Von Friedland in Ostpreußen an den Jakobsweg

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Erinnerungen an die Flucht

Max musste für die Flucht im Schulranzen Speck und Brot tragen. Das Baby war inzwischen geboren und sechs Monate alt, sie hieß Sibylle, lag im Kinderwagen, ahnungslos, was für eine furchtbare Zeit jetzt auf sie alle zukommen würde.

Die Mutter war bepackt mit einer Handtasche, in der sie Fotos, die Familiendokumente und die Todesurkunde vom Vater aufbewahrte. Jeder musste so viel Kleidung wie möglich anziehen, der Winter hatte begonnen, aber sein härtestes Gesicht hatte er noch nicht gezeigt, das sollten alle erst in den nächsten Wochen spüren. Sie konnten nicht viel Gepäck mitnehmen, was nicht angezogen werden konnte, musste zu Hause bleiben. Die Mutter hatte die drei Kinder als „Gepäck” und konnte nichts mehr schleppen. Wenn noch etwas getragen wurde, dann war es etwas zu Essen oder für die Versorgung des Babys notwendig.

Andrea wurde immer wieder an den Griff des Kinderwagens gepresst, in dem Sibylle lag. „Festhalten”, sagte die Mutter, „damit du uns nicht verloren gehst.” Sie liefen tags im Flüchtlingstreck, der sich kilometerlang von Ost Richtung West durch die Gegend zog.

Nachts wurden sie in Sammelstellen untergebracht, wo Tee und Zwieback, oder Suppe ausgeteilt wurde. Sie schliefen auf Stroh, die Decken gab es vom Roten Kreuz oder vom Militär.

An den Wegrändern lagen Leichen und Tierkadaver … Bei über 20 Grad Minus waren die Toten steif gefroren. Manche von ihnen hatten einen Arm durch Frost oder Leichenstarre in die Höhe gestreckt, als wollen sie mit einem letzten Gruß noch winken. In furchterregenden Positionen waren sie teilweise vom Schnee bedeckt, so dass nur ein herausragendes Körperteil den Toten zeigte. Verendete Pferde und Hunde säumten die Wege des Flüchtlingstrecks, deren Kadaver oft angefressen oder aufgefressen waren. Die Flüchtlingstrecks zogen an ihnen vorbei, wie an Kilometersteinen. Die Toten konnten nicht beerdigt werden, der wochenlange Frost hatte den Boden zu Stein gefroren, dazu kamen die herannahenden russischen Truppen, deren Geschosse die Flüchtlinge schon fast neben sich spürten. Das ließ keinen langen Abschied zu.

Der Gauleiter Ostpreußens, Erich Koch, hatte die Räumung Ostpreußens verboten. So konnten große Teile der Bevölkerung nicht rechtzeitig vor der Kriegsfront in Sicherheit gebracht werden und ein geordneter Rückzug stattfinden. Erst spät, fast zu spät, traute sich die Bevölkerung den Weg der Flucht anzutreten, vor allem, als bekannt wurde, dass der Gauleiter Koch sich selbst bereits in Sicherheit gebracht hatte. Koch hatte der Bevölkerung Strafe angedroht, für ein Verlassen der Heimat aus Angst vor der Kriegsfront. So ballten sich die Flüchtlingstrecks zu spät und die Flucht verschärfte sich dramatisch in den letzten Wochen des Jahres 1944 zur Evakuierung. Als die sowjetischen Truppen den Landweg noch durch weiträumige Umfassung von Süden her abschnitten, brach für die Flüchtlinge eine hoffnungslose, ungeordnete Flucht an.

