Ein Mann will nach oben

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13. Suche nach Vater

Der Grüne Baum, so voll er auch war, beherbergte doch den alten Busch nicht mehr, sie mochten noch so sehr in jedem Winkel nach dem stillen Trinker Ausschau halten. Hier wäre Karl Siebrecht nun schon am Ende seiner Suche gewesen, Rieke Busch aber wandte sich entschlossen zur Theke: »Wart 'nen Oogenblick, Karl«, flüsterte sie. »Die müssen hier doch Vata'n kennen –!«

Vor der Tonbank standen die Männer in Doppelreihen, aber auch das konnte Rieke nicht hindern. Sie schlüpfte dahinter, dorthin, wo der schwarzbärtige wortlose Wirt und seine um so wortreichere Wirtin in Seidenbluse mit viel Schmuck ihres Amtes walteten. Es waren die richtigen reich gewordenen Berliner Budiker: sie ganz Majestät mit viel Brust und viel Lippe, die Sorte falschverstandener Dame, von der man in einem Albdruck träumen kann; er noch etwas unsicher in seinem neuerworbenen Reichtum, aber beide gleich erbarmungslos, gleich gierig. »Was willst du?« herrschte sie sofort schrill die Rieke Busch an, während er vom Zapfhahn her einen giftigen Blick auf das Mädchen schoß.

»Können Se ma nich sagen, wann Vata weg is? Vata is der olle Busch. Vom Bau von dem Kalubrigkeit.«

»Da hätten wa ja ville zu tun, wenn wa uff alle Väta uffpassen wollten!« rief sie und goss mit unglaublicher Sicherheit eine Runde Korngläser voll. Und »Hier kommt keen Busch!« grollte der Budiker.

»Doch kommt er!« beharrte Rieke entschlossen. »Heut mittag hat er erst hier jesessen.«

»Wenn de det weeßt, is't ja jut, mach dir dinne!« schalt der Wirt.

Und seine Gnädige zu den Trinkern an der Theke: »Immer det Jefrage von die Mächen! Wenn de Leute bloß besser uff ihre Männer uffpassen möchten! Aba wir sollen allet wissen! Sind wir Auskunft?«

Die Trinker enthielten sich jeden Urteils, der Wirt aber fühlte sich bemüßigt, mit dem Fuß in der Richtung gegen Rieke zu stoßen, freilich nur drohend. »Hau ab, du!« sagte er.

»Det laß!« meinte ein Arbeiter. »Det Mächen is keen Stiebelknecht!«

»Wo se mir doch im Weje stehn tut!« brummte der Wirt, aber nur als Entschuldigung.

Rieke hob ihre Stimme. Sie stand da hinter der Theke, das dunkle Tuch mit den nassen Fransen um das helle Gesicht, sie war ganz unverschüchtert. Alle diese Männer, nüchterne, angetrunkene, sehr betrunkene schreckten sie gar nicht. Sie stand auf den Zehen, sie rief: »Is denn hier keena, der den ollen Busch kennen tut?«

»Seid doch mal stille!« rief einer. »Hört doch mal her! Hier is een Mächen, det fragt nach dem ollen Busch!« Einen Augenblick war Stille. »Der olle Busch«, sagte dann einer langsam, »det is doch der Rote mit dem jestutzten Vollbart, der uff dem jroßen Block jearbeetet hat?«

»Det is er!« rief Rieke. »Det is mein Vata!«

»Na, Mächen«, rief der Arbeiter ihr durch das Lokal zu. »Denn mußte nich nach dem ollen Busch fragen, denn fragste nach 'm Dorsch. Denn kennen se 'n alle.«

»Der Dorsch?« riefen sie. »Und ob wir den kennen! Der war heute hier!«

Und selbst die majestätische Wirtin sagte: »Det hättste jleich sagen sollen, Kleene. Den Dorsch kennen wa hier alle. Ich habe überhaupt jedacht, er heißt Dorsch. Ick habe immer Herr Dorsch uff ihn jesagt!«

