Wir hatten mal ein Kind

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Plötzlich verdunkelte sich der Himmel über ihm, es war sein Vater, der sich über ihn beugte und drohend fragte: Willst du gar nicht wieder aufstehen?

Doch, sagte er gehorsam und sprang so rasch auf, daß er gleich wieder hinfiel. Dies belustigte ihn so, daß er in ein lautes Lachen ausbrach, und trotz allen Drohens des Vaters wollte sein Lachen nicht enden. Dann wurde ihm wieder übel und sein Kopf drehte wie eine Mühle.

Sein Vater mußte ihn hochgehoben und auf die Füße gestellt, mußte ihn eine Weile geführt haben, denn plötzlich sah er sich und ihn auf der Chaussee nach dem Hof. Er hörte sich laut reden. Er erzählte von allem, was er im letzten Jahre verstanden hatte und was ihm das Herz schwer gemacht hatte: von der verludernden Wirtschaft, der Mutter, die alles falsch machte, dem fremdtuenden Alwert, und wie die dreizehnjährigen Schuljungen mit den Schulmädchen richtig Mann und Frau im Stroh spielten. Zwischendurch hörte er den Vater mit einem Ton fast ingrimmig schreienden Schmerzes rufen: Hör damit auf! Laß das, Hannes, hör auf!

Zugleich merkte ein zweiter, scharfer Beobachter in ihm, daß sie nicht etwa gerade auf der Chaussee gingen, sondern bald auf der rechten, bald auf der linken Seite. Auch, daß sie oft beinahe in die Gräben gerieten, daß sie also genau so torkelten, wie der alte Säufer Timmermann im Kirchdorf, dem die Schuljungen so gern nachäfften. Der Gedanke, daß sein Vater und er wie der olle Timmermann hier auf offener Straße herumtorkelten, belustigte ihn derart, daß er zwischen seinen Schmähreden immer wieder in ein brüllendes Gelächter ausbrach. Er forderte seinen Vater auf, stehen zu bleiben, damit er ihm im Schnee die Torkelspur beweisen könnte.

Dazwischen übertrug die zitternde, schweißnasse Hand seines Vaters ein sehr genaues Gefühl auf ihn von der zornigen Traurigkeit, der tiefen Verzweiflung, die den Mann erfüllten. Er dachte flüchtig daran, daß er mit dem Vater gleich nachher in der Stube richtig ernsthaft würde sprechen müssen und mit ihm ein großes Freundschaftsbündnis schließen zur Rettung des Hofes.

Während all dies – und noch viel mehr – in ihm vorging, waren sie doch schließlich von der Chaussee auf den Weg zum Hof abgebogen und näherten sich nun, immer stöhnend, schwatzend, torkelnd, den beiden gemauerten Torpfeilern, zwischen denen der Weg auf die Hofstätte führte. Im Windschutz eines dieser Pfeiler hatte Schwester Frieda auf die beiden gewartet. Sicher hatte sie schon längst den Lärm gehört, das Torkeln gesehen und trat zornig auf sie zu. Pfui, Vater! Pfui, Hannes!

Dabei zerrte sie an der Hand ihres Bruders, um ihn vom Vater loszureißen. Sie hatte nicht wissen können, welch plötzliche Bewegungen ihr Bruder in seinem jetzigen Zustand machte, auf wie schwachen Beinen er stand. Als sie ihn loshatte, taumelte er mit sechs, acht raschen, torkelnden Schritten gegen die Wegkante nach der Dungstätte hin, Frieda mit sich reißend. Ehe der Vater noch auf sie zukonnte, fielen die beiden, rollten die Böschung vom Wege hinab auf die Dungstätte, einen Dunghaufen hinunter und fielen auf das Eis der tiefen gemauerten Jauchengrube, das unter ihnen zerbrach.

Hannes schrie noch gellend auf, ehe der Dreck ihm den Mund stopfte, Frieda versank lautlos. Der Vater stand ohne Bewegung, starrte in das dunkle Loch und schrie. Und schrie.

Im Hause wurde es hell. Knechte kamen gelaufen, die Mutter weinte aus einem Fenster. Frieda war tot, aber Johannes lebte. Daß er am Leben geblieben und nicht Frieda, quälte viele Jahre noch sein Gewissen, peinigte ihn im Traum, führte ihn immer wieder zurück auf den Windmühlenhügel und stellte ihn von neuem vor den Stein. Daß er den Schnaps getrunken, um den Vater zu retten, das war richtig gewesen, aber warum mußte nun dadurch Frieda sterben?