Die Flüchtlinge wurden erst auf dem Landweg westlich getrieben. Sie waren zu Fuß, oder mit einem Handwagen, auf dem das nötigste Gepäck liegen konnte, oder mit dem Pferdegespann unterwegs. Andreas Mutter musste mit ihren Kindern diesen Marsch zu Fuß gehen. Das Ziel war Danzig, denn von hier hatten sie die Hoffnung mit einem Schiff schneller von der Kriegsfront Ostpreußen wegzukommen. Dann wurden die Flüchtlinge jedoch entgegengesetzt, wieder nord-östlich auf dem Landweg von deutschen Soldaten flankiert getrieben, Richtung Pillau, da der Landweg nach Danzig durch die Fronteinkreisung von Süden bereits abgeschnitten war. So wurden die Flüchtlinge auf den langen Marsch wieder Richtung Osten über das Frische Haff gelenkt. Von Pillau konnten noch viele Flüchtlinge auf dem Seeweg nach Danzig oder Gotenhafen gebracht werden. Nördlich von Heiligenbeil mussten die Flüchtlinge auf dem Eis der Ostsee das Frische Haff überqueren, um auf der kleinen Landzunge, die” Frischen Nehrung” genannt, Pillau zu erreichen. Es war ein langer und grausamer Marsch, wochenlang zu Fuß bei Minus 20°Grad. Die kilometerlangen Märsche ohne Nahrung und ohne Getränke, laugten die Flüchtlinge aus. Sie wurden kraftlos und erschöpft. Die Kinder konnten oft nur mit Drohungen und Angst zum Weiterlaufen getrieben werden. Ihre Kleidung konnte sie vor dieser dauerhaften Kälte nicht mehr schützen. Ihre Glieder, die Nase und die Ohren waren gefühllos vor Kälte oder schmerzten erbärmlich. Sie mussten oft den ganzen Tag marschieren, ehe sie sich einmal hinsetzen oder legen konnten. Die Wangen von Max fielen jeden Tag tiefer ein, seine Gesichtsknochen traten heraus, sein Körper wurde so mager, dass die Mutter ihn jeden Tag ängstlich betrachtete, mit der stillen Frage: Wird er morgen noch leben? Die Vorstellung, dieses Kind eventuell auf diesem Marsch zu verlieren, ließ sie fast verrückt werden. Die Ohnmacht und Hilflosigkeit, in die sie als Flüchtlinge gezwungen wurden, nahm ihr den Lebenswillen. Nur der Wunsch, den Kindern das Überleben zu ermöglichen, gab ihr immer wieder ein wenig Kraft, um durchzuhalten. Jeder Tag begann mit der bangen Frage: Haben wir heute Nacht eine geschützte Unterkunft, oder werden wir im Freien erfrieren? Bisher waren es Scheunen, Schulen oder aufgestellte Zelte, in denen sie vor der Nacht Schutz erhielten. Auf ausgelegtem Stroh, manchmal auch eine Decke zum Zudecken für die Nacht, ließ sie wieder Kraft schöpfen, für den nächsten grausamen Tag. In den Unterkünften, wenn die Menschen etwas zur Ruhe kamen, spielten sich dann tragische und elende Geschehen ab, die am Tag von den Flüchtlingen nicht zugelassen werden konnten. Sie trauerten laut und jammernd um ihre verlorenen Angehörigen, sie stöhnten und schrien vor Schmerzen durch Erfrierung, Krankheit und Elend, manche drehten auch einfach nervlich durch, weil sie das Elend nicht mehr ertragen konnten.

Baby Sybille wurde zusehend apathischer, es gab für sie keine Nahrung, nur ein bisschen Tee und Zwieback. Sie konnte unterwegs nicht gesäubert werden und lag in ihrem Kot und Urin. Ihr Kinderwagen war mit dem nassen Bett durch ihren Urin bei der klirrenden Kälte kein Schutz mehr, das Bett war zu Eis gefroren und hielt ihre Körperwärme nicht mehr schützend im Bett. Andreas Mutter musste hilflos zusehen, wie ihr Kind langsam starb. Eigentlich hätte sie auch gerne ihr Elend heraus geschrien und geweint, wie es so viele taten.

Als die Familie hinter Heiligenbeil das Eis der frischen Nehrung betrat, war Sybille bereits tot. Sie war verhungert und erfroren. Ganz langsam nahm ihr das wochenlange Elend und die klirrende Kälte täglich ein Stück von ihrem jungen und hoffnungsvollen Leben.

