Jeder stirbt für sich allein

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Aber keine Bange, der Dollfuß kommt. Er kommt sogar in der Begleitung eines Abteilungsleiters, und dem Werkmeister Otto Quangel wird eröffnet, daß er zwar die technische Leitung dieser Werkstatt behalte, daß er aber sein Amt in der DAF hier an den Herrn Dollfuß abzugeben habe. »Verstanden?«

»Und ob ich das verstanden habe! Ich bin froh, daß du mir den Posten abnimmst, Dollfuß! Mein Gehör wird immer schlechter, und hinhorchen, wie der Herr sich das vorhin vorgestellt hat, das kann ich hier in dem Lärm überhaupt nicht.«

Dollfuß nickt kurz, er sagt rasch: »Und was Sie da vorhin gesehen und gehört haben, darüber zu keinem Menschen ein Wort, sonst ...«

Fast gekränkt antwortet Quangel: »Zu wem soll ich denn reden, Dollfuß? Hast du mich schon mal mit einem Menschen reden hören? Das interessiert mich nicht, mich interessiert bloß meine Arbeit, und da weiß ich, daß wir heute feste im Rückstand sind. Es wird Zeit, daß du wieder an deiner Maschine stehst!« Und mit einem Blick auf die Uhr: »Eine Stunde und siebenunddreißig Minuten hast du jetzt versäumt!«

Einen Augenblick später steht der Tischler Dollfuß wirklich an seiner Säge, und mit Windeseile, keiner weiß woher, verbreitet sich in der Werkstatt das Gerücht, der Dollfuß habe wegen seiner ewigen Raucherei und Schwätzerei einen reingewürgt gekriegt.

Der Werkmeister Otto Quangel geht aber aufmerksam von Maschine zu Maschine, greift zu, starrt mal einen Schwätzer an und denkt dabei: Die bin ich los – für immer und ewig! Und sie haben keinen Verdacht, ich bin bloß ein alter Trottel für die! Daß ich den Braunen mit »Lieber Mann« angeredet habe, das hat denen den Rest gegeben! Nun bin ich bloß neugierig, was ich jetzt anfange. Denn irgendwas fange ich an, das weiß ich. Ich weiß bloß noch nicht, was ...

Nächtlicher Einbruch

Am späten Abend, eigentlich ist es schon Nacht, eigentlich ist es schon viel zu spät für das Verabredete, hat der Herr Emil Borkhausen seinen Enno doch noch getroffen, im Restaurant »Ferner liefen«. Das hat die Briefträgerin Eva Kluge mit ihrem heiligen Zorn doch noch zuwege gebracht. Die Herren haben sich bei einem Glas Bier an einem Ecktisch zusammengesetzt, und dort haben sie geflüstert, sie haben so lange geflüstert – bei einem Glas Bier –, bis der Wirt sie darauf aufmerksam gemacht hat, daß er schon dreimal Polizeistunde geboten hat, und sie möchten doch sehen, daß sie endlich bei ihre Weiber kämen.

Auf der Straße haben die beiden ihre Unterhaltung fortgesetzt, sie sind erst ein Stück nach der Prenzlauer Allee zu gegangen, und dann hat der Enno wieder zurückverlangt, weil es ihm eingefallen ist, es wäre vielleicht doch besser, es bei einer zu versuchen, die er einmal gehabt hat und die Tutti genannt wird. Tutti, der Pavian. Besser als solche faulen Geschichten ...

Der Emil Borkhausen ist fast aus der Haut geplatzt vor so viel Unverstand. Er hat dem Enno zum zehnten, er hat ihm zum hundertsten Male versichert, daß hier von faulen Geschichten nicht die Rede sein könne. Es handele sich vielmehr um eine – beinahe gesetzmäßige – Beschlagnahme, die unter dem Schutze der SS erfolge, und außerdem sei's doch bloß eine olle Jüdsche, nach der kein Hahn kräht. Sie würden sich beide für eine Zeitlang gesund machen, und die Polizei und das Gericht hätten damit nichts zu tun.

Worauf der Enno wieder gesagt hat: Nein, nein, in solchen Sachen habe er noch nie seine Finger gehabt, er verstünde gar nichts davon. Weiber ja und Rennwetten dreimal ja, aber mit faulen Fischen habe er noch nicht gehandelt. Die Tutti sei immer ganz gutmütig gewesen, obwohl sie »der Pavian« genannt werde, die denke sicher nicht mehr daran, daß sie ihm damals mit ein bißchen Geld und Lebensmittelkarten ausgeholfen habe, ohne es zu wissen.