Das war nicht zu verstehen. Und dann war auch noch die Geschichte mit Alwert, dem hochmütigen, einzelgängerischen Alwert nicht zu verstehen, der etwa zwei Jahre darauf abhanden kam. Das konnte man ja nun einsehen, daß nach diesem Ereignis der Vater den Johannes mied und den Alwert vorzog. Aber warum mußte Alwert wieder durch dieses Vorziehen zugrunde gehen, verschwinden, ausgestrichen werden aus der Liste der lebenden Gäntschow'schen Kinder?

Das war so gekommen (aber zu verstehen, was da geschehen war, war es erst viele Jahre später): Mitten in der Silvesternacht sagte der Vater: Nun komm.

Alwert schlich hinter dem Alten aus dem lärmenden Haus über die Hofstatt zum Kuhstall. Es fror leicht, die Sterne funkelten. Der Vater zog die Tür auf und sie kamen in warmes Dunkel,

Überall knisterte Stroh, eine Kuh käute wieder, Halfterketten rasselten. Die Stallaterne wurde angebrannt, ein Fenster geöffnet. Die kalte Winterluft drang ein, kämpfte mit der Wärme und war plötzlich überall. Der Junge stand im Schatten beim Rübenschneider und schwieg. Da deutete der Vater zum offenen Fenster: die Glocken begannen zu läuten, Silvester vorbei, das neue Jahr hatte begonnen.

Der Vater ging zur ersten Kuh, er sagte kein Wort, aber er verbeugte sich vor ihr und bekreuzte sie dreimal. So tat er bei der nächsten, bei der dritten, bei der vierten. Bei der fünften, der einzigen, die stand, stutzte er einen Augenblick, der Knabe sah es wohl. Aber dann ging Vater weiter, reihauf, reihab. Das Jungvieh beachtete er nicht, auch nicht die Pferde. Er ging wieder ans Fenster und schloß es. So, nun kannst du reden, Alwert, sagte der Vater und nahm den Jungen bei der Hand. Jetzt will ich dir etwas zeigen.

Die beiden kletterten über die Krippen weg, gingen zwischen zwei Kühen durch und zu jener fünften, die gestanden hatte und noch stand. Da sah Alwert freilich sogleich, um was es ging: die Kuh bekam ein Kalb. Die Vorderpfoten und der Kopf schauten schon heraus, der Vater faßte die Pfoten und zog leicht, und nun war es, als schlenkerte er etwas unendlich Langes, Schwarzweißes auf die Erde.

Da lag das Kälbchen auf der Seite, den Kopf von sich gestreckt, und atmete hastig. Lauf und hol Schrot, rief der Vater, und Alwert lief und holte Schrot. Damit wurde das Kalb bestreut und der Kuh zum Ablecken hingelegt. Der Vater sprach: Gerade zur zwölften Stunde in der Silvesternacht hat es das Licht erschaut. Das wird kein gewöhnliches Kalb.

Und nun zeigte er dem Sohn, daß es auch nicht wie die andern einen weißen Fleck, einen Stern auf der Stirn trug, sondern eine Krone. Man konnte ganz leicht erkennen, daß es eine Krone war. Jetzt wurde es noch sicherer, daß dies kein gewöhnliches Kalb war. Es ist ein Kuhkalb, sagte der Vater noch und beide gingen wieder in das Haus hinüber. Das Mädchen wurde in den Stall zum Ausmelken und Tränken geschickt. Sie aber traten in das Wohnzimmer, wo der Besuch war.

Es war dies zu einer Zeit, da der Bauer Gäntschow wieder einmal gut Freund mit allen Nachbarn war, und so saßen viele Leute in der guten Stube und viel Geschrei und Gelächter begrüßten die beiden. Der lange Gemeindevorsteher Wilms rief: Du alter Heide, kannst du gar nicht von deinen Heidentücken lassen?

Es war nun gar nicht so sicher, daß er selbst völlig erhaben über solch Heidentum war. Wer weiß, vielleicht hatten seine Frau oder sein Sohn daheim zur gleichen Stunde das gleiche getrieben, vielleicht hatten sie sich sogar unter eine aufgestellte Egge gesetzt und versucht, in die Zukunft zu schauen. Aber zugegeben durfte so etwas keinesfall werden. Und Alwert war ganz glücklich, als der Vater antwortete: Heidentücken? Was meinst du denn, Adolf? Meine Klio hat eben gekalbt, darum bin ich mit dem Jungen in den Stall gegangen. Sind das Heidentücken?

