Leib zittert. Es ist ein großes Glück, wenn man sich fürchtet, Szymek. Nur dann kann man zeigen, dass man tapfer ist.«

Wortlos sah er sie an, in die Decke gewickelt. Er wollte, dass sie ihn an sich drückte und nicht mehr losließ.

»Aber weißt du«, sagte sie plötzlich und richtete sich auf. »Wenn der Allmächtige zu uns ins Haus kommt, dann erschieße ich ihn.«

Er sagte lange nichts, blickte zum Fenster, dann zu ihr, dann wieder zum Fenster. Schließlich fragte er:

»Womit denn? Du hast doch gar keine Pistole, Oma.«

»Doch, ich hab eine. Und ich erschieße ihn mit der Pistole, wenn er hier reinkommt. Verstehst du? Ich erschieße ihn. Bei mir musst du vor nichts Angst haben.«

Sie stand schon auf, als er sie bat, ihm die Pistole zu zeigen. Er rutschte ein Stück höher und lehnte den Kopf an die Wand. Sie seufzte und schloss die Augen. Er hörte, wie sie etwas vor sich hin flüsterte. Sie ließ ihn kurz allein, kam mit einer Kaffeedose aus Blech wieder, nahm die Pistole heraus und drehte sie in den Händen:

»Die ist echt und schießt. Jetzt hast du’s gesehen und musst dich nicht mehr an der Heizung festbinden. Wenn er kommt, dann ruf nach mir. Ich komme und erschieße die Nervensäge.«


In der einen Waschmaschine hatte er die Spielsachen, auf die zweite horchte er abends. Alle paar Tage rauschte sie im Flur, direkt neben der Tür zu seinem Zimmer, und schreckte den Allmächtigen durch die rhythmische Umdrehung der Trommel ab. Szymek fühlte sich dann sicher und schlief ruhig ein.

Früher, in seinem ersten Leben, wurde nachmittags gewaschen, von Mama. Sie kam von der Arbeit zurück, machte Musik an, legte die Einkäufe in die Schränke und den Kühlschrank, schwirrte durch die Wohnung und verschwand im Bad. Bevor das bekannte Blubbern der Waschmaschine ertönte, hörte Szymek noch das Quietschen des geöffneten Fensters und das Knipsen des Feuerzeugs. Mama rauchte eine Zigarette am Tag, immer im Bad, immer allein. Manchmal wollte er zu ihr hinein, sie etwas ganz Wichtiges fragen oder ihr eine sehr lustige Geschichte aus einem Märchen erzählen, aber sie bat ihn, damit zu warten.

 

»Das ist meine Zeit jetzt«, sagte sie dann und schloss die Tür wieder.

Für diese paar Minuten war sie wirklich verschwunden. Sie war dann nicht bei ihm, sie war nicht in der Wohnung, vielleicht gab es sie überhaupt nicht mehr. Er wusste dann nicht, was er mit sich anfangen sollte. Die Stille wurde immer quälender, die Zeichentrickfilme kamen ihm blöd vor, die Comics wollte er nicht anrühren. Endlich ging die Badezimmertür auf, und Mama existierte wieder: Sie schlug die Zeitung auf, wechselte die CD, sie buk einen Kuchen. Alles war wieder an seinem Platz, auch Szymek.

Einmal, als er Kühe ausmalte, machte er einen schwarzen Fleck auf sein Lieblings-T-Shirt mit Splinter von den Ninja Turtles und lief ganz aufgelöst zu Mama, es war schließlich das T-Shirt mit Splinter, dem Chef der Schildkröten, das beste T-Shirt der Welt. Mama legte ihm die Hände auf die Schultern und sagte mit ernster Stimme:

»Hab keine Angst. Wir stecken das T-Shirt in die Waschmaschine, und Splinter ist gerettet.«

Sie sollte ihm versprechen, dass Splinter in der Waschmaschine nicht kaputtgeht und nicht ertrinkt, dass die schwarzen Flecken weggehen und alles gut wird. In ihrer Waschmaschine sei Splinter ganz sicher, antwortete sie. Die Waschmaschine hatte schon Lilo und Stitch, Papa Schlumpf, Mike Wazowski von den Monsters und Lucky Luke mit seinem Pferd gerettet. Keinem von ihnen war etwas passiert, und Lucky Lukes Pferd sah nach der Wäsche sogar zufriedener aus als vorher. Ja, in Mamas Waschmaschine war alles in Sicherheit.