Dabei sind sie schon in der Prenzlauer Allee gewesen.

Der Borkhausen, dieser immer zwischen Kriecherei und Drohen hin und her pendelnde Mann, hat ärgerlich gesagt, wobei er an seinem lockeren fliegenden Schnurrbart riß: »Wer zum Kuckuck hat denn von dir verlangt, daß du was von der Sache verstehst? Ich werde das Kind schon alleine schaukeln, von meinswegen kannste mit den Händen in der Tasche dabeistehen. Ich pack dir sogar noch deine Koffer, wenn du das auch noch verlangst! Versteh doch endlich, daß ich dich nur darum mitnehme, Enno, um mich vor einem Streich von der SS zu schützen, als Zeuge gewissermaßen, daß es bei der Teilung auch richtig zugeht. Denk doch bloß mal daran, was alles bei einer so reichen jüdischen Geschäftsfrau zu holen ist, selbst wenn die Gestapo damals, als sie den Mann holte, schon einiges hat mitgehen lassen!«

Plötzlich hat der Enno Kluge ja gesagt, ohne weiteres Wehren und Bedenklichkeit, ohne Übergang. Nun hat er gar nicht schnell genug in die Jablonskistraße kommen können. Was ihn aber zu der Überwindung seiner Angst und zu einem so rückhaltlosen Ja bestimmt hat, das ist weder das Gerede von dem Borkhausen gewesen noch die Aussicht auf eine reiche Beute, sondern schlichtweg sein Hunger. Plötzlich hat er an die Speisekammer der Rosenthal denken müssen, und daß die Juden immer gerne gut gegessen haben, und daß ihm eigentlich nichts im Leben so schön geschmeckt hat wie gefüllter Gänsehals, zu dem er ein einziges Mal von einem Kleiderjuden eingeladen worden ist.

Plötzlich hat er sich in seinen Hungerphantasien fest eingebildet, er finde solchen gefüllten Gänsehals in der Rosenthalschen Speisekammer. Er hat die Porzellanschüssel, in der er liegt, ganz deutlich vor sich gesehen, und den Hals, wie er in der zu Fett erstarrten Soße liegt, ganz dick gestopft und an beiden Enden mit einem Faden zugebunden. Er wird die Schüssel nehmen und sich das Ganze auf der Gasflamme warm machen, und alles andere ist ihm egal. Der Borkhausen kann tun, was er will, das ist ohne Interesse für ihn. Er wird Brot in die warme, fettige, stark gewürzte Soße tunken, und den Gänsehals wird er aus der Hand essen, daß die Fettigkeit nach allen Seiten rausquatscht.

»Leg noch 'nen Zahn zu, Emil, ich hab das eilig!«

»Warum so plötzlich?« hat Borkhausen gefragt, aber eigentlich ist es ihm recht gewesen, und er hat willig noch einen Zahn zugelegt. Auch er würde froh sein, wenn die Sache erst abgemacht war, auch in seine Branche schlug sie nicht. Er hat nicht etwa wegen der Polizei oder wegen der ollen Jüdin Angst – was könnte ihm groß passieren, wenn er deren Besitz arisierte? –, sondern wegen der Persickes. Das ist so eine verfluchte verräterische Aasbande, denen ist sogar die Gemeinheit zuzutrauen, daß sie auch einem Kumpel einen Streich spielen. Nur wegen der Persickes hat er diesen blöden Hannes, den Enno, mitgenommen, das ist ein Zeuge, den sie nicht kennen, der wird sie schon bremsen.

In der Jablonskistraße ist dann alles schön glatt gegangen. Es wird ungefähr halb elf gewesen sein, als sie die Haustür aufgeschlossen haben, mit einem richtigen, legalen Hausschlüssel. Dann haben sie ins Treppenhaus gelauscht, und als sich dort nichts rührte das Treppenlicht angeknipst und sich bei seinem Schein die Schuhe ausgezogen, denn: »Wir müssen doch auf die Nachtruhe der Mieter Rücksicht nehmen«, hat Borkhausen gegrinst.

Als das Licht wieder aus war, sind sie leise und rasch die Treppe hochgepinschert, und es ist alles glatt und ruhig gegangen. Sie haben keinen von den Anfängerfehlern gemacht, daß sie mit Krach gegen was angerannt sind oder daß ihnen ein Schuh hingepoltert ist, nein, in aller Stille sind sie die vier Stockwerke hochgepinschert. Also, sie haben ein feines Stück Treppenarbeit geleistet, obwohl sie doch beide keine richtigen Ganoven sind und obwohl sie sich beide in ziemlicher Aufregung befinden, der eine besonders wegen des gefüllten Gänsehalses, der andere wegen der Beute und der Persickes.