»Nee«, sagte ein Arbeiter, nach einer weißen, kalkbespritzten Kleidung ein Maler. »Den haben se nur Dorsch jenannt, weil er nie den Mund uffmacht!«

»Woher soll ich denn det wissen?!« sagte die Wirtin sehr spitz und aus unfaßlichen Gründen sehr beleidigt. »Ick kümmer mir nich, wie die Leute heißen tun. – Is recht, Karl, sechs Mollen und 'ne Runde Korn – und wer zahlt von die Herren? Steh mir nich im Weje, Mächen!«

Mit der Feststellung, daß der olle Busch eigentlich der Dorsch war, schienen Rieke und ihr Anliegen abgetan. Aber Rieke gab nicht nach, sie ging von einem Tisch zum andern, sie fragte unermüdlich mit ihrer hellen Stimme, sie ertrug Abeisungen wie plumpe Späße mit der gleichen freundlichen Gelassenheit. Karl Siebrecht blieb nun hinter ihr. Er konnte ihr nicht helfen, sie sprach zehnmal besser als er die Sprache der Leute hier, sie hatte am ehesten Aussicht, etwas zu erfahren. Aber er konnte hinter ihr hergehen, er konnte stehenbleiben, wo sie stand – es war, als beschütze er sie, wenn er sie auch in nichts beschützen konnte. Sie beschützte sich am besten selbst! Und doch war es gut, hinter ihr drein zu gehen! Schließlich fand Rieke den Tisch, an dem ihr Vater gesessen hatte, noch spät am Abend gesessen hatte. Und sie erfuhr dort, daß der Dorsch noch einmal auf den Bau zurückgegangen war, um etwas zu suchen.

Karl Siebrecht flüsterte: »Ich glaube, ich weiß, was er gesucht hat: nämlich sein Maurerzeug! Ich hab doch den Rucksack mitgenommen und bei euch zu Haus abgesetzt.«

»Da haste recht, Karl!« rief Rieke, und ihre Augen leuchteten. »Du hast een kluget Köppcken. Uff sein Zeug is der Olle scharf, da kann er noch so blau sind. Komm, Karl, wir jehen uff den Bau!«

Der die Straße hinabfegende Wind sprang sie unbarmherzig an. Der Regen schlug gegen ihre Gesichter. Aber das war Wohltat nach dem Mief und Gestank der Kneipe. Sie atmeten tief. Als sie um die Ecke bogen, wehte der Wind noch stärker. Die beiden preßten sich Schulter an Schulter aneinander, blieben stehen, spähten in das tiefe Dunkel vor sich. Obwohl der Häuserblock nicht weit sein konnte, sahen sie nichts von ihm. Keine Straßenlaterne brannte mehr. Dann unterschieden sie langsam ein paar kleine, rotleuchtende Punkte und höher schwach schimmernde rote Rechtecke ... »Das sind die Koksöfen, an denen ich heute morgen gearbeitet habe!« rief Karl Siebrecht. »Komm, Rieke, faß mich an. Ich glaube, ich weiß den Weg.« Sie traten von der Pflasterung herunter in weichen, regengetränkten Schmutz. Er hielt ihnen die Füße fest, sie gingen vorsichtig ... Dann platschten sie tief in eine Pfütze. »Ach, Rieke!« rief Karl Siebrecht. »Wir hätten uns mehr rechts halten müssen! Ich bin ein großartiger Führer!«

»Det macht doch nischt«, lachte sie. »Nu können wa lospatschen, nu sind wa eenmal naß!«

Und sie patschten los, Hand in Hand, durch Nässe und Dreck, durch stürmischen Regen, dem schwachen roten Lichtschimmer der Warnlaternen entgegen. Langsam zeichnete sich auf dem wolkendunklen Nachthimmel die schwarze Kontur des Häuserblocks ab, erst flach geduckt, dann immer mehr aufsteigend, drohend. Stärker leuchteten die Koksfeuer in den Fenstern. »Wir müssen jetzt aufpassen, Rieke! Hier stehen überall Steine, Karren, Baubuden –« Und so plötzlich wuchs etwas Dunkles nah vor ihnen auf, daß sie schon dagegenrannten. Es waren Mauersteine, sie befühlten sie mit ihren Händen ... Sie lachten beide, atemlos. »Jedenfalls sind wir jetzt da. Hier, links um die Steine, müssen wir gehen.«