Welches Geschrei, welcher Unglaube! Sie zogen alle in den Kuhstall, und da sahen sie nun freilich das Kalb und mußten still sein. Sie taxierten es auf achtzig Pfund und fanden, es sei ein strammes Kalb. Das war alles. Alwert verachtete sie tief. Sie hatten die Krone nicht gesehen, das Geheimnis nicht erraten. Das Geheimnis war geheim geblieben, es war nicht verlorengegangen. Alwert brauchte sich nur in den frühen Dämmerstunden, wenn die Kühe satt und still waren, in den Stall zu setzen und sein Kalb anzuschauen. Dann war das Geheimnis wieder da. Das war keine Kunst, dachte Alwert, zu entdecken, daß hinter den Augen einer Kröte eine verzauberte Prinzessin wohnt. Jeder, der diese schönen, traurigen Augen in dem häßlichen Leibe sah, mußte es gleich erraten. Aber die Verzauberung seines Kalbes, das Wunderland, aus dem seine Seele kam, war viel schwerer zu entdecken. Daß sie mit Menschen nichts zu tun hatte, war sicher. Mit menschlichen Wundern hatte sie nichts gemein. Da war nun die Wanderung der Kinder Israel durch das Rote Meer, von der sie solch Geschwätz beim Kantor in der Schule machten. Das war doch nur ein menschliches, ein ausgerechnetes Wunder. Diese Mauern, die das Wasser bildete, und sie gingen trockenen Fußes über den Sand, Gott ja, aber ein Tunnel war ebensolch ein Wunder. Es war alles einfach, ausgerechnet. Es war gar nicht geheimnisvoll und rätselhaft.

Nimm nun einmal ein Kalb, das ist es, was ich ein Wunder nenne! Kann man sich etwa einbilden, es hätte je schon auf einer Graswiese, über die Menschen hingehen können, geweidet? Das war einfach lachhaft! Man nehme die feinste, zarteste Prinzessin, die Krötenprinzessin etwa: schon aus der Art, wie eine Kröte hüpft, sich hinsetzt, das Maul auftut, sieht man, sie weiß auf dieser Erde Bescheid, sie ist immer hier gewesen. Aber sieh nur ein Kalb aufstehen, die ersten Torkelschritte machen, nach einem Euter tasten, und du begreifst sofort, daß es ganz neu auf dieser Erde ist, daß es alles von Anfang an erlernen muß. Es ist eben einfach nicht auszudenken, wie und wo es früher war. Ausrechnen, vorstellen läßt sich da nichts, man muß es träumen.

Selbstverständlich kamen auch sehr schwere Zeiten für Alwert und das Kuhkalb. Es kam die Zeit, wo es nicht mehr saugen durfte, wo es Milch aus dem Eimer zu trinken bekam, und da trieb es natürlich Unfug mit allem, was es von Alwert fassen konnte. Es saugte an Händen, Haaren und dem Rock. Es leckte die Wichse von den Stiefeln ab, von oben bis unten machte es ihn mit seinem Speichel naß. Es wäre ganz zwecklos gewesen, darüber böse zu werden und nach ihm zu schlagen, alles kam daher, daß es noch nie auf dieser Welt gewesen war. Langsam mußte es sich an sie gewöhnen, und vielleicht würde es sich nie ganz an sie gewöhnen können, keine Möglichkeit lag zu solcher Veränderung vor.

 

Dann kam die Zeit, wo der Vater den Entschluß fassen mußte, ob das Kalb angebunden werden sollte oder ob es der Fleischer bekam. Alwert wurde weiß vor Angst. Aber er verbarg das und wurde dafür belohnt: das Kalb sollte hierbleiben. Die Mutter schalt natürlich darüber, über das viele, unnütze Jungvieh, diese Fresser. Aber der Vater nickte Alwert zu. Nun wurde er glühend rot, er verkroch sich mit dem Kopf unter den Tisch: hatte der Vater etwas von seinen Besuchen im Kuhstall bemerkt? Aber er beruhigte sich wieder. Der Vater sprach davon, daß dies Kalb in der Neujahrsnacht geboren sei, und daß er es deshalb behalten wollte. Nichts wußten Eltern noch Geschwister von seinen heimlichen Besuchen, er konnte sich weiter in den Stall schleichen, zur stillen Stunde, und mit ihm sprechen und bei ihm träumen und mit ihm spielen. Ganz ruhig konnte er den Vater fragen, wie denn dies Kalb heißen sollte, und der Vater war einverstanden, daß es einen Namen bekam, da es doch nun unter den Nachwuchs des Stalles aufgenommen war. Und als Alwert den Namen Blanka vorschlug, war er auch damit einverstanden. Es war ein sehr vornehmer Name für ein Dreimonatskalb, nun mußte es sich zeigen, ob es dieses Namens auch wert sei.