Das mit der Tür von der Rosenthal hat sich der Borkhausen hundertmal schwieriger vorgestellt, nur ins Schloß gezogen ist sie, ganz einfach aufzumachen, nicht mal abgeschlossen. Was das für 'ne leichtsinnige Frau ist, wo sie doch als Jüdin besonders vorsichtig sein müßte! So sind die beiden in die Wohnung gekommen, sie wissen nicht mal wie, so schnell ging das.

Dann hat der Borkhausen ganz ungeniert auf dem Flur Licht gemacht; er ist jetzt ganz ungeniert gewesen, und: »Wenn die olle Judensau quiekt, hau ich ihr einfach eines vor den Deez!« hat er verkündet, genau wie er's am Vormittag dem Baldur Persicke angekündigt hat. Sie hat aber nicht gequiekt. So haben sie sich zuerst mal in aller Ruhe auf dem kleinen Flur umgesehen, der ziemlich vollgestanden hat mit Möbeln und Koffern und Kisten. Nun ja, die Rosenthals haben ja eine große Wohnung bei ihrem Laden gehabt, und wenn man da so plötzlich raus muß und kriegt nur zwei Stuben mit Kammer und Küche, so quillt das ziemlich über, nicht wahr? Das muß man verstehen.

Es hat ihnen in den Fingern gezuckt, schon jetzt mit Stöbern und Nachsuchen und Packen anzufangen, aber der Borkhausen fand es dann doch richtiger, sich erst einmal nach der Rosenthal umzusehen und der ein Tuch vor den Mund zu binden, damit es keine Schwierigkeiten gibt. In der Stube hat's so vollgestanden, daß man sich kaum hat rühren können, und sie haben schon begriffen, was hier steht, schaffen sie beide auch in zehn Nächten nicht weg, sie können sich nur das Beste aussuchen. In der andern Stube hat's nicht anders ausgesehen und in der Kammer auch so. Nur keine Rosenthal haben sie gefunden, das Bett ist unberührt gewesen. Der Ordnung halber hat der Borkhausen noch in der Küche und in der Toilette nachgesehen, aber die Frau ist nicht dagewesen, und das ist das, was man Massel nennt, denn es spart Scherereien und erleichtert die Arbeit gewaltig.

Der Borkhausen ist in die erste Stube zurückgegangen und hat mit Kramen angefangen. Er hat gar nicht gemerkt, daß ihm sein Kumpel, der Enno, verlorengegangen ist. Der hat in der Speisekammer gestanden und ist bitterlich enttäuscht gewesen, daß es da keinen gefüllten Gänsehals gegeben hat, sondern nur ein paar Bollen und ein halbes Brot. Aber er hat doch mit Essen angefangen, hat sich die Bollen in Scheiben geschnitten und hat sie aufs Brot gepackt, und auch das hat ihm nach seiner Hungerei gut geschmeckt.

 

Wie Enno Kluge da aber so rumgekaut hat, ist sein Blick aufs untere Abteil des Regals gefallen, und er hat plötzlich gesehen, die Rosenthals, wenn sie auch nichts mehr zu beißen haben, zu trinken haben sie doch noch. Denn da unten im Regal haben Flaschen über Flaschen gestanden, Wein und auch Schnaps. Der Enno, der in allem immer ein mäßiger Mensch war, wenn's nicht grade um Pferdewetten ging, hat sich eine Flasche Süßwein geschnappt und zuerst dann und wann seine Zwiebelstullen mit Süßwein angefeuchtet. Aber weiß der Himmel, wie das gekommen ist, plötzlich ist ihm das labbrige Gesöff zuwider gewesen, ihm, dem Enno, der sonst drei Stunden hinter demselben Glas Bier hocken konnte. Jetzt hat er sich eine Flasche Kognak aufgemacht und rasch hintereinander ein paar Schlucke genommen, die halbe Flasche hat er in fünf Minuten leer gemacht. Vielleicht ist's der Hunger gewesen oder die Aufregung, was ihn so verändert hat. Das Essen hat er ganz aufgegeben.

Dann hat ihn auch der Schnaps nicht mehr interessiert, und er ist den Borkhausen suchen gegangen. Der hat noch immer in der großen Stube gestöbert, hat die Schränke und die Koffer aufgemacht, und was drin verpackt war, auf die Erde geschmissen, immer auf der Suche nach etwas Besserem.