»Und wie finden wa Vata'n –?«

Ja, sie waren da, sie standen vor den Bauten, sie standen vor fünf, vor zehn, vor zwanzig, vielleicht vor fünfzig Häusern, die in einem Block vor ihnen lagen. »In manchen Häusern ist schon Elektrisch«, sagte Karl Siebrecht.

»Aber nich, wo Vata jemauert hat. Weeßte nich, wo Vata jemauert hat?«

»Nein, Rieke.«

»Det muß doch sind, wo noch Jerüste sind. Kannste nich sehen, wo Jerüste sind, Karl?«

»Das muß auf der anderen Seite sein, von den Koksfeuern weg. Hier ist schon alles fertig.«

»Na, denn komm, Karl! Faß mir an. Hier können wa überall jejen wat anrennen. Is doch jut, det de mit mir jekommen bist, ich bin nich jraulich, aber det hier ...«

Finster ragten die Bauten über ihnen in den dunklen Nachthimmel hinein. Sie hatte wie selbstverständlich ihre Hand durch seinen Arm gesteckt, und Karl Siebrecht führte das Mädchen nun höchst ungeschickt, denn dies war eine ganz ungewohnte Situation für ihn. Als sie aber gegen eine Karre angerannt und beinahe zu Fall gekommen waren, drückte er ihren Arm fester an sich, und von der Wärme des Mädchens floß ein ungewohntes, wohltuendes Gefühl in ihn. Sie tasteten sich vorwärts, hielten sich an Gerüststangen und riefen in leere Fensterhöhlen, in Türöffnungen, aus denen es säuerlich scharf nach frischem Kalk roch, hinein: »Vata! Herr Busch! Vata!« Ein öder Widerhall antwortete schwach, erstarb ...

»Still mal! Det war doch so, als hätte er jeantwortet –?!«

»Vata! Herr Busch! – Vata!«

Ein öder, rasch hinsterbender Widerhall ...

»Das war bloß das Echo, Rieke!«

Sie tasteten sich weiter, der Sturm riß an ihren Kleidern, Gesicht und Hände waren eisig von der peitschenden Nässe. Und wieder Rufen und Lauschen und Tasten ... Dann blieb Rieke stehen. »Det hat doch allens keenen Zweck nich, Karl«, sagte sie. »Wenn der Olle blau is, hat er sich hingehauen. Da können wa uns dämlich rufen, der hört nich.«

»Wir können aber nicht in den Bauten suchen, Rieke! Wir kommen keine Leiter hoch. Man sieht ja die Hand nicht vor Augen!«

»Ebend! Und der Mann liegt in de Kälte und Nässe! Wat machen wa bloß?«

Karl Siebrecht überlegte. »Ich glaube, Rieke«, sagte er dann, »wir haben es falsch angefangen. Wenn dein Vater sein Zeug sucht, wird er es doch zuerst im Bauschuppen suchen. Daß es nicht mehr auf dem Gerüst liegt, wo er mittags gemauert hat, weiß er doch auch.«

»Meenste, Karl? Da kannste recht haben. Jloobst de, det de den Bauschuppen findest?«

»Ich glaube. Wir holen uns eine von den roten Laternen – das hätten wir überhaupt gleich tun sollen.«