Jetzt vergingen zwei glückliche Jahre für Alwert und Blanka. Alwert wurde vierzehn Jahre alt und konfirmiert, aber das war gar nichts, wenn man bedachte, wie Blanka wuchs und gedieh. Sie wurde eine starke und schöne Färse, eine wahre Pracht. Den ganzen Sommer, so lange sie auf der Weide getüdert wurde, lag er bei ihr mit seinen Büchern, und sie lernten alles sozusagen gemeinsam. Nun höre einmal zu, Blanka, was das nun wieder ist, konnte Alwert sagen, und dann kam ein schrecklicher Name aus dem vaterländischen Geschichtsbuch. Blanka hörte zu. Sie hob den Kopf hoch und sah ihn an. Sie stieß den warmen Laut aus, den sie nur für ihn hatte, sie hörte das Wort an, und auch ihr schien es ganz ungeheuer, was sich diese Menschen da wieder ausgedacht hatten. Dann senkte sie den Kopf und fraß weiter. Blanka mußte alles hören, über den Dreißigjährigen Krieg und Friedrich den Großen, sie erfuhr, was der Kleine und der Große Katechismus war, sie ertrug auch eine Rechnung mit Zinsen. Und das Schönste war, daß dies beider Geheimnis blieb. Kein Mensch ahnte, daß Blanka und Alwert überhaupt etwas miteinander zu tun hatten. Wer weiß, wie der Junge es fertig brachte, wieviel hundert Lügen er ersann, um sein ewiges Fortsein, sein Niezeithaben zu erklären. Er brachte es fertig, und es sollte sich ja dann zeigen, daß er später noch viel Schwereres für Blanka fertig brachte. Aber dies waren doch die glücklichsten Jahre.

Für Bauer Gäntschow waren sie nicht so glücklich. Er hatte zuviel getrunken, zuviel Geld ausgegeben und die Wirtschaft verlottern lassen. Er hatte auch Pech auf den Feldern gehabt, einen zu trockenen Sommer. Dazu war ein Pferd gefallen, das Geld war alle. Eines Tages hieß es beim Mittagessen, daß es nun nichts mehr helfe, morgen käme der Händler, alles Jungvieh, das bloß fresse, solle verkauft werden. Der Junge neigte die Stirn, er verbarg sein Gesicht im Schatten. Blanka fort! Blanka verkauft! Es war unmöglich. Er fühlte, wie stark sein Herz pochte, und auch dieses Pochen sagte ihm, daß es unmöglich sei. Blanka war nicht zu verkaufen. Den ganzen Nachmittag lag er bei ihr und weinte. Da gehst du, Blanka, schluchzte er, und frißt. Du weißt nichts von dieser Welt, dein Herz sehnt sich erst, wenn wir getrennt sind.

Er zerbrach sich den Kopf, hundert Pläne waren da, aber keiner ausführbar. Wie, wenn man zum Vater ginge und alles gestände ... daß er Blanka liebte? Aber der Vater würde ihn nur auslachen. Aber selbst wenn er ihn verstehen würde, da war die Geldnot. Sie war ja nur eine Fresserin, die nichts brachte. Blanka! Blanka! schluchzte er und legte die Arme um ihren Hals.

Und da wußte er es, plötzlich wußte er es. Nun hatte er immer diese Bücher gelesen, den Robinson, den Karl May, den Lederstrumpf. Große Abenteuer geschahen, und er hatte gemeint, daß sie draußen seien, auf den unendlichen Meeren, an fremden Küsten, unter wilden Völkern.

Aber nein, das Abenteuer war hier wie dort. Es war auf jedem Hof und in jedem Wald, am Grugenteich war es und in Vaters Kuhstall. War nicht Abenteuer genug, was ihm schon geschehen? Er liebte eine verzauberte Prinzessin aus fernen Landen, er allein wußte um sie, und sie stand als Kalbe in seines Vaters Stall! Welchem andern Jungen geschah dies? Und darauf kam es nun eben an, sich dieses Abenteuer nicht fortnehmen zu lassen, nicht zu werden wie die andern. Alle Abenteuer kommen zu uns. Robinson hätte auch zu Haus bleiben und Kaufmann werden können. Nichts zwang den Arzt Gulliver, sich immer von neuem einzuschiffen: sie wollten das Abenteuer! Auch er wollte es! Seine Blanka, seine ... auch er wollte es!

