Gefängnistagebuch 1924

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Sonnabend, 21. Juni 1924

Was mir von diesem, nun zwei Wochen zurückliegenden ersten Arbeitstage im Gedächtnis geblieben ist, ist dieses:

Eine aus den Maßen schaudervolle Nacht. Kurzes heftiges Einschlafen und Erwachen von einem Jucken, das ich nun schon kenne. Ich fahre auf. Mein Bett scheint zu leben. Und da ich die Juckstellen am Körper kratze, scheinen es unzählige zu sein. Legionen müssen meine Lagerstatt erfallen. Ich suche den Mord, finde aber nur wenig Opfer.

Und dann wieder ein sachtes Hindämmern, das, ehe nur der Schlaf kommt, wieder mit einem Emporschrecken und Kratzen endet und so fort und – so – fort. Dabei höre ich die Stunden vom Turm schlagen, endlos, mit endlosen Pausen zwischen den Viertelstunden. Ein Nachtvogel knarrt vor meinem Fenster, schnarrend, mißtönig. Dazu lärmen Hunde! Hält man hier Hunde? Ja, einer muß draußen auf dem Hof vor meinem Fenster lärmen, ein anderer drunten im Haus. Ich denke an den ersten Abschnitt von »Anton und Gerda«.

Gegen Morgen falle ich in einen tiefen Totenschlaf, in den doch noch die Erinnerung an die ausgestandene Quälerei hineinwebt. Dann höre ich eine Stimme »Aufstehen« rufen und noch einmal »Aufstehen«. Ich fahre auf.

Das frische Wasser tut mir wohl. Während des Anziehens überlege ich mir den Morgenplan. Da ich nicht weiß, wieviel Zeit mir bis zum Arbeitsanfang zur Verfügung steht, muß ich mich mit dem Reinigen der Zelle beeilen.

Zuerst mache ich das Bett. Ich habe die glatte Fläche, in der die Oberdecke in der Kalfaktorenstube lag, noch gut in der Erinnerung und finde, daß sich eine solche Glätte mit zwei in einen Überzug eingeschlagenen Flanelldecken nicht leicht erzielen läßt.

Dann fege ich mit dem Handkehrer die Zelle aus. Staubfreiheit des Bodens zu erzielen erweist sich auch nicht als einfach, besonders von der Wand fallen bei jeder Berührung kleine Kalkpartikelchen ab, die auf dem Linoleumboden sehr häßlich aussehen.

Zwischendurch läutet eine Glocke. Wenn es schon das Zeichen zum Beginn der Arbeitszeit wäre? Aber nein, vorher muß es mindestens einen Morgenkaffee geben, und für alle Fälle halte ich den Emaillebecher aus dem Schrank bereit. Meine Ahnung hat mich nicht getäuscht, meine Zelle wird aufgeschlossen, ich trete an die Tür mit dem Becher, der mir randvoll mit einer heißen braunen Brühe gegossen wird, ich erhalte wieder ein Halbpfundstück Brot, und die Zellentür schließt sich von neuem.

Das Brot kommt zu dem von gestern abend in den Schrank. Ich versuche mich an den Gudderitzer Stullen und einem der beiden verbliebenen Eier. Aber es wird nichts Rechtes aus dem Essen, ich schwitze dabei schon wieder, wie ich eben beim Fegen schwitzte. Meine Glieder scheinen nachzugeben. Abstinenzerscheinung, denke ich und treffe damit wohl so ziemlich das Richtige. Nur der heiße Trank tut dem Magen gut, es ist ein nicht sehr hochprozentiger Roggenkaffee.

Dann wische ich meine Zelle auf, und als sie trocken wird, hebe ich jedes noch etwa daliegende Fäserchen auf. Immer noch erfolgt nichts. Ich rechne – nach dem Glockenschlag – aus, daß ich kurz vor halb sechs Uhr aufgestanden bin, jetzt muß es ziemlich sieben sein.