Jetzt, da er bei Großmutter wohnte, bedauerte Szymek, dass die Waschmaschine nicht größer war und er nicht zusammen mit den Eltern hineingestiegen war vor ihrem Ausflug nach Warschau. Bei Großmutter war es langweilig, seltsam und manchmal furchtbar traurig, vor allem abends, vor allem, wenn alles still war und die Eltern immer noch nicht lebten. Er lag dann mit offenen Augen da und horchte auf die Züge, die in der Ferne vorbeifuhren.

In seinem ersten Leben waren die Züge viel lauter gewesen. Sie hatten in einem sechsstöckigen Wohnblock an der Opałka-Straße gewohnt, nicht weit vom Bahnhof. Sein Zimmer hatte ein Fenster zur Straße, und abends, bis an den Hals in die Decke gehüllt, lauschte er dem geheimnisvollen Rauschen und Pfeifen, das hinter den Schrebergärten ertönte. Bei Großmutter konnte man die Züge kaum hören. Er wartete, dass einer pfeifen würde, doch das war selten der Fall. Sie fuhren in weiter Entfernung, am Wald, dort, wohin er immer mit Budzik ging.

Auf den Gleisen hatte er in letzter Zeit wenig Glück. Viermal hintereinander hatte er sein Klebteil nicht gefunden, viermal hintereinander musste er das fröhliche Quietschen von Budzik ertragen, viermal hintereinander kam er mit leeren Händen nach Hause. Jetzt lag er mit heruntergestrampelter Decke im Bett und überlegte, was er tun könnte, damit es besser würde. Es gab viele Optionen, er wählte die riskanteste: Er würde einen Stapel von vier oder fünf alten Münzen legen, die er im Glas hatte, und obendrauf das neueste Zlotystück von Herrn Jurek. So eine hohe Konstruktion war gefährlich, aber er hatte das Gefühl, morgen würde es gutgehen. Mit diesem Gedanken schlief er ein.

Morgens erwachte er vom Geräusch der Kaffeemühle, und es ging weiter wie immer: Frühstück, Kaninchen, Einkaufen in der Stadt, Großmutter taub für seine Bitte um das neue Comic-Heft, dann Mittagessen, sehr gut, mit Möhren, dann die Wachteln und erst danach frei. Es war Freitag, warm, vier Tage Pech auf den Gleisen lagen hinter ihm, heute würde er Glück haben, heute war sein Tag. Budzik trug eine Metallplatte, aus der Werkstatt seines Vaters geklaut wie fast alles, woraus er seine Klebteile machte. Er wollte sie ein wenig schräg auf die Schiene legen, damit sie der Länge nach glattgepresst und die zwei Ecken abgeschnitten würden. Szymek blieb bei seinem riskanten Münzenturm.

Sie arrangierten alles und setzten sich in den Sand am Wegrand. Im Wald rauschte es. Der Wind schüttelte die Zweige der Bäume, in der Ferne, über der Stadt sammelten sich Wolken. Szymek pfiff auf einem Grashalm und dachte an nichts. Ein paar Minuten später kam der Zug, ein schneller Personenzug, das heißt, wenig Chancen. Er fuhr vorbei und erfüllte die ganze Welt. Gleich darauf durchsuchten sie das Gebüsch und das Unkraut.

Wieder hatte nur Budzik Glück. Unter der Last der Lokomotive hatte sich seine Platte in eine lange, glänzende Zunge verwandelt. Von den Münzen keine Spur, sie waren weit Richtung Wald geflogen. Szymek suchte, durchkämmte wieder und wieder das vertraute Gebüsch, fünf Minuten, zehn Minuten, zwanzig. Am Anfang half ihm Budzik, dann setzte er sich wieder an den Wegrand und betrachtete das neue Element seiner Sammlung. Der Wind wurde immer stärker, es begann zu nieseln. Szymek, rot im Gesicht, riss büschelweise Gras aus. Einer jungen Birke versetzte er einen Tritt, sprang zurück und jaulte vor Schmerz. Er richtete sich auf und schaute nach dem nächsten heranfahrenden Zug. Er atmete ganz langsam. Wann er zu weinen begann, wusste er nicht. Er stand da, mit zerzausten Haaren, zierlich, braungebrannt, mit roten Wangen, die Arme hingen schlaff an ihm herunter, und dann trat er auf das Gleis und schloss die Augen.