Am nächsten Morgen war der Kuhstall erbrochen und Blanka gestohlen. Es war eine Sache, von der die Halbinsel Fiddichow noch nach Monaten redete. Der dicke Landgendarm war nun jeden Tag auf dem Hof und sprach mit dem Vater. Dann betrachteten sie das Vorhängeschloß, das so seltsam zerschlagen war, so unsinnig zerwütet mit einer Axt, und kamen wieder zu dem Schluß: ein Neuling hatte das getan.

Aber diese Kalbe war ja nicht zu verkennen. Sie mußte wieder auftauchen; hatte Alwert den Vater nicht daran erinnert, daß sie eine Krone auf der Stirn trug, eine weiße, etwas verwischt gezeichnete Krone? Nun, an dieser Krone würde man sie wiedererkennen. Und in der Folge machte der Vater manche lange Reise über das Land, wenn ihn das Gerücht von dem Auftauchen seiner Blanka irgendwohin rief.

Unterdes lag der Knabe im Wald, und seine Blanka graste bei ihm. Der Wald war verwachsen und dicht. Hier fand sie keiner. Nur der Großvater hatte gewußt, daß sich durch dieses Tannendickicht ein Wildwechsel schlängelte, der zum Grugenloch führte. Das war ein Teich, ein kleiner Teich, mitten in den Tannen. Hierher war Alwert mit dem Großvater gekommen, und die beiden hatten sich auf den Grugenstuhl gesetzt, eine abgehauene Tanne. Und der Großvater, dieser seltsame Mann mit dem langen, weißen Bart, der nie Hosen trug, sondern die Enden seines unmäßig langen Leibrocks in die Schäfte der Stiefel steckte, der Großvater hatte ihm von den Grugen und Quaken erzählt, kleinen Geistern, die an diesem Teich ihr Wesen trieben.

Nun waren die andern Wunder gekommen. Der Großvater war gestorben und mit ihm waren die ein wenig künstlichen Wunder der Quaken und Grugen vergangen. Nun hatte sich Alwert seine echten Wunder selbst geholt. Da graste Blanka, schon hatte sie sich an das härtere, spärlichere Waldgras gewöhnt. Sie sah prall und voll aus, ihr ging nichts ab, das sah man. Und neben ihr liegend, in der Sonne, unter dem leisen Rauschen der Tannenzweige, durch die raschelnd die Vögel schlüpften, träumte Alwert davon, wie er jahraus, jahrein zu seiner Blanka kommen würde, zu diesem schwarzweißen Geheimnis, an dem niemand teilhatte. Er begriff nicht, daß man anderes lieben könnte als dieses Tier. Das war das Wunder. Menschen lieben? Menschen sind der Alltag, sie sagen etwas, sie tun etwas, und man konnte sie erraten, man konnte hinter sie kommen, und plötzlich schien die Sonne klar durch sie hindurch. Menschen sind nichts.

Wer aber kam hinter Blanka? Da lag sie und käute wieder, aber das war nur ihr Vorwand, den man nicht beachten durfte. Wenn man in ihre Augen sah, begriff man, daß sie dies alles, Bäume, Sonne, Gras, Wasser und Alwert dazu nur obenauf sah. Was aber sah sie tiefer drin, was sah sie wirklich?

Nicht daß alles leicht war. Gewiß, dort war Blanka und hier im Bett lag Alwert. Aber diese Blanka war so unvernünftig, da lag sie nun in der dunklen Nacht allein im Walde, konnte nicht die Sehnsucht sie nach den andern, nach Alwert überkommen? Konnte sie sich nicht losreißen und auf den Hof laufen? Das war es, daß man ihr nicht erzählen konnte, sie würde verkauft. Sie war eben eine Prinzessin, sie begriff nichts von diesem Leben, alles mußte man für sie tun. Und indes der Regen gegen die Fensterscheiben spritzte, sagte er immer wieder zu sich: da liegt sie draußen, die Blanka, und ich hier.

Auch das war ein Rätsel, daß man eines liebte, an es dachte und getrennt war von ihm. Es war so eine dicke, greifbare Sache, die die andern sich ausgedacht hatten. Gewiß, nach den Augen, mit dem Verstande war es so, daß sie dort war und er hier. Aber war es nicht vielleicht doch unwahr? Lag er nicht etwa auch neben ihr in der Mulde, die er für sie gegraben, unter dem Tannendach, das er für sie geflochten? Er war hier und er war dort. Das war die eigentliche Wahrheit. Ebenso wie Blanka hier und in einer andern Welt war. So ging das zu.