Schlimm ist es, daß man nicht eine Zeile zum Lesen hat. Nicht eine? Doch, das Klosettpapier ist bedruckt, es sind die zerschnittenen Seiten eines Buches; habe ich mehr Zeit, so werde ich versuchen, sie zusammenzusetzen.

Dann geht meine Zelle auf. »Antreten zum Holzhof!« Ich steige die beiden Treppen hinunter, auf dem Gang steht schon eine Reihe Graugekleideter wie ich, ich stelle mich dazu. Ein Wachtmeister meldet dem Oberwachtmeister: »Elf Mann zur Arbeit«, schließt die Tür auf, und: »Rechtsum kehrt. Marsch.« Wir steigen eine kleine Außentreppe hinunter, vor uns ein mäßig großer, von sehr hohen roten Mauern umgebener Hof mit Kiesplatz und zwei Kastanien. Eine oval eingetretene Bahn. Das ist der Hof für die »Freistunde«, der Hof, auf dem die Untersuchungsgefangenen täglich eine Stunde, in Abständen hintereinander, spazierengehen dürfen.

Wir aber treten durch eine kleine Eisentür auf einen zweiten, sehr großen Hof, den Holzhof. Auch hohe Ziegelmauern. Links an sie anlehnend eine Schuppenreihe, der letzte zweistöckig, die zweiflügligen großen Tore werden aufgestoßen, und die Stätte meiner Arbeit für ein halbes Jahr liegt vor mir.

Hinter dem linken Tor stehen im Halbkreis zehn, zwölf Hauklötze, hinter dem rechten nebeneinander ein Dutzend Sägeböcke. Links in der Ecke ist eine Art Schalterhäuschen für den Beamten eingebaut, rechts ein Lokus.

Eine Säge wird mir in die Hand gedrückt, ich bekomme einen Partner. Wir sägen los. Drei, vier Sägen sägen los. Die andern hacken Holz. Zwei Wachtmeister lehnen gelangweilt an den Türen. Man redet nur abgerissen und leise miteinander, das Sprechen ist zwar nicht verboten, wird aber nicht für die Arbeit fördernd angesehen und deswegen möglichst eingedämmt.

Mein Partner – ein halber Pole scheint es – ist ein wenig unsicher, schwankt zwischen Sie und du. Die nun schon gewohnten Fragen: wie lange, warum, woher, Selbststeller. Ich erfahre, der dicke Herr von gestern ist der Gefängnisvorsteher gewesen, er muß gleich kommen.

Kommt schon. Die Eisentür am Ende des von Riesenholzstapeln umsäumten Weges bumst, und er kommt näher. Bleibt zunächst meinem Sägebock stehen. »Wie heißen Sie?« – »Woher kommen Sie?« – »Weswegen?«

»Unterschlagung. Ich habe Korn verschoben.«

»Zum ersten Male bestraft?«

»Ja.«

»Und keine Bewährungsfrist bekommen?«

»Nein.«

»Aber das ist doch hart, sehr hart.«

(Wie gut das tut! Hat man Mitleid verachtet? Dies ist Trost. Sei gesegnet dafür, Herr Vorsteher.)

»Was sind Ihre Eltern?« – »Wie alt sind Sie?«

»Nächsten Monat einunddreißig.«

»Aber Sie werden ja alt, Sie werden ja alt!«

Dann, zusammenfassend, nach längerem Gespräch: »Wenn Sie sich gut führen, können Sie nach der Verbüßung der Hälfte Ihrer Strafzeit Bewährungsfrist beantragen. Ich würde das befürworten.«

»An meinem guten Willen soll es nicht fehlen. Wenn nur die Kräfte reichen.«

»Man wird nichts Unangemessenes von Ihnen verlangen. Natürlich, schwer arbeiten müssen Sie, denn es soll ja eine«, Pause, Zögern, »Strafe sein. Halten Sie sich gut.«

Ich gehe an meinen Bock zurück. Wir sägen weiter. Der Pole sagt zu einem andern neidvoll: »Der kriegt einen Posten