»Junge, Junge, die haben wohl ihren ganzen Wäscheladen mitgenommen!« hat Enno ganz überwältigt gesagt.

»Red nicht, hilf lieber!« ist des Borkhausens Antwort gewesen. »Bestimmt ist hier noch Schmuck versteckt und Geld – das waren doch früher reiche Leute, die Rosenthals, Millionäre – und du hast von faulen Fischen geredet, Ochse, der du bist!«

Eine Weile haben die beiden schweigend gearbeitet, das heißt, sie haben immer mehr auf die Erde gerissen, und die hat mit Kleidern und Wäsche und Gerät schon so voll gelegen, daß sie mit ihren Schuhen drauf rumgetreten sind. Dann hat Enno, der vom Schnaps ganz benommen war, gesagt: »Ich seh nichts mehr. Ich muß mir erst 'nen klaren Kopf trinken. Hol mal ein bißchen Kognak aus der Speisekammer, Emil!«

Der Borkhausen ist ohne Widerrede gegangen und mit zwei Flaschen Schnaps zurückgekommen, und da haben sie sich denn einträchtig zusammen auf die Wäsche gesetzt, haben einen Schluck um den andern getrunken und den Fall ernsthaft und gründlich diskutiert.

»Das ist klar, Borkhausen, den ganzen Kram kriegen wir so schnell nicht weg, und zu lange wollen wir hier auch nicht sitzen. Ich denke, jeder von uns nimmt sich zwei Koffer, und damit hauen wir erst mal ab. Ich denke, morgen Abend kommt wieder 'ne andere Nacht!«

»Recht haste, Enno, zu lange will ich hier nicht sitzen, schon wegen der Persickes.«

»Wer ist denn das?«

»Ach, so Leute ... Aber wenn ich denke, ich haue mit zwei Koffern voll Wäsche ab und lasse hier einen Koffer mit Geld und Schmuck stehen, dann möchte ich mir selbst den Kopf abbeißen. Ein bißchen mußte mich noch suchen lassen. Prost, Enno!«

»Prost, Emil! Warum sollste nich noch ein bißchen suchen? Die Nacht ist lang, und wir bezahlen die Lichtrechnung doch nicht. Aber was ich dich fragen wollte: Wo willst du denn mit deinen Koffern hin?«

»Wieso? Was meinste denn damit, Enno?«

»Na, wo du die hinbringen willst? Wohl in deine Wohnung?«

»Na, denkste, ich schaff sie aufs Fundamt? Klar schaff ich die in meine Wohnung, bei meine Otti. Und morgen früh nischt wie ab damit in die Münzstraße und die ganze Sore verscheuert, damit der Vogel wieder zwitschert!«

Enno rieb den Korken am Flaschenhals. »Hör mal lieber, wie der Vogel zwitschert! Prost, Emil! Ich, wenn ich du wäre, ich machte das nicht wie du, in die Wohnung und überhaupt bei die Frau – was braucht die Frau von deinen Nebeneinnahmen zu wissen? Nein, ich, wenn ich du wäre, ich machte es wie ich, nämlich, ich gäbe die Koffer auf dem Stettiner in die Gepäckaufbewahrung, und den Hinterlegungsschein, den schickte ich mir selbst, aber postlagernd. Dann könnte nie was bei mir gefunden werden, und keiner könnte mir was beweisen.«

»Das hast du dir nicht unflott ausgedacht, Enno«, sagte Borkhausen beifällig. »Und wann holste dir den Kram wieder?«

»Na, wenn die Luft rein ist, Emil, denn doch!«

»Und wovon lebste solange?«

»Na, ich hab dir doch gesagt, ich gehe bei die Tutti. Wenn ich der erzähle, was ich für 'n Ding gedreht habe, nimmt sie mich liebend mit beiden Backen auf!«

»Gut, sehr gut!« stimmte Borkhausen zu. »Und wenn du auf den Stettiner gehst, mach ich auf den Anhalter. Weißte, das fällt weniger auf!«

»Auch nicht schlecht ausgedacht, Emil, hast auch ein helles Köpfchen!«

»Man kommt unter Leute«, sagte Borkhausen bescheiden. »Man hört dies und das. Der Mensch ist wie 'ne Kuh, er lernt immer noch zu.«

»Recht haste! Na, dann prost, Emil!«

»Prost, Enno!«

Eine Weile lang betrachteten sie sich schweigend, mit wohlgefälligem Auge, und nahmen ab und zu einen. Dann sagte Borkhausen: »Wenn du dich umdrehst, Enno, es braucht aber nicht gleich zu sein, hinter dir steht ein Radio, der hat mindestens seine zehn Röhren. Den möchte ich mir gerne einpacken.«