Das Flüchtlingselend wurde auf dem Eis noch größer und lebensgefährlicher. Die kilometerlangen Trecks der Flüchtlinge hatten auf dem Eis gefährliche Furchen geschaffen. Während die Flüchtlinge auf dem Landweg schon mit dem erschreckenden und grausamen Anblick von Verstorbenen (überwiegend Kinder und alte Menschen) und Tierkadaver fertig werden mussten, so war das Eis ein perfektes Bild an Grausamkeit und Unbarmherzigkeit. In Abständen flogen russische Tiefflieger Angriffe auf die Flüchtlinge. Die Flüchtlingskolonnen waren auf dem weißen Eis, ohne jede Möglichkeit einer Deckung ein gutes Ziel. Sie wurden mehrmals am Tag durch diese Tiefflieger beschossen. Wehrlos und als Zielscheibe ausgeliefert, wurden die Menschen und ihre Pferde von den Flugzeugen beschossen, das Eis durch Bomben gesprengt. Pferdegespanne, ganze Panjewagen, beladen mit dem Hab und Gut der Flüchtenden, brachen durch das morsch gefahrene oder zerbombte Eis in die Fluten. Die Familie, die auf dem Panjewagen saß, versank hilflos mit in der eisigen Flut. Die Pferde, die an die Wagen gekettet im Geschirr hingen, kämpften mit ihrer letzten Kraft um ihr Leben, aber ihre festgespannten Körper an die Wagen hatten keine Chance da heraus zu kommen. So versank vor den Augen hunderter Flüchtlinge ein ganzes Gespann, samt Menschen, Haustier, sowie Hab und Gut. Helfen konnte keiner. Das brüchige Eis an dieser Unglückstelle hätte alles in die Tiefe gezogen. Der Anblick war grausam, wie die Tiere und die Menschen mit letztem Kraftaufwand diesem Todesstoß versuchten zu entkommen. Ihre markerschütternden Schreie waren Zeuge für ihren Lebenswillen, letztendlich hatten sie sich ihrem Schicksal zu fügen und nach wenigen Minuten ließen nur noch ein paar glucksende Luftblasen und ein gewaltiges Loch im Eis etwas von dem entsetzlichen Drama ahnen. Die vom Unglück davon gekommenen Flüchtlinge mieden die brüchige Eisfurte und tasteten sich vorsichtig einen neuen sicheren Weg auf dem Eis aus. Sie waren froh, nicht selbst die Opfer dieses grausigen Schauspiels gewesen zu sein.

Nach zwei Tagen hatte die Natur ganze Arbeit geleistet. Die Einbruchstelle war in der eisigen Kälte wieder vollkommen zugefroren. Das Ungeheuer Meer hatte seine Mahlzeit geschluckt und niemandem Zeugnis von seinem Mahl hinterlassen. Ahnungslose Flüchtlinge zogen dann über die Versunkenen hinweg, ohne auch nur einen Hauch der Tragik unter ihren Füßen zu spüren. So zogen auch Andrea mit Mutter und Bruder weiter. Sie wollten Leben, sie wollten überleben, sie hatten ihr eigenes Leid.

Sybilles Mutter ließ ihre verstorbene Tochter im Kinderwagen liegen und nahm sie mit, wohin sie auch getrieben wurden. Die Mutter weigerte sich, ihr Kind so einfach an den Rand des Weges zu legen.

Andrea war oft erschöpft, denn mit ihren knapp vier Jahre alten Beinchen konnte sie diese unendlichen Kilometer noch nicht bewältigen. Sie waren nun schon fast vier Wochen in dieser eisigen Kälte unterwegs. Die grausame Kälte, brachte den kleinen Körper immer wieder an den Rand des Erfrierens. Ihre Hände, ihre Füße und die Schenkel schmerzten unerträglich. Die Mutter setzte sie dann auf den Kinderwagen zu Sybille. Versuche sie zu wärmen, sagte die Mutter, vielleicht wacht sie wieder auf, aber Sybille war weiß, kalt, steif und es war Andrea unangenehm sie zu streicheln.

 