Die Zeit von halb sieben bis halb zwei Uhr ist pausenlos sehr lang. Der Arm ist völlig abgestorben, ein Teil einer Maschine, die Füße brennen maßlos in den ungewohnten Lederpantoffeln. Ich wechsele immer wieder das Standbein, aber es schmerzt doch toll. Und die Zeit will nicht enden. Will nicht enden. Zwischendurch muß ich Holz tragen. Ein dicker Wachtmeister in Zivil fordert mich dazu auf: »Wollen Sie … bitte … das Holz holen, Ditzen … Herr Ditzen …«

Es rührt mich ein wenig, es ärgert mich ein wenig, daß ich auch hier Ausnahme bin, daß man nicht die rechte Einstellung zu mir findet.

Endlich heißt es: »Mittag«. Ich wasche Gesicht, die brennenden Hände und Füße gründlich, esse ein paar Löffel von Graupen mit Kartoffeln und werfe mich auf mein Bett. Aber es kommt zu keinem Schlaf, es ist nur das Dämmern eines Erschöpften, durch das alle Augenblicke grelle Bilder zucken.

Der Nachmittag bringt zuerst eine neue Beschäftigung. Ich muß mit vor den Holzwagen. Das sind ziemlich große Kastenwagen, die zwei Meter gehacktes Holz fassen. Vier bis sechs Gefangene spannen sich mit Gurten davor. Beim Einspannen erregt der »Pole« ein wenig mein Erstaunen, er fährt erst in den einen, dann in einen andern Winkel und flüstert einem Genossen jauchzend zu: »Mensch, ich habe doch immer Dusel. Ein Zigarren-, ein Zigarettenstummel! Die muß der Alte doch richtig für mich hingelegt haben.«

Dann die Fahrt durch die Stadt. Man sieht nicht hoch, man ist mit Ziehen beschäftigt. Wir halten irgendwo, ich bekomme einen Misthaken und muß das Holz vom Wagen in die Körbe haken. Der Schweiß läuft mir dabei in Strömen herunter, ich denke ein paar Male, ich kann mit den erlahmenden Armen nicht weiter. Als ich die Spannung des Wagens nicht gleich lösen kann, weist mich der Wachtmeister an. Er wird nicht ungeduldig, als ich mich ungeschickt anstelle, er sagt nur: »Jaja, was man nicht alles lernen muß!«

Es liegt ein etwas überlegenes Bedauern im Ton.

Als wir uns wieder einspannen, steckt mir der Kalfaktor, der mit von der Tour ist, eine Schachtel mit fünf, sechs Streichhölzern zu. Der Rest des Tages mit seiner Sägearbeit ist Spielerei. Ich werde heute abend rauchen. Und morgen auch noch. Der Abschied!

Und es wird Feierabend. Ich wasche mich wieder, bekomme einen Napf Haferflocken. Das Brot weise ich zurück. »Ich habe noch soviel.«

Der Rest von Frau Wulfens Proviant verschwindet mit ein paar Löffeln Brei. Dann, eine Stunde später, wird der Napf abgeholt. Ich frage den Oberwachtmeister Labs, ob ich für mich werde arbeiten dürfen. Er wird den Vorsteher fragen.

Und nun wird es still im Haus. Ich drehe mir eine Zigarette und brenne sie an. Wie das schmeckt! Ich habe nie gewußt, daß Zigaretten so gut schmecken. Das volle Aroma prickelt in jeder Pore des Mundes. Und ich suche mir aus meinem Klosettpapier ein paar fortlaufende Seiten einer Erzählung zusammen. Sie handelt von einem Schreiber, der tausendvierhundert Gulden unterschlug, sich aber in der Trunkenheit verriet. Mensch, hüte dich vor dem Alkohol. Im allgemeinen hat man davon den Eindruck, daß nicht das Unterschlagen, sondern das Besaufen das Schlimme war.