2

Getöse. Alles begann zu beben: der Schrank, die schimmernde Uhr, die Teller in der Kredenz und das Bett, auf dem sie lag. Sie träumte vom ersten und letzten Tag in der Schule. Ein bisschen müde, schläfrig und ein bisschen stolz saß sie da, denn es war schon die zweite Klasse; plötzlich sagt die Lehrerin, sie sollten alle wieder nach Hause gehen, am besten zusammen, sofort. Sie schlug die Augen auf, aber in ihrem Kopf war alles noch verworren, und sie wusste nicht, ob sie gerade die Schule verließ oder bei Familie Nagórny lag. Dann erinnerte sie sich: In der Schule war sie vor ein paar Tagen gewesen, doch jetzt lag sie da, schlief, hatte geschlafen – das Bett, ein bisschen Spucke auf dem Kissen und ein heißer Streifen Sonne auf der entblößten Wade. Und dieser Lärm. Sie drehte sich auf den Rücken, es krachte zum zweiten Mal. Beim dritten Mal lief sie schon: über das große, weiche Federbett, dann durchs Zimmer und die nach Pfannküchelchen duftende Küche, weiter über die Treppe, durchs Gras, quer über den Schatten des Hauses der Nagórnys. Neben dem Brunnen blieb sie stehen und reckte den Hals.

Gleichmäßig zogen sie über den Himmel, eines neben dem anderen, schön, glänzend. Mindestens ein Dutzend. Aus Kłodawa Richtung Stadt. Sie sah, wie sich von einem ein kleines Komma ablöste. Langsam fiel es herunter und verschwand hinter Bäumen. Es schien den Hof der Familie Drews getroffen zu haben. Sie hielt sich die Ohren zu und wartete. Diesmal war es still. Lange presste sie die Hände gegen den Kopf. Sie hörte nur ihren schnellen Atem.

Jemand schrie, ein Stück weiter wieherten Pferde. Kurz darauf kamen die Nagórnys angelaufen, wieder krachte es.

»Na komm«, sagte Frau Nagórna und drückte sie an ihre nach Räucherspeck riechende Schürze. »Alles ist gut.«

Tosia dachte über diesen Satz nach, der in letzter Zeit so oft wiederholt wurde. Am ersten Schultag hatte man sie nach Hause gejagt, dann hatte ein Bombensplitter den jungen Cabała im Garten getötet, Mama hatte in der Küche zweimal geweint, und Papa hatte die ganze Nacht nicht geschlafen, und trotzdem hörte sie seit ein paar Tagen überall, alles sei gut. Sie drückte sich enger an den Bauch der Nachbarin.

Schweigend, unbewegt blickten sie zum Himmel. Herr Nagórny schirmte die Augen mit der Hand ab. Er sagte, sie wollten den Bahnhof bombardieren.

»Aber den Bahnhof haben sie doch schon am Samstag bombardiert.« Seine Frau strich Tosia über den Hals, ihre Hand war hart und trocken.

Herr Nagórny antwortete nicht, denn in diesem Moment waren wieder Flugzeuge zu sehen. Sie kamen aus der Stadt zurück, wurden immer größer. Nagórny nahm Tosia hoch und lief mit ihr ins Haus, die Frau ihnen nach. Als sie die Tür schlossen, ging eine Erschütterung durch das Gebäude. Die Küchenwand barst in einer Zickzacklinie, von der Decke senkte sich eine Staubwolke herab. Im Zimmer stürzte der Schrank zu Boden. Holz knirschte, dann wieder Getöse von draußen. In der Stille zwischen den Explosionen hörten sie, wie draußen jemand schrie, der Teufel sei gekommen, man solle beten. Tosia kam zu dem Schluss, es musste Herr Budzikiewicz oder der alte Duszny sein, von dem ihr Vater sagte, er sei verrückt. Noch einmal bebte das Haus, und danach war es still. All das dauerte nur wenige Minuten.

Mama kam mit Michaś an, unter Tränen, wie bei Mama üblich, und drückte sie gleich – wie konnte ich dich nur hierlassen, Kind – auf der Schwelle an sich, schob sie wieder weg, drückte sie wieder. Kommt, wir müssen Vater finden, ob ihn in der Schmiede nicht was getroffen hat, Jesses Maria, gehen wir.

Vater stand schon auf der Straße, zusammen mit den anderen. Völlig zugestaubt, und das Pferd wie ein fremdes – statt weiß plötzlich grau. Die meisten Leute schauten zu den Ochyras hinüber, wo die Scheune brannte und Geschrei ertönte. Bugaj sah zum Himmel und lief los. Vater lief auch los, zusammen mit einigen anderen.