Sie tasteten sich zurück. Sie stolperten oft, hielten sich aneinander und tasteten weiter. Sie waren übermüdet, durchfroren, mutlos. Um sie standen dunkel drohend die Bauten des Herrn Kalubrigkeit, ein winziger Bruchteil der Drei-Millionen-Stadt, die Karl Siebrecht zu erobern gedachte. Ach, er dachte jetzt nicht an Eroberung, er wollte nur einen Menschen finden und dann ins Bett gehen, schlafen, schlafen ... Sie holten sich eine rote Laterne, unter vielen Schuppen fanden sie endlich die Baubude. Sie stießen die Tür auf, zwängten sich hinein, krachend schlug der Wind hinter ihnen die Tür wieder zu. In der Baubude war ein bißchen Licht von einer Stalllaterne mit hellem Glas. Sie schien auch sehr warm nach der nassen Kälte draußen, ein runder Eisenofen glühte rot in einer Ecke. Neben dem Eisenofen saß zusammengesunken ein Mann – sie taten einen raschen Schritt: »Vata –!«

 

»Herr Busch?«

Der eisengraue Alte neben dem Ofen hob schläfrig den Kopf. Blinzelnd fragte er: »Wer seid denn ihr? Was habt denn ihr hier zu suchen? Das Betreten der Baustelle ist verboten! Ich bin der Nachtwächter!«

»War hier mein Vater? Ich meene den Maurer Busch, so eenen mit rotem kurzem Bart. Die Leute sagen ooch Dorsch uff ihn.«

Der Nachtwächter, Nachtschläfer, machte eine Bewegung mit der Hand. »Dahinten auf den Säcken liegt einer. Wenn das dein Vater ist, dann nimm ihn mit! Das ist hier nachts auf der Baustelle verboten. Er ist aber blau. Junge, leg Presskohlen auf, ein Wetter ist das!« Und sein Kopf sank schon wieder schläfrig vornüber.

Die Kinder waren bereits im Winkel bei den leeren Säcken. Ja, da lag auf ihnen der Maurer Busch und schlief fest, den toten Schlaf des Betrunkenen schlief er. Langsam, röchelnd ging der Atem. Das mit Straßendreck und Kalkstaub beschmutzte Gesicht sah finster verschlossen aus. Eine Blutkruste an der Stirn bewies, daß auch der Maurer Busch in der Dunkelheit seinen Weg nicht gleich gefunden hatte. In der Hand hielt der schlafende Mann einen Maurerhammer. »Er hat sein Werkzeug gesucht«, flüsterte Karl Siebrecht.

»Kannst ruhig laut reden«, sagte Rieke. »Der wacht so bald nich uff, Karl.« Sie setzte sich neben den Vater auf die Säcke. »Den kriegen wa so nich nach Haus, Karl. Vielleicht zu morgen. Fahr jetzt nach Haus, Karl, jetzt kriegste noch 'ne Elektrische. Ich bleib bei Vata'n.«

»Dann bleibe ich auch hier, Rieke!«

»Det hat doch keenen Sinn nich, Karl! Zu wat denn? Is jenug, wenn eener nich schläft! Wat kannste hier noch nützen?«

»Und was hat es für Zweck, daß du bei Vater sitzt, Rieke? Hilft das was? Ändert das was?«

»Ick weeß nich! Nee, jloobe ick; bloß, ich bin seine Tochter.«

»Und ich bin dein Freund, dein richtiger Freund, Rieke!«

»Ick weeß, Karl. Na, denn setze dir nahe bei mir, eene halbe Stunde, aber nich länger! Denn mußte in de Betten.«

»Warte, ich werde erst noch Kohlen nachlegen.« Dann kam er zurück. »Das ist auch eine Nummer Nachtwächter«, berichtete er. »Wegen dem können sie den ganzen Bau wegtragen! Er ist nicht mal aufgewacht, als ich Kohlen auflegte!«

»Wat weeßte, wat der Olle sich am Tage schindet? Laß ihn man schlafen, wir haben det Jute davon. Wenn er wach wäre, schmiß er uns valleicht raus aus de Bude!«

»Da hast du recht, Rieke!«

Eine Weile saßen sie schweigend. Um die Bude brauste der Wind, auf das Teerpappendach prasselte der Regen. Der Ofen fauchte. Der Schläfer röchelte schwer, den Maurerhammer hielt er in der Hand. Das Mädchen schauerte zusammen. »Mir friert, Karl! Friert dir nich?«