»Das mach, das tu, Emil! Radio ist immer gut, zum Behalten und zum Verkaufen! Immer ist Radio gut!«

»Na, denn wollen wir mal sehen, ob wir das Ding in einen Koffer verstauen können, und dann stopfen wir Wäsche rundherum.«

»Soll das gleich sein, oder trinken wir noch einen vorher?«

»Einen können wir vorher noch genehmigen, Enno. Aber nur einen!«

Also genehmigten sie einen und einen zweiten und einen dritten, und dann kamen sie langsam auf die Beine und mühten sich damit ab, einen großen Zehn-Röhren-Radioapparat in einen Handkoffer zu packen, der einen Volksempfänger gefaßt hätte. Nach einer Weile angestrengten Arbeitens sagte Enno: »Es geht nich und es geht nich! Laß den ollen Scheißradio doch sein, Emil, nimm lieber 'nen Koffer mit Anzügen!«

»Meine Otti hört aber gerne Radio!«

»Ich denke, du willst deiner Ollen von dem ganzen Geschäft nichts erzählen? Du bist ja blau, Emil!«

»Und du und deine Tutti? Ihr seid ja alle beide blau! Wo haste denn deine Tutti?«

»Die zwitschert! Ich sage dir, und wie die zwitschert!« Und er reibt wieder den feuchten Korken am Flaschenhals. »Nehmen wir noch einen!«

»Prost, Enno!«

Sie trinken, und Borkhausen fährt dann fort: »Aber den Radio, den möchte ich doch mitnehmen. Wenn das olle Dings durchaus nicht in den Koffer rein will, häng ich mir den Kasten mit einem Strick vor die Brust. Dann habe ich die Hände immer noch frei.«

»Das mach, Mensch. Na, denn wollen wir mal zusammenpacken!«

»Ja, das wollen wir. Wird Zeit!«

Aber sie bleiben beide stehen und starren einander blöde grinsend an.

»Wenn man denkt«, fängt Borkhausen dann wieder an, »es ist doch ein schönes Leben. All diese guten Sachen hier«, er nickt, »und wir können uns nehmen, was wir wollen, und tun noch direkt ein gutes Werk, wenn wir's so 'ner Jüdschen fortnehmen, die doch alles gestohlen hat ...«

»Da haste recht, Emil – ein gutes Werk tun wir, am deutschen Volk und unserm Führer. Das sind die guten Zeiten, wo er uns versprochen hat.«

»Und unser Führer hält Wort, der hält Wort, Enno!«

Sie betrachten sich gerührt, Tränen in den Augen.

»Was macht ihr denn hier, ihr beide?« klingt eine scharfe Stimme von der Tür her.

Sie fahren zusammen und erblicken einen kleinen Burschen in brauner Uniform.

Dann nickt Borkhausen dem Enno langsam und traurig zu: »Das ist der Herr Baldur Persicke, von dem ich dir gesagt habe, Enno! Jetzt kommen die Schwierigkeiten!«

Kleine Überraschungen

Während die beiden Betrunkenen so miteinander sprechen, hat sich der ganze männliche Teil der Familie Persicke in der Stube versammelt. Zunächst dem Enno und Emil steht der kleine, drahtige Baldur, die Augen funkelnd hinter der scharf geschliffenen Brille, kurz hinter ihm die beiden Brüder in ihren schwarzen SS-Uniformen, aber ohne Mützen, und nahe der Tür, als traue er dem Frieden nicht ganz, der alte Exkneipier Persicke. Auch die Familie Persicke ist alkoholisiert, aber bei ihr hat der Schnaps eine wesentlich andere Wirkung gehabt als bei den beiden Einbrechern. Sie sind nicht so rührselig, dumm und vergeßlich geworden, sondern die Persickes sind noch schärfer, noch gieriger, noch brutaler als in ihrem Normalzustand.

Baldur Persicke fragt scharf:

»Nun, wird's bald? Was macht ihr beide hier? Oder ist das etwa eure Wohnung?«

»Aber Herr Persicke!« sagt Borkhausen mit klagender Stimme.