Und nun ist es Nacht. Ich muß hinein in meinen Wanzenkahn. Mir graut ein wenig davor.

Sonntag, 22. Juni 1924

Die Nacht ist wieder toll mit ihren Wanzenquälereien. Ich werde selber davon toll, vor allem, da ich trotz erneuter Bitte noch immer kein Mittel gegen sie habe. Soll das so weitergehen? Immer nur zwei, drei Stunden unruhiger Schlaf und tagsüber schärfste Arbeitsleistung? Freilich morgen ist Sonntag – aber was nützt ein Sonntag, wenn man halbtot ist? Schließlich werde ich selber toll und reiße eines der kostbaren Zündhölzer an. Siehe da, ihr lieben Tiere! Da huschen ein paar der schon bekannten Gestalten über das Laken. Nicht schnell genug, ich erwische sie und töte so lange, bis der letzte Rest des Streichholzes zwischen den Fingerspitzen verglüht.

 

Viel hat es nicht geholfen. Sie beißen ebenso wie vorher. Aber der Gedanke tröstet, daß es zahlenmäßig doch weniger sind.

Aus dem dumpfen Morgenschlaf weckt mich viel zu früh die Aufstehglocke. (Ich merke, daß ich gestern zu zeitig aufgestanden bin, der Ruf »Aufstehen« gilt dem Koch und den Kalfaktoren, wir hören erst auf die Glocke.) Ich bin noch beim Waschen, als ich mein Frühstück erhalte. Wie gestern einen Kanten Brot und einen Topf Korn. Ein Mann mit einem Tablett, auf dem Portiönchen, Kunsthonig scheint’s, liegen, wird weitergeschickt. »Der nicht!«

Warum ich nicht? Ich bin nicht recht einverstanden damit und setze mich nun, zum ersten Male allein auf das hiesige Essen angewiesen, an den Morgenimbiß. Ein bißchen üppiger könnte er ja, zumal am Sonntag, sein. Ich »breche das Brot«. Sieh da, nun lernt man die Gewohnheiten der Alten! Ich habe ja kein Messer (wie auch keine Gabel), mit dem Löffelstiel schneidet sich das bröcklige Brot schlecht, so muß man es brechen. Aber es will noch nicht recht schmecken, dieses trockene Brot. Aber schon begreife ich, warum eine so große Portion Kaffee dazu vonnöten ist. Damit man es schlucken kann, muß es sehr angefeuchtet werden, und das bißchen Speichel ist gleich verbraucht. Da hilft der Kaffee.

Aber ich bringe es kaum zur Vertilgung eines Drittels. Der Rest wandert in den Schrank, wo schon ein solcher Knust steht. Vielleicht steigt mein Hunger in den nächsten Tagen.

Und nun mache ich mich an das gründliche Reinmachen der Zelle. Alle Holzteile scheuere ich, auch den Ofen. Mittendarin überrascht mich das »Kübeln«, das Holen und Entleeren des Eimers, das Füllen des Wasserkruges. Oberwachtmeister Labs schließt auf.

»Herr Vorsteher hat nichts dagegen, wenn Sie für sich arbeiten; Sie müssen nur Ihre Zelle gut sauberhalten und tüchtig gegen die Wanzen spritzen.«

»Aber ich habe noch gar kein Wanzenmittel!«

»Sie haben noch kein Wanzenmittel?«

»Nein.«

»Na, Sie werden es schon bekommen.«

Meine Seele jauchzt. Ich darf schreiben! Ich darf heute noch am Sonntag schreiben! Denn die Bedingung mit dem Reinigen und Spritzen kann doch nicht heißen, daß ich erst nach völliger Vertilgung der Wanzen mein Schreibzeug bekomme? Freilich, wann werde ich es bekommen?

Ich stürze mich mit Feuereifer auf die Reinigung. Ich bin wohl noch etwas ungeschickt, aber dann wird es eben zweimal gemacht. Zum Schluß titsche ich von dem trocknenden Boden mit der Fingerspitze einige noch verstreute Krümchen auf.