Tosia erinnerte sich an die Leute, die in der Scheune schliefen. Sie waren am Morgen desselben Tages von der Landstraße abgebogen. Sie war hinausgelaufen, um zu gucken. Es waren viele Leute gewesen, sie kamen von der Stadt her, sechs Wagen, beladen mit Menschen und mit allem, was man auf einen Wagen laden kann. Vor dem Haus der Ochyras hielten sie, und ein paar sprangen herunter. Derjenige, der am meisten sprach, war sehr jung. Sie sprachen lange mit dem alten Ochyra und sagten, sie müssten sich ausruhen, schlafen, bräuchten ein Dach über dem Kopf; am nächsten Morgen wären sie nicht mehr da, das versprachen sie. Sie seien schon den dritten Tag auf der Flucht vor den Deutschen. Zur Familie in der Nähe von Warschau, dort sei es sicher. Ochyra sagte, sie könnten bleiben, so lange sie wollten. »Man muss sich jetzt helfen, verdammt noch mal.«

Sie hatten Felle, Decken, Pelze von den Wagen geholt und in der Scheune ausgebreitet. Einer der Männer, ein Alter mit Star im Auge, dankte Ochyra auf Knien. Ochyra kratzte sich am Kopf und schnitt Grimassen, wie es so seine Art war. Es war noch keine Stunde vergangen, da hatten schon fast alle Ankömmlinge geschlafen.

Jetzt sah Tosia zu, wie das Dach der Scheune einstürzte und Flammen herausschlugen. Das Tor war durch ein großes Stück des qualmenden Strohdachs versperrt. Immer weniger Leute schrien, doch diejenigen, die noch schrien, schienen lauter zu schreien. Wörter konnte Tosia nicht unterscheiden, das waren keine Wörter mehr, das Feuer schoss durch die Löcher im Dach und verbreitete sich nach allen Seiten, der Hühnerstall und die meisten Wagen im Hof brannten schon, es stank nach etwas Scharfem, Süßlichem.

Sie ging zu Mama und nahm sie bei der Hand. Mama war wie ein Stein, sie sah sie nicht einmal an. Als wieder ein Stück Dach krachend in die Scheune fiel, schmiegte sie sich fester an Tosia.

Auf dem Hof wurde es immer heißer, die Glut schlug in die Gesichter. Vater stand in der Grätsche am Brunnen, zerrte an der Kette und zog Wasser heraus. Er füllte es in einen anderen Eimer, und Herr Ochyra lief zur Scheune und goss das Wasser direkt ins Feuer, wobei er viel verschüttete. Bugaj und andere versuchten mit Stöcken, das schwere Stück Strohdach wegzuräumen. Frau Ochyra stand hinter ihrem Mann und betete laut.

Etwas stemmte von innen das verrammelte Tor auf. Niemand schrie mehr. Die dunkle Gestalt eines Menschen schwankte heraus und fiel neben einem der Wagen auf die Knie. Vater ließ die Kette los, es platschte. Herr Ochyra, über den Eimer gebeugt, erstarrte. Die Gestalt schwieg. Sie hielt die Hand an die Stelle, wo das Gesicht sein musste. Sie brannte vollständig, außer den Beinen, die nackt waren. Als die Gestalt den Kopf senkte, sah Tosia, dass etwas abfiel. Gleich darauf noch etwas. Aus dem offenen Mund dampfte es. Bevor Vater angelaufen kam und die Gestalt mit einem großen, von der Leine gezogenen Federbett löschen konnte, lag sie schon flach ausgestreckt am Boden.

Tosia erfuhr nie, wie die Gestalt hieß, woher sie kam, wie alt sie war und was sie empfand, als sie in der brennenden Scheune aufhörte, ein Mensch zu sein. Nachdem die Scheune gelöscht war, lud man sie zusammen mit den anderen auf einen mit Stroh ausgelegten Leiterwagen. Es waren sechsundzwanzig. Frau Ochyra hatte ein Laken gegeben, damit man sie zudecken konnte. Zusammen mit den Geflüchteten nahm man die Leichen von sechs Einwohnern von Chojny mit, die von den Bomben getötet worden waren, und am nächsten Tag wurden alle auf den Friedhof von Grzegorzew gebracht.