»Nein«, log der Junge. »Komm, leg deinen Kopf in meinen Schoß Rieke. Hier sind Säcke genug, ich decke dich warm zu. So ...«

»Det is jut, Karl. Du bist jut, det biste! So'n bißken verwöhnen is fein. Hat se dir ooch verwöhnt, deine Erika?«

»Das war alles so anders, Rieke.«

»Det vasteh ick. Se ist doch 'ne Pastorsche. 'ne Pastorsche is mächtig fein, wat, Karl?«

»Ach Gott, Rieke, sie ist ja noch so jung ...«

»Wie alt ist se denn?«

»Erst vierzehn.«

»Da is se noch een bißcken älter als ick! Aba se weeß wohl noch nischt –«

»Nein, sie weiß noch nichts –«

»Haste ooch noch nischt jewußt, bis du bei uns kamst, Karl?«

»Doch, ein bißchen, Rieke. Weißt du, Rieke, mein Vater hat nämlich Pleite gemacht ...«

»Det is komisch mit uns beede, Karl«, sagte Rieke langsam. »Wa passen. Du hast keene Mutta nich, wie ick. Und dein Vata jenau wie meina – darum paasen wa.«

»Ja, das ist wirklich komisch, daß ich gerade dich in der Bimmelbahn treffen mußte.«

»Jloobst de, Karl, jloobst de, det't mit Vata'n noch mal anders wird?«

»Ich weiß nicht, Rieke. Vielleicht, wenn er richtige Arbeit findet?«

»Na, schließlich is't egal. Vata is nu mal Vata! Leicht hat der Mann det ooch nich. Morjen früh jeh ick mit Vata uff 'ne Baustelle, ick weeß schon eene, und seh, det er wieda Arbeet kriegt. Vata kann nich reden, det kann ick. Aba mauern kann Vata! Se saren uff ihn, er macht de beste Fuge von alle Berliner Maurer – nie een Loch, nie een Spritzer.«

»Mein Vater war auch tüchtig. Vater war nur zu gutmütig. Ich werde nicht gutmütig sein wie Vater, Rieke!«

»Du bist so jutmütig wie dein Vata, Karl! Du bist jutmütig wie een Schaf! Wenn de nich so jutmütig wärst, lag ick hier nich mit dem Kopp in deinem Schoß. Det liegt sich jut so, Karl! Mir wird schon wärmer.«

»Das ist ganz etwas anderes, Rieke. Mit dir ist es ganz etwas anderes. Bei dir kann ich so sein, du nützt es nicht aus.«

»Det denkste! Ich nütze dir ooch aus!«

»Und ich dich! Ich wäre ja ganz verlassen und verloren in dieser Stadt, Rieke, ohne dich!«

»Denkste det wirklich, Karl?«

»Ganz wirklich, Rieke?«

»Det is jut, Karl. Denn lieg ick noch mal so jerne in deinem Schoß!« Eine ganze Weile schwiegen sie. Sie gaben sich dem Gefühl von Entspannung, Wärme und Zufriedenheit hin, das sich langsam in ihnen ausbreitete. In dieser grauen, stürmischen, nassen Novembernacht hatten die Kinder etwas wie ein Daheim gefunden, nicht in der Baubude, sondern ineinander. Es tat so gut, nicht ganz allein zu sein unter Millionen Menschen. Es tat so gut, nicht kämpfen, sondern vertrauen zu dürfen. Viel hoffnungsvoller sagte Rieke: »Ick kriege morgen Arbeet for Vata, bestimmt. Und denn mach ick aus mit dem Polier, det ick alle Woche sein Jeld hole, ick geniere mir nich.«

»Wird denn dein Vater damit einverstanden sein?«

»Denn halt ick for Vata'n Schnaps zu Hause. Wenn der Olle seine Tour kriegt und weeß, er hat keen Jeld, und der Schnaps wartet uff ihn zu Hause, dann kommt er heem, det is det Jute bei meinem Ollen, det er nie nich uff Pump säuft, wat Jutet hat jeder Mensch.«