Über das Frische Haff erreichten die Flüchtlinge endlich wieder festes Land unter den Füßen, die „Frische Nehrung”. Es war ein schmaler Streifen Land, zwischen dem Frischen Haff und der Danziger Bucht. An der Spitze der Nehrung vor Pillau war sie durch den Königsberger Kanal unterbrochen. Dieser Kanal ermöglichte den Seeweg bis Königsberg. Andreas Mutter mit den Kindern wurden mit kleinen Boten zum Hafen nach Pillau über den Kanal gesetzt und tatsächlich, sie bekamen dort ein Schiff angewiesen, auf das sie sofort einzusteigen hatten. Die Flüchtlinge wurden gedrängt und sofort verladen. Sie sollten nach Danzig gebracht werden. Im Schiffsrumpf lagen sie dann zusammen gepfercht mit anderen Flüchtlingen auf dem Bretterboden. Die tote Schwester Sybille wurde als schlafendes Baby nicht geweckt. Es war noch steif gefroren. Die Kinder bekamen eine Wolldecke zum wärmen, gegen den kalten Boden des Schiffsrumpfes. Helferinnen in Uniform, Haube und weißer Armbinde und einem roten Kreuz auf der Armbinde betreuten die Flüchtlinge. Sie taten ihr Möglichstes um das Elend der Menschen mit bescheidenen Hilfeleistungen zu lindern. Sie teilten heißen Tee und Zwieback unter den Flüchtlingen aus. Sie wollten auch für Sybille noch heißen Tee in einer Flasche reichen, aber die Mutter bat das kranke Kind nicht zu stören. Am dritten Tag hatten die Helferinnen verstanden, das Sybille nicht mehr lebte. Sie duldeten das tote Kind im Kinderwagen bis zur Ankunft in Danzig.

Als die Familie endlich in Danzig eintraf, mussten alle von Sibylle Abschied nehmen, dort wurde sie in einer Sammelstelle abgegeben. Die Mutter weinte, als sie ihr jüngstes Kind aus dem kalten Kinderwagen hob und den Geschwistern entgegen hielt zum Abschied. Sie musste es in einem Raum abgeben und erhielt an einem Klappfenster, einem Fahrkartenfenster der Eisenbahn ähnlich, die Todesurkunde ausgehändigt. Von hier aus wurde eine Beerdigung in einem Massengrab organisiert. Wer den Hafen von Danzig erreicht hatte, hoffte ein Schiff nach Stettin zu bekommen, um den näherrückenden Geschossen zu entkommen. Die Menschenmassen lagerten bei eisiger Kälte am Hafen, damit sie nicht den Zeitpunkt verpassten, falls unverhofft ein Schiff ablegen würde.

Ob überhaupt ein Schiff ablegen konnte, wusste keiner. Der Beschuss durch die Russischen Truppen war fast pausenlos.

Sie hatten gehört, dass die Gustloff das letzte Schiff war, was ablegen konnte.

Ein Teil der Familie hatte es geschafft, dieses Schiff noch zu erreichen. Das Gerücht ging um, die Gustloff sei untergegangen. Genauere Angaben konnte keiner machen, die Flüchtlinge hofften, dass es nur Feindpropaganda war, so wurde es ihnen nachrichtlich vermittelt. Die Mutter setzte sich auf die vereisten Treppen und weinte. Sie jammerte in ihrer Hoffnungslosigkeit, weil sie nun keinen Ausweg mehr sah. Die Front kam immer näher und ihre Angst in das Geschehen zu geraten nahm ihr jeden Lebensmut.

Nach zwei Tagen ging doch plötzlich ein Schiff nach Stettin, von dort dann ging es in offenen Viehwaggons nach Berlin. Bei sternenklarem Himmel und eisiger Kälte drängten sich die Menschen zusammen, um zu überleben. Einige hatten hohes Fieber und lagen in dieser sternklaren Nacht auf dem Boden des Waggons, jeder wusste, dass sie am Morgen nicht mehr leben werden. Einige Flüchtlinge hatten schwerste Durchfallerkrankungen und wanden sich vor Krämpfen. Sie hatten wenigstens immer die gleiche Ecke zum Entleeren benutzt, aber wenn der Zug schlenkerte, fielen die in der Nähe Lagernden haltlos in die Fäkalien hinein. Der Gestank in diesem Waggon war trotz offenem Dach entsetzlich. Die vom Durchfall betroffenen Flüchtlinge hatten in Stettin, nach ihrer Ankunft mit dem Schiff, einige Stunden Aufenthalt, bevor dieser Viehwagen den Weitertransport übernahm. Nichts war planmäßig organisiert, alles war zufällig. So hatten einige Flüchtlinge vor Stettin auf leerstehenden Höfen Kühe gehört. Die hungrigen Flüchtlinge auf der Suche nach etwas Essbarem, freuten sich über das Kuhgebrüll, sie hofften auf Milch, die sie den Kühen abmelken konnten, was sie dann auch taten. Die Kühe jedoch schrien vor Schmerzen, da ihre Euter seit Tagen nicht abgemolken und nun vereitert und entzündet waren. Die Milch, durchsetzt mit Eiter verursachte bei den Flüchtlingen, die davon getrunken hatten, schwerste Durchfallerkrankungen und Krämpfe. Hinzu kam, dass der Zug in Abständen von Tieffliegern beschossen wurde. Er musste anhalten, damit die Flüchtlinge sich rechts und links der Bahnschienen Deckung suchen konnten. Jeder Flüchtling fuhr ziellos irgendwohin und hoffte, erst einmal unterzukommen.