 

Vater half sie vergraben. Ochyra, Drews und er, sie waren hingefahren. Er erzählte nur ein Mal davon, an jenem Abend, als er zurückgekehrt war und sich betrank, obwohl er keinen Alkohol mochte. Er saß im Sessel und redete mit sich selbst, Mama schaute auf ihre Hände, sie aßen in der Küche am runden Tisch, ganz leise, kein Löffel klirrte. Den jungen Duszny hatten sie an den Rand des Grabes gelegt, auf der linken Seite. »Wenn man für ihn beten will, muss man dran denken, dass er ganz links liegt, sein Gesicht war zu erkennen, alles, nicht wie bei den anderen. Ganz links, Sabcia, denk dran, ganz am Rand.« Er trank, fuhr sich durchs Haar. Dann sprach er etwas lauter: »So ein geschickter Junge, alles konnte er reparieren, wie alt mag er gewesen sein, Sabcia, was meinst du? Wohl keine fünfundzwanzig, zwanzig vielleicht. Ein hübscher Junge, ein ruhiger.« Die aus der Scheune hatten sie hingelegt, wie es gerade kam, meistens konnte man nicht einmal sehen, ob Frau oder Mann. Viele hatte es zerrissen, sie fügten sie zusammen, so gut es ging, Arm, Bauch, unten die Beine. »Es hat fürchterlich gestunken, Sabcia, nie wieder im Leben möcht ich so einen Gestank erleben. Verbrannte Menschen.« Ochyra hatte so geheult, dass er nicht zu beruhigen war. »In meiner Scheune«, hatte er ständig wiederholt. »Und ich hab noch gesagt, sie solln das Tor bisschen offen lassen, es war ja so heiß, Gott im Himmel, wenn sie es offen gelassen hätten, hätten sie fliehen können, das Dach wär nicht eingestürzt, bestimmt wären nicht alle gestorben.«


Am nächsten Tag fand Tosia einen Arm. Sie war auf dem Weg zu den Nagórnys, um Molke zu holen, und kickte eine kleine verschrumpelte Kartoffel vor sich her. Sie nagte an ihrem Fingernagel und dachte an den ersten Schultag, der zu Ende gewesen war, bevor er richtig begonnen hatte. Dabei hatte sie so lange darauf gewartet. In der ersten Klasse hatte es ihr sehr gut gefallen, und die zweite sollte angeblich noch besser werden, viel besser, alle sagten das. Vielleicht wäre ja in ein paar Tagen alles wieder normal, vielleicht könnte sie dann, statt mit den Eltern oder den Nagórnys aufs Feld zu gehen, hübsche Sachen anziehen und in der Schule der Lehrerin zuhören. Am Tag zuvor hatte sie Vater gefragt, aber der hatte nur gesagt, das alles sei im Moment nicht wichtig; als würde ihr das irgendwie helfen.

Die Kartoffel rollte nach links und verschwand im fahlen Gras. Sie ging ihr nach und sah den Arm. Er war graugelb, am Ellbogen zerfranst. Die Finger weder ausgestreckt noch zur Faust geballt, eher gekrümmt. An einem Finger ein Ring. Wohl aus Gold.

Der Arm lag am Zaun der Ochyras, neben einem großen Stein, von einem Büschel Disteln verdeckt, vom Weg aus nicht zu sehen. Hätte nicht die Sonne auf dem Ring geblitzt, wäre der Arm vielleicht bis zum Winter nicht gefunden worden. Tosia ging näher heran, bückte sich und hob ihn am Mittelfinger auf. Er war steif. Schwer. Merkwürdig groß, nicht wie ein Arm, wie etwas Totes. Sie hob ihn höher, um die lose Haut am Ellbogen besser sehen zu können, da gellte ein Schrei.

Frau Ochyra schrie. Sie stand ein paar Schritte entfernt, einen Korb Himbeeren in der Hand, mit ihrem Kopftuch, das nie fehlen durfte. Sie schrie. Jesses, schmeiß das weg, Bogdan komm, Jesses Maria!

Reglos sah Tosia sie an. Sie versuchte zu verstehen, was geschehen war. Ihr kam in den Sinn, dass sie vielleicht etwas falsch gemacht hatte.

»Tosia, wirf das weg!« Frau Ochyra war schon bei ihr.

Tosia warf es weg. Sie senkte den Kopf, zuckte die Achseln und begann zu weinen. Die Tränen flossen über die Nase, fielen ab und hinterließen winzige Löcher im Sand. Frau Ochyra drückte sie an sich, gab ihr einen Kuss auf den Scheitel und sagte flüsternd, was alle in letzter Zeit sagten:

»Alles ist gut.«

Am Nachmittag durchsuchten ein paar Männer den Hof der Ochyras, das Feld hinter der verbrannten Scheune, den kleinen Garten mit jungen Apfelbäumen und einen Streifen Gras entlang der Straße. Angeblich fanden sie nichts.