»Und du hast keine Angst –?«

»Det haste schon mal jefragt, det weeßte doch? Jestern abend! Nee, mehrstens habe ick keene Angst! Und nu bin ick janz vergnügt, ick gloobe immer, du bringst mir Jlück, Karl.«

»Hoffentlich, Rieke, du kannst es brauchen.«

»Und nu paß uff, Karl! Jetzt zitterst de nach Hause! Red nischt, morgen früh um sieben trittste hier wieda an mit Vatas Werkzeug. Ick jeh von hier direkt uff de Baustelle. Willste det tun, Karl?«

»Ja, natürlich. Aber willst du hier wirklich allein bleiben, die ganze Nacht, Rieke? Wenn der Wächter dich nun rausschmeißt?«

»Er schmeißt mir schon nicht raus, Karl! Der kann froh sind, wenn ick ihn nich raussetze! Und, nich wa, Karl, heute nacht schläfste mal bei uns, nich bei de Brommen. Es ist wegen Tilda. Und denn setzte ihr, ehe du abhaust, Milch auf. Brot is ooch noch da, von der Tante Bertha, schönet Landbrot, und Butter und Speck. Da machste dir und Tilda'n Stullen. Und denn bringste Stullen for Vata'n mit ...« Sie hatte noch zehn andere Weisungen für ihn, nur für sich hatte sie keine Wünsche.

Mit einem leisen Gefühl des Bedauerns sah Karl Siebrecht das helle lebendige Gesicht von seinem Schoß verschwinden. Das letzte, was er von ihr sah, war, wie sie neben ihrem Vater kniete. Sie hatte von dem Ofen warmes Wasser geholt, sie wusch das Gesicht des Schlafenden sachte ab. Das Licht der Stalllaterne erhellte ihr Gesicht, es war wie ein sanfter Stern in der düsteren Wirrnis der Bude. Karl Siebrecht trat in die Nacht hinaus.

14. Auf dem Zeichenbüro von Kalubrigkeit & Co

Karl Siebrecht trägt wieder seinen weißen, steifen Kragen. Vaters manchesterne Hosen sind von Rieke Busch gewaschen und hängen im Schrank neben den Sonntagshosen von Busch. Während Karl alle Tage seine Sonntagshosen trägt, kann der Maurer Walter Busch, der Dorsch, mit vollem Recht seine Arbeitshosen tragen: dank Riekes Mundwerk hat er wieder Arbeit. Und er arbeitet auch. Schweigsam und nüchtern, mit dem immer abwesenden Blick seiner blaßblauen Augen fügt er Stein an Stein und läßt zwischen ihnen die berühmte Fuge ohne Fehl und Tadel. Das Leben lächelt – Karl Siebrecht verdient hundertundzwanzig Mark im Monat, er ist Hilfszeichner, vorläufig noch auf tägliche Kündigung. Aber Herr Oberingenieur Hartleben ist ihm günstig gesinnt, der Junge hat trotz seiner Jugend, trotz seiner lückenhaften Kenntnisse alle Aussicht, fest angestellt zu werden.

Er hätte seine Schlafstelle bei der Brommen neben dem zweifelhaften Bäcker Bremer gut aufgeben und sich ein möbliertes Zimmer mieten können: seine Einkünfte erlauben das. Und er hätte auch der alten Minna ihre zweihundert Mark zurücksenden können, auch das erlauben seine Einkünfte. Wenn sie statt dessen auf ein Sparbuch gelegt worden sind, das Rieke Busch versteckt hat, so ist daran nur Rieke schuld. Diese nicht umzubringende, immer wieder neu hoffende Rieke, die trotz allen Mutes ein gesundes Mißtrauen in jeder Periode des Glücks setzt: »Wart man lieber ab, Karl! Det muß nich immer so weiterjehen! Keener weeß, wat kommen kann. Wenn de dir zweihundert Mark jespart hast, denn schickste diese weg! Eher nich!«