In Berlin lebte noch Verwandtschaft, Tante Pauline und Onkel Hans. Sie hatten keine Kinder und wollten immer eins von Großmutters 12 Kindern. Die jüngste Schwester von Andreas Mutter wurde 1938 Tante Pauline anvertraut. Sie war 14 Jahre und hieß Elisabeth. Sie sollte in Berlin eine bessere Chance für ihre Zukunft erhalten, als in Ostpreußen beim Junker zu dienen. Andreas Mutter sagte immer: Es gab für uns in Ostpreußen nur zwei Möglichkeiten, entweder beim Junker zu dienen oder beim Juden. Großmutter Anna wollte ihrer Jüngsten durch Paulines Entscheidung eine bessere Lebensperspektive einräumen. Hinzu kam, dass ihr jüngstes Kind von außergewöhnlicher Schönheit war und sie schon deshalb viel Aufmerksamkeit und Beachtung erhielt. Als Elisabeth dann in Berlin eintraf, hatte sie sich mit Typhus infiziert und war bereits daran erkrankt. Sie hatte im Zug von Königsberg nach Berlin aus dem Wasserhahn der Zugtoilette Wasser getrunken. Zehn Tage später musste Großmutter Anna im gleichen Zug nach Berlin fahren, zum Begräbnis ihres Kindes. Elisabeth war an ihrer schweren Erkrankung gestorben.

Tante Pauline trug Pelze, Schmuck und eine lange Zigarettenspitze im Mund, Onkel Hans trug immer dunkle Jacken und spielte wunderschön Klavier. Die beiden blieben nach dem tragischen Tod Ihrer Nichte Elisabeth weiterhin kinderlos.

Andrea mit Mutter und Bruder durften eine Nacht dort bleiben, aber für länger wollten sie die Verwandtschaft aus dem Osten nicht beherbergen. Sie sagten, dass sie nichts zu Essen hätten, außerdem stünde der Kampf um Berlin bevor, so dass alle lieber aus Berlin abreisen sollten. Die Mutter bemühte sich um einen Weitertransport aus Berlin.

Als sie sich zwei Tage später von Onkel und Tante verabschieden wollten, war die Wohnung versiegelt. Sie hatten sich das Leben genommen. Tante Pauline und Onkel Hans wollten das Kriegsende mit seinen Auswirkungen auf die Bevölkerung nicht erleben.

Ungeliebte Flüchtlinge

Im Frühjahr 1945 kam die kleine Familie, bzw. der Rest, der den Krieg bis dahin überlebt hatte, mit Mutter, Max und Andrea in Thüringen an. Die Schwester war tot, mehrere Tanten mit ihren Kindern waren mit der Gustloff in der Ostsee untergegangen, wo die Großeltern steckten, war noch nicht zu erfahren.

Andreas Mutter wurde mit den Kindern von Berlin nach Thüringen bei Apolda zwangseinquartiert. Ihre erste Station war eine kleine Stadt, Bad-Sulza, zwischen sanften Bergen und einer Burg, die hoch über der Stadt thronte, die Sonnenburg.

Es wuchs Wein dort, es war eine kleine Kurstadt, die vor dem Krieg wegen ihrer Salinen bei Atemwegserkrankten für Erholungskuren sehr beliebt war.