Zwischendurch werde ich ein paar Male gestört. (Ich zittere ein wenig, denn ich habe eine Zigarette geraucht, aber es ist wohl nichts mehr davon zu merken.) Meine Tür wird aufgeschlossen, ein Wachtmeister steht da.

»Bibliotheksbuch!«

»Ja?«

»Bibliotheksbuch!! – Donnerwetter, Ihr Bibliotheksbuch, nehmen Sie doch!«

Jetzt sehe ich erst, daß er mit dem Finger erdwärts deutet. Neben meiner Zelle lehnt auf dem Gang an der Wand ein Buch. Ich nehme es auf, die Zelle schließt sich wieder. Walter Bloem, »Der Vormarsch«.

Na ja, das ist ja wohl auch »so ein goldiges Poetenherz, das immer feste weg Auftritt um Auftritt« (Roman um Roman) »schafft. Und immer fest weg. Und Mannestreue. Und Becherfunkeln tief in der Brust …«

Aber es ist schließlich etwas zu lesen, ich brauche nicht mehr die Stücken Klosettpapier zusammenzusetzen, um schließlich zu erfahren, daß Sich-Besaufen schließlich mal sehr unangenehm werden kann. Das könnte ich dem Verfasser mit mehreren sehr lebenswahren Beispielen belegen.

Doch nun habe ich keine Zeit fürs Lesen, erst muß die Zelle sauber sein. Dann darf ich schreiben! Dann darf ich schreiben! Dann darf ich schreiben!

Was es wohl werden wird?

Es schließt schon wieder an meiner Tür, ob es schon das Schreibzeug ist? Nein, der Wachtmeister, der mich gestern »Herr« titulierte, ist es, mit einem weißgekleideten Strafgefangenen. »Wollen Sie Brief schreiben?«

»Nein. Ja. Ich habe von Herrn Vorsteher die Erlaubnis, für mich zu arbeiten. Ich habe eigenes Briefpapier. Könnte ich wohl meine Schreibsachen …?«

Es ist ein ziemlich sinnloses Gestammel, und als sich die Zellentür wieder schließt, ist es mir gar nicht klar, ob jener meine Bitte überhaupt verstanden hat.

Viel trägt zu dieser blöden Ausdrucksweise das Reden zwischen Tür und Angel bei. Ich habe das Gefühl, wird die Sache dem Beamten zu lang, klappt er einem einfach die Tür vor der Nase zu. Man muß sich so kurz wie möglich ausdrücken, und das ist manchmal bei der Eile, in der alles geht, etwas schwierig.

Nun ist alles fertig, nichts mehr zu tun. Ich gehe auf und ab. Wann werde ich mein Schreibzeug bekommen? Was werde ich schreiben? Auf und ab. Es sind sieben Schritte. Ich rechne aus, wie oft ich auf und ab gehen muß, bis ich einen Kilometer geschafft habe. Ich suche die Zettel Klosettpapier wieder vor, nun markiere ich mit ihnen die Zellenstrecke, welche sind Einer, welche Zehner, welche Hunderter.

Wie endlos die Zeit sich dehnt, bis ich einen Hunderterzettel hinlegen kann. Lieber dabei Gedichte aufsagen. Aber auch das versagt. Und ich versuche zu lesen. Welcher Unsinn! Und entmutigt setze ich mich auf meine Holzbank und denke: Wann bekomme ich mein Schreibzeug?

Es ist fixe Idee geworden, alles dreht sich nur darum, alles ist wertlos neben diesem.

Da! Die Schlüssel klingen! Jetzt kommt es.

Nein, es ist ein Wachtmeister mit dem zweiten Kalfaktor, ich bekomme mein Wanzengift. Ich bin wieder allein, aber nun habe ich etwas zu tun. Ich nehme die Bettwäsche ab, erst untersuche ich die Matratzen, den Kopfkeil. In mancher Falte sitzen fünf, sechs Stück, ich zerdrücke sie, ehe sie fliehen können. Die großen sind rotbraun, die kleinen von einem gallertfarbenen Weißlich. Dann kommt die Bettstelle selbst. Ein paar der Unterlegbretter bekomme ich los, ich pinsele alles aus, ich fahre in die Ritzen. Sie fliehen. Ich töte sie. Das soll endlich eine ruhige Nacht werden!