Baldur tut, als erkenne er den Mann erst jetzt. »Aber das ist ja der Borkhausen aus der Kellerwohnung im Hinterhaus!« ruft er ganz erstaunt seinen Brüdern zu. »Aber Herr Borkhausen, was machen Sie denn hier?« Sein Erstaunen wandelt sich in Spott. »Wär's nicht besser, Sie kümmerten sich – zumal mitten in der Nacht – ein bißchen um Ihre Frau, das gute Ottichen? Ich habe so was gehört, es werden da Feste mit besseren Herren gefeiert, und Ihre Kinder sollen noch am späten Abend betrunken auf dem Hof herumgetorkelt sein. Bringen Sie die Kinder zu Bett, Herr Borkhausen!«

»Schwierigkeiten!« murmelt der. »Ich hab's gleich gewußt, wie ich die Brillenschlange sah: Schwierigkeiten.« Er nickt Enno noch einmal traurig zu.

Enno Kluge steht ganz blöde da. Er schwankt leise auf seinen Füßen hin und her, hält die Kognakbuddel in der schlaff niederhängenden Hand und versteht kein Wort von dem, was gesprochen wird.

Borkhausen wendet sich wieder an Baldur Persicke. Sein Ton ist nicht mehr so klagend wie anklagend, er ist plötzlich tief gekränkt. »Wenn meine Frau was tut, was nicht recht ist«, sagt er, »so verantworte ich das, Herr Persicke. Ich bin der Gatte und Vater – nach dem Gesetz. Und wenn meine Kinder besoffen sind, Sie sind auch besoffen, und Sie sind auch noch ein Kind, jawohl, das sind Sie, Mensch!«

Er sieht Baldur zornig an, und Baldur starrt funkelnd zurück. Dann macht er seinen Brüdern ein unmerkliches Zeichen, sich bereitzuhalten.

»Und was machen Sie hier in der Wohnung von der Rosenthal?« fragt der jüngste Persicke dann scharf.

»Aber ganz nach Verabredung!« versichert Borkhausen jetzt eifrig. »Alles wie verabredet. Ich und mein Freund, wir gehen jetzt gleich. Wir wollten eigentlich schon gehen. Er auf den Stettiner; ich auf den Anhalter. Jeder zwei Koffer, für Sie bleibt genug.«

Er murmelt die letzten Worte nur, er ist halb im Eindösen.

Baldur betrachtet ihn aufmerksam. Es geht vielleicht ohne alle Gewalttätigkeit, die beiden Kerls sind ja so blöde besoffen. Aber seine Vorsicht warnt ihn. Er faßt den Borkhausen bei der Schulter und fragt scharf: »Und was ist das für ein Mann? Wie heißt der?«

»Enno!« antwortet Borkhausen mit schwerer Zunge. »Mein Freund Enno ...«

»Und wo wohnt dein Freund Enno?«

»Weiß nicht, Herr Persicke. Nur aus der Kneipe. Stehbierfreund. Lokal: Ferner liefen ...«

Baldur hat sich entschieden. Er stößt plötzlich dem Borkhausen die Faust gegen die Brust, daß der mit einem leisen Schrei hinterrücks auf die Möbel und die Wäsche fällt. »Schwein, verfluchtes!« brüllt er. »Wie kannst du zu mir Brillenschlange sagen? Ich werde dir zeigen, was ich für ein Kind bin!«

Aber sein Schimpfen ist schon nutzlos geworden, die beiden hören ihn nicht mehr. Die beiden SS-Brüder sind schon zugesprungen und haben jeden mit einem brutal geführten Schlag erledigt.

»So!« sagt Baldur befriedigt. »In einer kleinen Stunde liefern wir die beiden als ertappte Einbrecher bei der Polizei ab. Unterdes räumen wir runter, was wir gebrauchen können. Aber leise auf den Treppen! Ich habe gelauscht, aber ich habe nicht gehört, daß der alte Quangel von seiner Spätschicht nach Haus gekommen ist.«

Die beiden Brüder nicken. Baldur sieht erst auf die betäubten, blutigen Opfer, dann auf alle die Koffer, die Wäsche, den Radioapparat. Plötzlich lächelt er. Er wendet sich zum Vater: »Na, Vater, wie habe ich das Ding gedreht? Du mit deiner ewigen Angst! Siehst du ...«

Aber er spricht nicht weiter. In der Tür steht nicht, wie erwartet, der Vater, sondern der Vater ist verschwunden, spurlos weg. Statt seiner steht dort der Werkmeister Quangel, dieser Mann mit dem scharfen, kalten Vogelgesicht, und sieht ihn mit seinen dunklen Augen schweigend an.