Die Familie wurde in das Nebengebäude eines Villengrundstückes einquartiert, auf dem Boden, ohne Heizung, ohne Wasser. Wenn es hell sein sollte, wurden die Holzläden geöffnet, durch die wohl vor dem Krieg Stroh oder andere Ding gereicht wurden. Andere Fenster hatte dieser Boden nicht. Unter ihnen war in dem einzigen Raum, den das Gebäude hatte, eine Frau mit einem Kind einquartiert. Sie waren auch Flüchtlinge, aber näheren Kontakt hatten die beiden Flüchtlingsfamilien nicht. Andreas Mutter sagte immer: „Die klauen.” Im Haupthaus, einer wunderschönen Jugendstilvilla mit Balkonen, wohnten zwei Frauen mittleren Alters. Sie waren die Erben dieses Anwesens. Sie hatten noch nie in ihrem Leben gearbeitet und wussten auch nicht wie sie etwas machen konnten. Für alles, was zu erledigen war, kamen irgendwelche Personen, die das erledigen mussten.

Andreas Mutter musste die Monatsbinden aus Stoff für diese Frauen waschen, als Gegenleistung für ihre Unterkunft. Sie sammelten diese in einem Eimer, dort wurden sie eingeweicht und Andreas Mutter hatte sie sauber zu waschen. Sie ekelte sich immer sehr davor. Die Flüchtlinge waren für diese Frauen noch weniger, als Bedienstete. Sie behandelten diese sehr herablassend und entwürdigend.

Die Villa mit ihrer großen parkähnlichen Anlage lag in einer kleinen Anhöhe. Der Zugang verlief über einen langen gepflasterten Gehweg, der wegen der Steigung mit kleinen Treppenstufen versehen war. Man konnte ein Stück fast eben gehen, dann glich in regelmäßigen Abständen eine Stufe doch die Steigung aus. Rechts von diesem Weg rauschte mit Getöse ein Bach den Berg hinunter, so, als ob er es furchtbar eilig hatte, den Fluss Ilm zu erreichen, denn in einigen hundert Metern vereinte sich dieser reißende Bach mit ihr.

Am Beginn dieses Treppenweges stand links ein kleines weißes Haus. Die Sonne schien immer direkt darauf, so leuchtete es heller, als es wohl eigentlich war. Eines Tages hing dort an den Hinterläufen aufgehangen ein mittelgroßer schwarzer Hund. Der Bauch war aufgeschlitzt und die Eingeweide waren entnommen. Alle entsetzten sich über diesen scheußlichen Anblick Es war bekannt, dass in diesem Haus ein Hundefänger wohnte. Man sagte es wäre ein Jude.

Keiner hatte Kontakt zu diesem Hundefänger, jeder machte einen Bogen um ihn.

Im Sommer fand in dieser kleinen Stadt ein Fest statt. Es wurde Salz und Quellenfest genannt.

Andrea sah zum ersten mal in ihrem Leben ein Karussell Sie durfte sich auf ein Pferd setzen und fahren. Immer und immer wieder wollte sie eine Runde drehen. Nach 10 Runden holte die Mutter sie herunter, Andrea musste sich übergeben.

In der Unterkunft konnten sie nicht bleiben. Sie wurden im Frühjahr dort einquartiert, weil sie kein Wasser und keine Heizung hatten, mussten sie noch vor dem Herbst raus. Sie wurden in ein kleines Dorf einige Kilometer entfernt von Bad Sulza in Eberstedt bei einer Familie Gotte untergebracht. Hier hatten sie ein Zimmer und darin standen zwei Betten. Die Mutter schlief mit Andrea in einem, das zweite Bett bekam Max, und noch etwas stand in diesem Zimmer: Ein Kanonenofen! Sie konnten sich so richtig die Hände und durchgefrorenen Oberschenkel wärmen. Das Kriegsende am 8. Mai 1945 wurde weder als Verbesserung der Flüchtlingssituation, noch als Befreiung erlebt.

Die Flüchtlinge waren ungeliebt bei den Einheimischen, denn diese mussten von ihrem Wohnraum, ihrer Heizung und ihrem Essen etwas abgeben, ihr Klo und ihr Bad mit den Flüchtlingen teilen. Außerdem kreideten die Einheimischen den Flüchtlingen an, dass sie ihr Land verlassen haben, denn nun könnten die Russen und Polen dieses Land besetzen. Für die Einheimischen waren die Flüchtlinge Vaterlandsverräter.