Angeblich, das heißt, nicht sicher.

In Chojny war nichts mehr sicher. Plötzlich war alles anders. Die Leute sahen sich ständig um, abends versammelten sie sich in einem der Häuser, manche flüsterten nur, manche beteten ständig. Alle blickten oft zum Himmel. Nach der Bombardierung ging einige Tage lang fast niemand aufs Feld. Tosia langweilte sich. Die meiste Zeit verbrachte sie mit Mama oder spazierte die Straße entlang, hin und her. Manchmal mit Gienia von den Budzikiewiczs, manchmal allein, oft mit Michaś, der sich auf ihren Armen wand wie ein Wurm. Als sie auf den Bahngleisen hinter Chojny zwei Bomben sah, wusste sie, sie musste zurück, zu Papa, am besten schnell; aber sie stand nur da und guckte.

Die Bomben waren klein und länglich. Eine lag in einer leichten Vertiefung in der Erde, die zweite zwischen den Schienen. Glatt, glänzend. Sie sahen aus wie etwas, das man als Schmuck auf die Kredenz stellt und nicht auf Menschen wirft, damit es sie zerreißt und bei lebendigem Leib verbrennt. Michaś brüllte und wand sich in ihrer Umarmung, die Bomben interessierten ihn sehr. Auch sie selbst hätte sie gern berührt. Sie betrachtete sie lange, überlegte sich, ob sie kalt oder warm seien, schwer oder eher nicht, ob sie explodieren würden, wenn sie sie anfasste. Schließlich kehrte sie um, flüsterte Michaś zu, er solle endlich den Mund halten, und machte sich auf den Heimweg. Vater und einige andere gingen sofort an den beschriebenen Ort, und sie sah die Bomben nie wieder. Angeblich kamen einige Soldaten, aber sie hatte keine Ahnung, ob es gute oder böse Soldaten waren.

Sie verstand vieles nicht in jener Zeit, alles ringsum wurde immer seltsamer, außerdem hatte sie die ganze Zeit das Gefühl, bald werde etwas Wichtiges geschehen. Wichtiger als die Flugzeuge am Himmel, die brennende Scheune und die Granaten auf den Gleisen.


Zwei Tage nachdem sie die Bomben gefunden hatte, kam der junge Herr Nagórny zu den Eltern. Er setzte sich an den Tisch, dankte für die Milch, dankte für das Fladenbrot, stützte sich mit den Ellbogen auf die Tischplatte, verschränkte die Hände und sagte:

»Ich möchte mit den Jungs von der Feuerwehr ein Picknick machen.«

Vater saß an seinem Platz am Fenster und betrachtete ihn. Er biss sich auf die Lippe und zupfte an seinem Schnurrbart, wie es seine Art war. Mama setzte sich daneben, rund und rot im Gesicht. Auf ihrem Kopf standen einzelne Haare ab und glänzten in der Nachmittagssonne.

»Ein Picknick im September?«, fragte sie.

Bugaj fuhr mit den adrigen Händen über den Tisch und erwiderte, ja, genau, im September – wer sollte es ihnen denn verbieten: die Deutschen? Die Flugzeuge? Die Bomben? Er verstummte und schien zu überlegen, ob das gut klang, dann erklärte er schon etwas ruhiger, was, wo, wann und warum.

»Man muss zeigen, dass Chojny keine Angst hat«, sagte er zum Schluss, bedankte und entschuldigte sich und verschwand.

Anfangs wollte niemand an dieses Picknick im September glauben. Die Leute hatten andere Sorgen, zum Beispiel immer seltsamere Gerüchte aus der Stadt, Risse in den Mauern der Häuser und zweiunddreißig Leichen auf dem Friedhof von Grzegorzew. Darunter sechs aus Chojny, und eine Leiche aus Chojny zählte praktisch doppelt. Nagórny und die anderen Jungs von der Feuerwehr waren hartnäckig, sie gingen von Haus zu Haus, luden ein, ermunterten und sammelten Pfänder für die Lotterie, wenn auch nicht viele etwas geben wollten. Tosias Vater erklärte, die Idee mit dem Picknick gefalle ihm gut, und gab seinen besten Hahn her. Auch andere ließen sich langsam überzeugen.

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