Es war ein glücklicher Sommer! Es war ein seliger Sommer. Endlose Träumereien des Knaben auf dem Grugenstuhl, indes oben langsam Wolken dahingingen, sich ballten, zergingen. Dann schien die Sonne. Sie waren wunderbar diese Wolken, aber sein größeres Wunder hatte er sich aus seines Vaters Kuhstall geholt. Er hatte es gezwungen, wahr zu sein, und gegen sie alle hatte er es behauptet. Die kleinen Grashalme um ihn, die Tannenzweige über ihm, das Wasser vor ihm, der Himmel oben, sie bestätigten es. Da graste sie, sie war schwarzweiß, in einer Neujahrsnacht war sie geboren, sie trug eine Krone auf ihrer Stirn. Sie hätte eine Kalbe wie alle Kalben werden können. Er hatte sie vereinzelt. Er hatte ein Schicksal geschaffen, abseits von allen andern.

Da saß er auf seinem Grugenstuhl, mit seinem langen braunen Jungengesicht voller Sommersprossen, ein Bauernjunge wie alle andern, der in die Dorfschule ging und alltags barfuß lief: ein Junge wie keiner. Solch endloser Sommer! Die kleinen Fliegen schwirrten, und die kleinen Mücken sangen: Ji-Ji, und die Zeit rauschte ganz fern. Oh, meine Blanka!

Dann kam der Herbst mit seinen langen, sonnigen Tagen, und das Futter wurde knapp. Er hatte daran gedacht, für den Winter Heu zusammenzutragen, aber das wenige, was er gesammelt hatte, war im Umsehen zu Ende. Was Blanka auch fraß! Und es war natürlich ausgeschlossen, daß man ihr etwas abgehen ließ. Nun mußte man eben jede Nacht mit einer Traglast Heu zu ihr. Dann war er den ganzen Tag müde, er wurde blaß, er wurde mager, er schlief ewig, wenn er zu Haus war.

Und sie paßten so auf nun! Eines Nachts war der Vater im Zimmer der großen Kinder gewesen und hatte sein Bett leer gefunden. Da mußte er nun endlose Lügengeschichten erfinden, um sie und sich zu retten. Nun blieb nichts, als ein paar Nächte zu Haus zu bleiben, aber dann das Muhen, mit dem ihn Blanka empfing! Er zitterte, er kroch zu ihr, er sprach sanft zu ihr. Es quälte ihn namenlos, daß sie leiden mußte um seinetwillen. Wo waren die sorgenlosen Sommertage hin? Und dies war erst der Herbst!

Aber noch gab er den Kampf nicht auf. Noch gab er sich nicht zu, daß er sich zuviel vorgenommen hatte. Dies war zu sehr Teil seines Lebens, als daß er es hätte aufgeben können. Er mußte sich eben wach halten, bis der Vater nachgesehen hatte, und dann gehen. Aber das hieß, die ganze Nacht wachen, überhaupt nicht schlafen. Und doch führte er es durch. Er gewöhnte sich auch daran, er stahl sich aus dem Tag ein paar Schlafstunden, er wurde ein Nachttier. Und alles war belohnt, und alles war gut, wenn er bei Blanka war. Blanka war nicht mehr Blanka, Blanka war der Weg, aber Blanka war auch das Ziel. Blanka war seine Stellung zu den Menschen. Gab er Blanka auf, gab er sich auf.

Dann fiel der erste Schnee. An ihn hatte er nicht gedacht. Nun waren Spuren da. Jeder konnte ihm nachgehen, jeder konnte Blanka finden. Er wurde eiskalt, als er dies dachte. Nun ist das Ende da, sagte er, aber er glaubte es noch nicht. Ich werde etwas finden, beharrte er. Ich werde auch diesmal etwas finden. Auch diesmal wird es mir glücken.

Der einzige Ausweg, auf den er geriet, war der, Blanka vorläufig im hintersten Keller des Hauses zu verstecken. Dorthin kam so leicht niemand. Es war ein schlechter Ausweg, das wußte er, ein besserer würde ihm später einfallen.