Beschimpfungen, Erbarmungslosigkeit und Isolierung hatten sie für die Geflüchteten nur übrig. Dicke Bauernjungs machten ihre Späße über die kränklichen, unterernährten, zerlumpten und ausgemergelten Flüchtlingskinder, sie lachten hinter ihnen her. Da die Flüchtlinge nur anzuziehen hatten, was sie bei Fluchtbeginn auf den Leib gezogen hatten, sahen sie zerlumpt und verdreckt aus. Sie hatten keine Kleidung zum wechseln. Wenn ein Kleidungsstück gewaschen werden konnte, blieben die Kinder ausgezogen in ihren Betten, bis die Wäsche wieder trocken war. Als Andrea mit ihrer Familie aus ihrer Heimat in Ostpreußen flüchten musste, war sie gerade drei und ein dreiviertel Jahr alt. Da sie im Winter weg müssten, hatten sie so viel wie möglich auf den Leib gezogen. Zu einem Unterhemd gehörte auch ein Leibchen. Es hatte die Funktion zu wärmen und die langen Strümpfe zu befestigen, diese wurden mit vier Haltern, sogenannte Strapse, am Ende des Oberschenkels in Höhe des Hüftgelenkes befestigt. Ein Wintermantel, der die Kniegelenke bedeckte schützte den Körper vor der Kälte. Nun ein Jahr später musste dieses Leibchen bei Andrea immer noch die gleichen Strümpfe halten, obwohl sie längst herausgewachsen war. Das Leibchen bedeckte gerade noch die Schulterblätter und zwängte sie sehr ein. Die Strapse, die die Strümpfe hielten, waren unendlich lang und ausgeleiert. Die langen alten Wollstrümpfe reichten gerade bis über das Knie und waren überall gestopft. Der Wintermantel vom vorigen Jahr bedeckte die Oberschenkel nur zur Hälfte, so dass ihre Schenkel im Winter unbedeckt der Kälte ausgesetzt waren und blitz blau frohren vor Kälte. Diese alten Sachen waren das einzige was sie anzuziehen hatten, sie konnte auch nicht darauf verzichten. 1947 erst erhielt sie ein paar neuere Kleidungsstücke, sie kamen aus Amerika als CARE-Pakete. Oft schämten sich Andrea und Max wegen ihrer Ärmlichkeit, weshalb sie Spott und Verachtung ausgesetzt waren.

 

Diese feisten, oft sogar dicken Kinder aus dem Dorf, die oft Spottverse den Flüchtlingskindern nachriefen, ahnten noch nicht, dass der Sozialismus mit seinen Enteignungen ihnen auch noch eine bittere Nachkriegsgeschichte schreibt, die ihnen einen Teil des Hochmutes und des Übermutes nehmen würde. Sie hatten während des Krieges und in den Jahren danach nicht viel entbehren müssen. Da sie weder ihre Heimat, noch ihre persönliche Habe verlassen mussten, behielten sie selbst einige Jahre nach dem Krieg noch ihren Wohlstand und ihre Identität. Die Einheimischen fanden immer Mittel und Wege eine knappe Versorgung ihres Lebensalltags zu kompensieren und das Benötigte zu beschaffen. Diesen Vorteil hatten die Flüchtlinge nicht. Sie waren auf die Gnade ihrer Mitmenschen angewiesen und die war oft gnadenlos. Identitätslos bekamen sie die unterste Stufe der Lebenshierarchie zugeordnet.

In den ersten Wochen bettelte die Mutter bei den Bauern, um die Kinder vor dem Verhungern zu retten. Es wurden ihr öfter die eisernen Tore zugeschlagen, oder die Hunde von der Kette gelöst, um sie zu verjagen, als dass sie ein paar Kartoffel oder Steckrüben erhielt. Manche Bauern wollten der Mutter etwas geben, wenn sie ihnen einen Geschlechtsverkehr gewähren würde. Andrea solle derweil im Tor warten, Andrea schrie, weil sie Angst um ihre Mutter hatte. Damit keiner wegen des Geschrei neugierig wurde, wurden die beiden dann lautstark verjagt. Mit dem blickabschirmenden großen Tor wurde der Vier-Wände-Hof schnell wieder verschlossen und der Bauer hatte jede Zustimmung seiner Familie, die der Meinung war: „Dieses Flüchtlings- und Bettelpack ist doch lästig.”