Wenn Karl Siebrecht auch lange nicht so mißtrauisch gegen das Glück der kleinen Leute war wie die durch hundert Erfahrungen gewitzte Rieke Busch, so war er doch ohne weiteres mit dem Zurückbehalten des Geldes einverstanden gewesen. Ja, man war im ganzen zufrieden mit dem jungen Mann auf der großen Zeichenstube der Baufirma Kalubrigkeit & Co. – aber war er mit der Zeichenstube einverstanden? Er war sich dessen nicht ganz sicher, er konnte es sich einfach nicht denken, daß dies von Bestand sein würde! Zwar die ersten unangenehmen Tage lagen hinter ihm, da man den von Herrn von Sender empfohlenen Knaben mit unverhohlenem Mißtrauen angesehen hatte. Zwei lange Tage fast hatte man ihm keine andere Arbeit gegeben, als Bleistifte zu spitzen, mit einem Messer Bleistifte so zu spitzen, daß eine lange, tödlich drohende, nadelscharfe Spitze entstand! Er hatte sehr intensiv an all die unangenehmen und lästigen Arbeiten denken müssen, die Rieke Buschs Leben fast den ganzen Tag ausfüllten, um durch dieses nadelspitze Fegefeuer mit Humor hindurchzukommen. Aber dieser intensive Gedanke hatte ihm entschieden geholfen: wenn sein schärfster Bedrücker, ausgerechnet der knapp zwei Jahre ältere Wums ihm einen Bleistift zurückgegeben hatte: »Da mach mal erst 'ne ordentliche Spitze ran! 'ne Spitze, die auch spitz ist!«, so hatte er mit entwaffnender Freundlichkeit gesagt: »Also 'ne Spitze, die 'ne Spitze hat? Wird gemacht, Herr Wums!« Und er hatte eben die Spitze noch einmal gespitzt, so daß sogar der picklige Wums nichts mehr hatte sagen können.

Am dritten Tage hatte dann aber der wortkarge, ältliche Oberingenieur Hartleben, der in einem heiligen Sonderraum neben dem Zeichensaal hauste, plötzlich losgeknurrt: Was denn das heißen solle? Die Herren Zeichner möchten sich ihre Bleistifte gefälligst selber spitzen wie üblich. Und der Oberingenieur hatte Karl Siebrecht persönlich an einen tiefen braunen Schrank geführt und ihn gefragt, ob er sich wohl zutraue, aus dem Wust von Bauzeichnungen, die dort ungeordnet aufgestapelt waren, die Zeichnung der Dachkonstruktion XYZ – Straße Nummer soundso viel aufzufinden – man brauche sie höchst nötig für die Baupolizei, die mal wieder stänkere ...

Karl Siebrecht hatte sich das zugetraut. Am nächsten Morgen schon war die Dachkonstruktion gefunden, und nun war der Junge beauftragt worden, eine endgültige Ordnung in das Durcheinander dieses Schrankes zu bringen. Tagelang waren Zeichnungen über Zeichnungen durch seine Hände gegangen, diese Zeichnungen, auf denen die Daumen der Poliere und der Bauschlosser ihre deutlichen Spuren hinterlassen hatten – er hatte sie verglichen, geordnet. Nun lagen sie Fach bei Fach, wie sie zueinander gehörten, von den Fundamenten bis zum Dachfirst, jedes Fach säuberlich beschildert, ein wohlgefälliger Anblick. Ja, es tat auch Karl Siebrecht wohl, als er diese von ihm geschaffene Ordnung sah. Aber war das alles? Eroberte man so Berlin?