 

Als Otto Quangel von seiner Spätschicht nach Haus ging – er hatte, obwohl es wegen des Rückstandes sehr spät geworden war, keine Elektrische genommen, den Groschen konnte er sparen –, da hatte er, vor dem Hause angekommen, gesehen, daß trotz des Verdunklungsbefehls in der Wohnung der Frau Rosenthal Licht brannte. Und bei näherem Zusehen hatte er festgestellt, daß auch bei den Persickes und darunter bei Fromm Licht war, es schimmerte an den Rändern der Rouleaus. Beim Kammergerichtsrat Fromm, von dem man nicht genau wußte, ob er 33 seines Alters oder der Nazis wegen in Pension gegangen war, brannte stets die halbe Nacht Licht, bei dem war es nicht verwunderlich. Und Persickes feierten wohl noch immer den Sieg über Frankreich. Aber daß die alte Rosenthal Licht brannte, und das offen in allen Fenstern, da stimmte etwas nicht. Die alte Frau war so ängstlich und verschüchtert, die würde nie ihre Wohnung so illuminieren.

Da stimmt was nicht! dachte Otto Quangel, während er die Haustür aufschloß und langsam anfing, die Treppen hinaufzusteigen. Er hatte es wie immer unterlassen, das Licht einzuschalten, er war nicht nur für sich sparsam, das heißt genau: Er war es für alle, auch für den Hauswirt. Da stimmt was nicht! Aber was geht es mich an? Die Leute gehen mich gar nichts an! Ich lebe für mich allein. Mit der Anna. Nur wir beide. Außerdem macht vielleicht die Gestapo da oben gerade Haussuchung. Hübsch, wenn ich da reinplatze! Nein, ich gehe schlafen ...

Aber der durch den Vorwurf »Du und dein Hitler« so verstärkte Sinn für Genauigkeit, den man fast schon Gerechtigkeitssinn nennen konnte, fand dies Ergebnis seiner Überlegungen doch recht dürftig. Er stand jetzt wartend, die Schlüssel in der Hand, vor seiner Wohnungstür, den Kopf nach oben gedreht. Die Tür mußte dort offenstehen, es war eine dämmrige Helle da oben, auch hörte er eine scharfe Stimme sprechen. Eine alte Frau ganz für sich allein, dachte er plötzlich zu seiner eigenen Überraschung. Ohne jeden Schutz. Ohne Gnade ...

In diesem Augenblick war es, daß eine kleine, doch kräftige Männerhand ihn aus dem Dunkel heraus an der Brust faßte und gegen die Treppe hin drehte. Eine sehr höfliche, gepflegte Stimme sagte dazu: »Gehen Sie bitte voraus, Herr Quangel. Ich folge und tauche im passenden Augenblick auf.«

Ohne zu zögern, ging Quangel nun die Treppe hinauf, eine solche überredende Gewalt hatte in dieser Hand und in dieser Stimme gelegen. Das kann nur der alte Rat Fromm gewesen sein, dachte er. So ein Heimlicher. Ich glaube, ich habe ihn in all den Jahren, die ich hier wohne, keine zwanzigmal bei Tage gesehen, und nun kriecht er hier zur Nachtzeit auf den Treppen herum!

Während er so dachte, war er, ohne zu zögern, die Treppe hinaufgestiegen und in der Rosenthalschen Wohnung angelangt. Er hatte noch gesehen, wie sich bei seinem Erscheinen eine dickliche Gestalt – wohl der alte Persicke – überstürzt in die Küche zurückzog, er hatte auch noch die letzten Worte Baldurs gehört von dem Ding, das gedreht worden war, und daß man nicht ewig Angst haben sollte ... Nun standen sich die beiden, Quangel und Baldur, schweigend Auge in Auge gegenüber.

Einen Augenblick glaubte selbst Baldur Persicke alles verloren. Aber dann besann er sich auf einen seiner Lebensgrundsätze: Frechheit siegt, und sagte etwas herausfordernd: »Ja, da staunen Sie! Aber Sie sind ein bißchen zu spät gekommen, Herr Quangel, wir haben die Einbrecher erwischt und unschädlich gemacht.« Er machte eine Pause, aber Quangel schwieg. Etwas matter setzte Baldur hinzu: »Einer von den beiden Raben scheint übrigens der Borkhausen zu sein, der hier bei uns auf dem Hofe eine Nuttenwirtschaft duldet.«

Quangels Blick folgte Baldurs weisendem Finger. »Ja«, sagte er trocken, »einer von den Raben ist der Borkhausen.«

»Und überhaupt«, ließ sich plötzlich ganz unerwartet der SS-Bruder Adolf Persicke vernehmen, »was stehen Sie hier und starren bloß? Sie könnten ganz ruhig auf das Revier gehen, Quangel, und den Einbruch melden, damit die hier die Brüder abholen! Wir passen unterdes auf!«