Nach der Kapitulation, dem offiziellen Kriegsende, waren für wenige Wochen in Thüringen die Amerikaner als Besatzungsmacht. Es war ein Aufatmen in der Bevölkerung spürbar.

Die Kinder rannten täglich zum Ilmufer, dort kippten die „Amis“ ihre Kantinenabfälle ab. Die Kinder stocherten im Müll und untersuchten ihn nach essbaren Abfällen. Oft fanden sie Schokolade, Brot, Zigaretten und andere verwertbare Dinge.

Plötzlich waren die Amerikaner wieder weg und mit ihnen auch die Hoffnung auf etwas Essbares. Andrea bekam mit, dass die Erwachsenen es bedauerten, dass die Amerikaner abzogen. Die Amerikaner hatten sich aus einem großen Teil des Landes, das sie mit ihren Truppen besetzt hatten zurückgezogen. Dazu gehörte Thüringen und Sachsen Sie wollten dafür als Alliierte Besatzungsmacht einen Anteil an der Eroberung der Hauptstadt dieses besiegten Landes haben. Die russischen Truppen hatten aber Berlin eingenommen und gaben einen Teil ihrer Beute Hauptstadt nur gegen Vergrößerung ihres Besatzungsgebietes in Deutschland her. Die Russen waren dafür zwischen dem 1. bis 4. Juli 1945 in Thüringen, Sachsen und an der Küste Mecklenburgs eingezogen. Das beunruhigte viele Menschen, sie hatten Angst vor der Brutalität der Russen. Dieser Ruf eilte ihnen voraus und kündete Willkür, Mord, Vergewaltigung und Plünderung an. Die Frauen hatten Angst vor dem Satz: „Frau Komm!” Jeder wusste, was dann geschah. Wenn sie sich weigerten mitzugehen, erhielten sie meistens einen Kopfschuss vor den Augen der Kinder oder Angehörigen. Wenn sie mitgingen, hörten die Verbliebenen und Kinder die Frauen schreien, bis sie dann irgendwann blutend und verletzt zurückgebracht wurden, wenn man sie nicht nach der Vergewaltigung erschossen hatte.

Die Mutter konnte zeitweise in einer Zementfabrik arbeiten, ein zaghafter Wiederaufbau wollte beginnen.

Manchmal gab es da schon für die Kinder Mittagessen, sogenannte Reibesuppe (eine geriebene Kartoffel und viel Wasser). Es gab inzwischen Lebensmittelkarten, die ein Minimum an Essbarem sicherstellten.

Im Winter 1946 bekam Friederike mit ihren Kindern wieder in Bad Sulza eine winzige Dachwohnung zugewiesen.

Nun mussten sie nicht mehr, um in ihr Zimmer zu kommen, durch die Küche der Familie Gotte, ihre brummigen und abweisenden Gesichter ertragen.

Sie hatten in Bad Sulza zwei Zimmer, eines davon mit Ofenheizung, das war schon ein großer Fortschritt.

Bad Sulza als eine kleinere Kurstadt, hatte einen gepflegten Kurpark, mit einem Teich, auf dem Schwäne herum schwammen. Im Park stand eine muschelförmige Konzerthalle.

Dort fanden bei schönem Wetter Konzerte statt. Leute, die noch etwas von ihrem Wohlstand und ihrer Eleganz vor dem Krieg bewahren konnten, zeigten es zaghaft wieder vor.

Man schlenderte im Park, genoss die noch gepflegten Anlagen des Parks, beobachtete die Schwäne, man traf sich, grüßte sich, erzählte sich.

Hier gab es keine Bauern mit großen verschlossenen Toren vor den eingemauerten Höfen, hier gab es auch keine großmäuligen, dicken Bauernjungs. Das Leben war hier städtisch, eleganter, schlanker.

Um es ein wenig warm in der kleinen Wohnung zu haben, wurden die Kinder von der Mutter jeden Tag in den Herlitzberg geschickt. Sie mussten Reisig und Äste sammeln.

Unglaublich wie aufgeräumt der Wald war, sie mussten immer tiefer und weiter in den Wald hinein, um überhaupt noch ein paar Zweige zu finden.

Im März 1947, Andrea hatte gerade die Masern überstanden, da gab es unverhofft zur Reibesuppe Möhren, Steckrüben und ein paar Kartoffel. Das Geheimnis lüftete sich dafür eines Abends.

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