In der Nacht nahm er Blanka am Strick, er führte sie auf den Hof, er führte sie die Treppe hinauf ins Haus, die Treppe hinab in den Keller. Auf dieser Treppe glitt Blanka aus und fiel. Es gab einen ungeheuren Lärm. Mit der Lampe stand der Vater da und fragte: Was in aller Welt machst du hier mit der Kuh? Der Junge starrte ihn totenbleich an. Der Schein der Lampe fiel auf Blankas Stirn. Aber das ist ja Blanka! Das ist ja Blanka! rief der Vater.

 

Es war eine Katastrophe. Es war ein maßloser Skandal. Niemand glaubte dem Jungen, daß er das Tier ›nur so‹ geliebt hatte. Zuerst begriff er nicht, was sie meinten, was sie alle meinten, von der Mutter bis zum Kantor. Aber sie sorgten schon dafür, daß er begriff. Blanka, seine Blanka und er!

Von da an war ihm alles gleich. Er wurde von der Schule gejagt, am liebsten hätte man die Konfirmation rückgängig gemacht. Und dann war natürlich kein Gedanke daran, daß er je den Hof bekam. Ein Mensch, der sich in so jungen Jahren schon so schwer verging! Man gab ihn auf ein Schiff und schickte ihn auf fremde Meere, daß die Schande nur aus den Augen kam.

Oh, meine Blanka!

In den zwei oder drei Wochen, die Alwert nach der Aufdeckung seines Verbrechens noch auf dem Hof war, schlichen natürlich auch seine Geschwister wortlos um ihn herum, als sei er nicht da. Schande bedeutet stets ein von der Mehrheit gefälltes Urteil, und Kinder gehen eigentlich immer mit der Mehrheit. Auch Johannes Gäntschow machte da keine Ausnahme, auch er sprach nie wieder mit dem Bruder. Manchmal, wenn er nach der Schule pfeifend in die Dachstube kam und sah den Bruder still und bewegungslos am Fenster sitzen, mit dem blassen, langen Gesicht, und den Blick ohne Zwinkern auf der grauen Bretterwand der Feldscheune, die, kaum acht Meter entfernt, jede Aussicht versperrte, – manchmal also, wenn er den Bruder so starr sitzen sah, überkam ihn zwar nicht Mitleid, aber etwas wie ein Gefühl von Verbundenheit. Johannes, der kein Träumer war wie sein Bruder, wußte ganz genau, daß die Großen unrecht hatten, von Alwert zu glauben, was sie glaubten. Dafür kannte er den hochmütigen Einzelgänger viel zu gut. Nein, Johannes hatte sich längst aus seinem praktischen Verstand heraus eine sehr andere Theorie über die beiseite gebrachte Blanka gemacht, und für Schande war da kein Raum.

Wenn er darum aber doch nicht mit Alwert sprach, den Boykott mitmachte, so war es einmal deswegen, weil die Kronprinzen immer von ihren Geschwistern gehaßt werden, dann aber, weil er schon damals alle Verwandtschaft, vom Vater abgesehen, nicht ausstehen konnte. Da saßen sie in diesem viel zu vollen Haus, sie überfüllten es mit ihrem Lärm, ihrem Gezänk, sie fuhrwerkten immer in den Sachen und im Leben der andern herum, sie beschwatzten alles, kommandierten, verhöhnten, neckten bis aufs Blut – Verwandtschaft war Vormundschaft, Fessel, Feindschaft.

Nun hatte wohl gerade Alwert all dies nicht besonders deutlich mitgemacht, und ein einsames Tannengeflecht am Grugenteich mit dem Grugenstuhl (Johannes hatte sich das alles angesehen, wie sich die halbe Insel den Schandplatz ansah) –, für all das konnte niemand mehr Verständnis haben als Johannes. Aber kann man denn verzeihen, wenn man, selber voll Haß gegen die andern, vom Bruder in diesen gleichen Haß einbezogen wird? Nein, nein, der hatte immer spöttisch die Augen eingekniffen, wenn Johannes mal den Versuch gemacht hatte, ihm etwas zu erzählen, er hatte eine so infame Manier gehabt zuzuhören und dabei in seine Bücher zu schielen, ›Richtig‹ zu sagen und überhaupt nicht hingehört zu haben, nein – auch Johannes sprach kein Wort mit Alwert, gab ihm auch bei der Abfahrt nicht die Hand. Wie das keiner tat.

Als Alwert aber erst weg war und es sich so machte mit dem Alten, beim Strohhäckseln auf der Tenne, da sagte der elfjährige Hannes dem Vater sehr genau, daß es alles Schiet sei mit Alwert und seiner Blanka, daß sich der Vater mal wieder habe anmeiern lassen, von der lieben Verwandtschaft und der Mutter ... Alwert, der sich dreimal am Tage die Hände wäscht! Was du nur denkst, Vater!!!