Eine Stunde ist vergangen, vielleicht. Das Bett ist wieder gerichtet, ich gehe wieder auf und ab. Es geschieht nichts. Ich fange an, die Inschriften der Wände zu studieren, die dort mit endloser Mühe eingekratzt sind, denn mehr als eine Nadel oder höchstens einen Glasscherben hat wohl niemand meiner Vorgänger gehabt. Ich lese den Stadtnamen »Uelzen«, die Heimatstadt meiner Mutter. Einer hat immer wieder Sterne gezeichnet und in den Sternen wieder Sterne. Wieviel stumpfsinnig verbrachte Zeit! Ob sie dabei nachgedacht haben? Worüber! Wieviel zusammengekrampftes Leben in der Enge dieser Wände!

Auch die braune Glasur des Ofens ist zerkratzt, so daß das Gelb des Tons hervorscheint. Ein Revolver. Ein Totenkopf mit gekreuzten Knochen, ein Tomahawk, Namen. Im Innern meines Schrankes steht: »Wer einmal stihlt und ins Gefängnis kamm, der kommt auch öfter rein.«

Ein anderer hat mit unsäglicher Mühe in Zierschrift mit Nadelstichen dies in ein Brett des Wandschranks graviert: »Lebenslauf! Am 7.6.03 wurde ich Bruno Ernst Willi als Sohn des Kapitäns Karl Bollnow zu Stralsund geboren. Vom 6. Lebensjahr besuchte ich die hiesige Volksschule …«

Arbeit von Monaten, dann bricht sie ab. Ist er entlassen worden? Auf Gemeinschaft verlegt?

Derselbe auf der Unterseite des Tisches: »Bruno Bollnow, Stralsund, Abteilung für schweren Diebstahl, 1.3.23 bis 15.10.23.«

Aber am meisten hat der graue Eisenlack der Tür daran glauben müssen. Er ist völlig zerkratzt von Daten, Berechnungen, langen Kalendern. Ich lese »78 Wochen 15.1., 74 Wochen 12.2.« usw.

Und ich erinnere mich daran, daß auch ich meinen Tag nicht vergessen darf; wie schrecklich, wenn man nicht wüßte, wie weit man wäre! Und ich ziehe die Nadel aus der Gefängnisordnung, ich ritze ein: 20.6.24. Ich richte einen Kalender ein, bei dem ich jeden überstandenen Tag nur mit einem Strich zu bezeichnen brauche. Aber mittendrin fällt mir ein, daß ich ja schreiben darf, ich habe diese Hilfsmittel nicht nötig, wenn ich erst mein Schreibzeug habe …

Warum kommt es nicht? Kommt es gar nicht? Wirklich erst nach der Wanzenvertilgung? Und ich laufe wieder auf und ab, ich blättere wieder in dem Buche, ich nehme die Nadel wieder in die Hand: Die Zeit rückt nicht vor!

Noch einmal werde ich herausgeholt, ich komme wieder auf Kammer. Mein vorgestern erhaltenes Zeug wird schon wieder umgetauscht, ich erhalte einen Anzug aus einer Art dunkelblauen Rupfens mit starken weißen Fäden darin. Oberwachtmeister Labs gibt ihn mir, ich könnte ihn um das Manuskript bitten, aber ich wage es nicht, er könnte grob werden, es warten soviel andere auf die Umkleidung in sommerliches Gewand.