»Stille biste, Adolf!« zischte Baldur ärgerlich. »Du hast dem Herrn Quangel gar keine Befehle zu geben! Herr Quangel weiß schon, was er zu tun hat.«

Aber gerade das wußte Quangel in diesem Augenblick nicht. Wäre er für sich allein gewesen, er hätte sofort einen Entschluss gefaßt. Aber da war diese Hand an seiner Brust, diese höfliche Männerstimme gewesen; er ahnte nicht, was der alte Kammergerichtsrat vorhatte, was er von ihm erwartete. Er wollte ihm sein Spiel nicht verderben. Wenn er nur wüßte ...

Aber gerade in diesem Augenblick tauchte der alte Herr auf der Bildfläche auf, nicht, wie Quangel erwartet hatte, neben ihm, sondern aus dem Innern der Wohnung kommend. Plötzlich stand er wie eine Geistererscheinung zwischen ihnen und jagte den Persickes einen neuen, noch größeren Schrecken ein.

Er sah übrigens höchst seltsam aus, der alte Herr. Die zierliche, kaum mittelgroße Gestalt war ganz in einen seidenen, schwarzblauen Schlafrock gehüllt, dessen Kanten mit roter Seide eingefaßt waren und der mit großen roten Holzknöpfen geschlossen war. Der alte Herr trug einen eisgrauen Kinnbart und einen stark gestutzten Bart auf der Oberlippe. Das sehr dünne, noch bräunliche Kopfhaar war sorgfältig über den bleichen Schädel frisiert, konnte aber die Blöße nicht ganz verdecken. Hinter der schmalen, goldgefassten Brille funkelten vergnügte, spöttische Augen zwischen tausend Fältchen.

»Nein, meine Herren«, sagte er zwanglos und schien dadurch eine längst begonnene und alle höchst befriedigende Unterhaltung fortzusetzen. »Nein, meine Herren, Frau Rosenthal ist nicht in der Wohnung. Aber vielleicht bemüht sich einer der jungen Herren Persicke einmal auf die Toilette. Ihr Herr Vater scheint nicht ganz wohl zu sein. Jedenfalls versucht er ständig, sich mit einem Handtuch dort aufzuhängen. Ich konnte ihn nicht davon abbringen ...«

Der Kammergerichtsrat lächelt, aber die beiden älteren Persickes verlassen so überstürzt das Zimmer, daß es schon fast komisch anmutet. Der junge Persicke ist jetzt sehr blaß und ganz nüchtern geworden. Der alte Herr, der da eben das Zimmer betreten hat und der mit solcher Ironie spricht, das ist ein Mann, dessen Überlegenheit sogar Baldur ohne weiteres anerkennt. Der tut nicht nur überlegen, der ist es wirklich. Baldur Persicke sagt fast bittend: »Verstehen Sie, Herr Kammergerichtsrat, Vater ist, gradeheraus gesagt, völlig besoffen. Die Kapitulation von Frankreich ...«

»Ich verstehe, ich verstehe vollkommen«, sagt der alte Rat und macht eine beschwichtigende Handbewegung. »Wir sind alle Menschen, nur, daß wir uns nicht gleich alle aufhängen, wenn wir betrunken sind.« Er schweigt einen Augenblick und lächelt. Er sagt: »Er hat natürlich auch alles mögliche geredet, aber wer achtet schon auf das Geschwätz eines Betrunkenen?« Wieder lächelt er.

»Herr Kammergerichtsrat!« sagt Baldur Persicke flehend. »Ich bitte Sie, nehmen Sie diese Sache in die Hand! Sie sind Richter gewesen, Sie wissen, was zu geschehen hat ...«

»Nein, nein«, sagt der Rat entschieden ablehnend. »Ich bin alt und krank.« Er sieht aber gar nicht so aus. Im Gegenteil: blühend sieht er aus. »Und dann lebe ich ganz zurückgezogen, ich habe kaum noch Verbindung mit der Welt. Aber Sie, Herr Persicke, Sie und Ihre Familie, Sie sind es doch, die die beiden Einbrecher überrascht haben. Sie übergeben sie der Polizei, Sie stellen das Gut hier in der Wohnung sicher. Ich habe mir bei meinem raschen Rundgang eben einen kleinen Überblick verschafft. Ich habe zum Beispiel siebzehn Koffer und einundzwanzig Kisten gezählt. Und anderes mehr. Und anderes mehr ...«

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