Und Hannes grinste verächtlich mit all seinen Sommersprossen, spuckte verächtlich einen Strohhalm aus.

Der Vater ließ das Schwungrad von der Häckselmaschine los, sah seinen Sohn prüfend an und fragte: Und was denkst denn du?

Hat sich 'ne Kuh retten wollen, weil der Hof sein Erbteil ist, sagte Hannes bedeutungsvoll und kniff, ohne es zu wissen, die Augen genau so ein wie sein Bruder.

Retten wollen? fragte der Vater.

Hannes spürte den nahenden Sturm, aber er sagte doch: Es bleibt ja doch nichts, Vater. Es verkommt ja doch alles.

Und darum hat er die Blanka beiseite gebracht? Daß wenigstens was bleibt?

Ja, Vater.

Nein, der Junge hatte keine Angst. Da stand er mit seinem schmalen, verfrorenen Gesicht und den etwas abstehenden, feuerroten Ohren, ein zehnmal geflickter, zusammengestoppelter Anzug, lange, schwarze, rauhwollige Strümpfe, Holzpantoffeln, elf Jahre – aber Angst hatte er nicht.

Der Vater besann sich auch. Dösbartel, sagte er nur, spuckte aus und griff wieder nach dem Schwungrad. Er drehte es gewaltig. Der Junge hatte zu tun, daß er genug Langstroh ranschaffte. Das Häcksel mußte er auch wegkehren. Eine lange Weile war man stille. Nur die Häcksellade machte unermüdlich und scharf: Ssssiete-Ssssiete. Immer der scharfe Schnitt.

Dann mußte der Bauer Atem holen. Er stand da, aber Hannes hatte noch mehr auf dem Herzen. Und was soll denn das, Vater, daß du die Blanka dem Fleischer Frehle für sechzig Mark verkauft hast? Sie ist mindestens das Vierfache wert.

Der Vater sagte ernsthaft: Weil sie keiner haben wollte. Frehle mußte sie extra nach Berlin schicken, da weiß keiner was von ihr.

Und warum haben wir sie nicht behalten? Im Frühjahr hätte sie zum Bullen kommen können.

Weil ... fing der Vater an und brach ab. Nun war sein Gesicht doch sehr rot geworden. Ach, Schiet, sagte er. Bist du hier der Bauer oder ich?

Du, sagte der Junge und kniff wieder spöttisch die Augen ein. Es lag eine ganze Menge in diesem Du, und der Vater verstand das auch sehr gut.

Hitziger sagte er: Was du immer vom Hof dröhnst – vor dir kommt jedenfalls noch der Max.

Bekommt ihn aber auch nicht, sagte Hannes trotzig. Schneide man weiter, Vater.

Stellst du hier an oder ich? schrie der Vater. Ich schneide, wanns mir paßt.

Gerade darum, sagte der Junge, man müßte schneiden, wanns das Vieh braucht.

Der Vater war zornrot bis auf die Glatze hinauf, der Junge sah es. Er erinnerte sich eben gerade an das hundertmal unregelmäßig gefütterte Vieh, besonders aber an eine Kiste mit Nägeln, die er, der Junge, Stück für Stück aus alten Brettern zusammengesucht, und die der Alte in seiner Betrunkenheit hingeworfen hatte. An die ganz besonders.

Es sah aus, als wollte der Vater für diesmal den Jungen prügeln, was er nie tat, er schlug nie ein Kind. Aber er besann sich wieder. Ach was, murrte er, nahm seine Jacke vom Stroh, zog sie an, den Jungen immer finster ansehend, und ging aus der Scheune. Entweder hatte er die Häcksellade ganz vergessen, oder er wollte nun gerade nicht häckseln.

Der Junge sah dem Vater nach. Der Vater ging nicht ins Haus, auch nicht zu den Ställen, auch nicht aufs Feld – er ging den Weg zur Chaussee.

Der Junge brannte lichterloh in seinem Zorn und Kummer, er sah den Bruder Max, er schrie über den Hof: Max, komm längs, Häcksel schneiden! Vater geht in den Krug!

Der Vater machte mit einem Ruck kehrt. Er lief fast auf den Jungen zu, der sich eng gegen den Bansenverschlag drückte. Nun hatte er doch Angst. Der Vater war ganz weiß, er war so aufgeregt, daß er kaum sprechen konnte.

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