Ich gehe wieder hinauf, und endlich wird es Mittag. Ich erhalte einen Napf weiße Bohnen. Sie schmecken gut. Aber ich schaffe sie nicht annähernd. Da ich gestern gehört habe, daß auf die ca. achtzig Mann Belegschaft des Gefängnisses bei Bohnen und Erbsen vier Pfund Fleisch gegeben werden, so suche ich nach Spuren davon. Ich finde ein paar Fäserchen, nicht größer als der Keim einer Bohne.

Und dann lege ich mich schlafen. Ich rauche noch eine Zigarette, ich blättere im »Vormarsch«. (Vorm Arsch wäre [wie Rabindranath Tagore] die beste Verwendung dieses Opus.) Ich werde lange schlafen, viele Zeit wird vergangen sein, und vielleicht werde ich gar geweckt werden von meinem Manuskript.

Fixe Idee.

Aber ich werde nur vom Schüsselholen geweckt. Ich bitte den diesmal kommenden Wachtmeister nochmals um mein Manuskript. Er wird es besorgen. Ich warte. Nichts. Aus dem Mute der Verzweiflung brenne ich eine Zigarette an: Er kommt ja doch nicht!

Er kommt auch wirklich nicht, und ich dusele wieder ein.

Ich wache auf mit benommenem, schmerzendem Kopf. Welche Zeit mag es sein? Keine Ahnung. Plötzlich merke ich, welch schreckliche Luft in meiner Zelle trotz des offenen Klappfensters herrscht. Da ist der scharfe, beißende Gestank des Wanzenmittels, das milchig in meinem Spucknapf steht. Da ist der Geruch des Abortkübels, der den ganzen Sonntag, der vierundzwanzig Stunden ungeleert in meiner Zelle steht und der nicht wenig bei dieser voluminösen Nahrung benutzt wird. Schlimm, sehr schlimm.

Aber am schlimmsten, daß ich nun wieder sinnlos auf und ab laufe, Stunden, ab und zu ein Krümelchen vom Boden aufsammele oder auf das Kübelgestell klettere und, auf den Zehen stehend, zum Fenster hinausspähe, wo draußen die Wallbäume in der Sonne stehen.

Und schließlich – als der Raseur, ein Strafgefangener, kommt und nach Ansehen meines Bartes mit dem Worte: »Nächsten Sonntag!« wieder fortgeht – flehe ich den ihn begleitenden Wachtmeister noch einmal um einen Boten an Labs an.

Und gehe wieder auf und ab. Und warte.

Wieder auf und ab. Warte.

Und als ich gar nicht mehr hoffe, steht Labs in meiner Tür: »Nun dürfen Sie mich aber nicht so oft stören, ich habe mehr zu tun.«

Ich entschuldige mich. Ich suche aus meinem Koffer Papier und Federn, ich erhalte Tinte. Nun sitze ich auf meiner Zelle. Das Leben ist wieder linde geworden. So leicht. So leicht.

Aber eigentlich weiß ich gar nicht, was ich schreiben soll. Ich habe zu nichts rechte Lust. Umarbeiten? Etwas Neues? Und da kommt mir die Erinnerung an das Tagebuch, von dem ich mit Kagelmacher sprach, jenes Tagebuch, in dem ich so wahrheitsgetreu, wie ich eben sein kann, das einschreiben werde, was ich erlebe. Wie dieses Erleben auf mein Fühlen wirkt. Und wenn das Erleben schwer ist, wird es schon durch dieses Niederschreiben gelindert werden.

Und nun sitze ich und schreibe. Es ist nichts geschehen: Ich schreibe wieder. Wieder einmal. Dazwischen esse ich schnell mein Abendbrot, ein halbes Pfund Brot zu einer Art Kartoffelsuppe, auf der einige Speckbrocken schwimmen. Und ich schreibe weiter. Es wird dämmerig, dunkel. Es berührt mich beinahe gar nicht, daß mein letztes Streichholz zerbricht. Nun gut, ich werde auf diese letzte Zigarette verzichten müssen. Ich schiebe eine Fingerspitze Tabak zum Kauen in den Mund. Und nun kann immer die neue Arbeitswoche kommen.

 
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