Wenn Herr Oberingenieur Hartleben in seinem Allerheiligsten über der Planung ganzer Häuserblocks und Straßenzüge versunken saß, wenn von dort das eifrige Klappern seiner überlebensgroßen Reißschiene und seines gewaltigen Dreiecks klang, wenn Herr Oberingenieur Planungen von derart ungeheuren Dimensionen entwarf, daß er auf einem Riesentisch auf dem Zeichenblatt selbst bald hockte, bald auf den Knien mit weit hingestrecktem Oberkörper lag, als bete er demütig eine Gottheit an, dann durfte ihn niemand stören. Dann führte an seiner Statt in der Zeichenstube der Herr Diplomingenieur Feistlein das Kommando. Diplomingenieur Feistlein dünkte sich sehr viel, denn er hatte auf einer richtigen Hochschule studiert, was noch manch roter Schmiß in seinem blühenden Antlitz bewies. Die anderen, auch Herr Oberingenieur Hartleben, hatten im besten Fall ein Technikum besucht, sie waren nichts gegen Herrn Feistlein. Karl Siebrecht aber, der nicht einmal eine richtige Lehre durchgemacht hatte, der war schon der reine Garnichts.

 

Die geplanten Bauten im Bayrischen Viertel der Stadt Berlin beschäftigten Herrn Oberingenieur Hartleben sehr stark: als Karl Siebrecht mit dem Ordnen des einen Schrankes fertig geworden war, schickte ihn Herr Feistlein einfach an einen anderen Schrank. Und von dem anderen Schrank an einen dritten. Da aber Herr Feistlein, wie er oft stolz von sich sagte, kein pedantischer Ordnungsmensch war, sondern ein Architekt, also ein freier Künstler, wurde die hinter Karl Siebrecht entstandene Ordnung fast ebenso rasch wieder zerstört, wie sie geschaffen worden war, so daß alle Aussicht bestand, daß er mit dem Ordnen der zehn oder zwölf Schränke eine Lebensstellung erworben hatte. Nicht genug damit! Herr Feistlein ging auch dazu über, den Knaben Karl, wie er ihn nur nannte, zu Botendiensten zu verwenden. Dann mußten Marken von der Post geholt, nun Briefe zur Post getragen werden, jetzt war Zeichenmaterial herbeizuschaffen, nun ein Stoß Pausen auf eine Baustelle zu bringen. Für all solche Wege gab es nur den Knaben Karl.

Der Knabe Karl erledigte diese Dinge eigentlich recht willig. Er war fast froh, aus dem endlosen, immer etwas düsteren Zeichensaal zu kommen. Er rannte in die frische Winterluft, er lernte immer neue Straßen kennen. In so vielen Häusern hatte er nun Geschäfte – wenn der Herr Feistlein dachte, ihn zu ärgern, so irrte er sich sehr. Das war des Karl Siebrecht Ehrgeiz nicht, ein perfekter Bauzeichner zu werden, um etwa in seinem fünfzigsten Lebensjahre zum Vorsteher einer solchen Stube aufzurücken. Das alles war, er fühlte es, nur Durchgangsstation, eines Tages würde es zu Ende sein, mit oder ohne Herrn Feistlein.

Es sah beinahe so aus, als sollte es mit Herrn Feistlein zu Ende gehen. Denn der Ingenieur ging dazu über, den Knaben Karl auch zu persönlichen Besorgungen anzuhalten. Dann waren aus einem Geschäft in der Französischen Straße zehn ganz bestimmte Zigarren zu holen, dann aus der Weinhandlung des noch nicht lange eröffneten Hotels Adlon eine Flasche Cognac. Der Knabe Karl brachte Cognac und Zigarren, er war sowieso unterwegs, er war ohne Berufsstolz, er brachte, was Herr Feistlein verlangte. Bald aber mußte er auch extra für Herrn Feistlein über die Straße laufen. Jetzt war es nach einem Glas Bier, das vorsichtig unter den Zeichentisch gestellt wurde, nun nach Schrippen und Leberwurst, nun nach zwei sauren Gurken und nun wieder nach einem Glas Bier. Siebrecht merkte die Absicht, und sein jugendlicher Trotz lehnte sich auf. Aber es war schwer, da böswillig aufzuhören, wo er gutwillig angefangen hatte. Der Ingenieur hatte seine Wünsche ganz allmählich vermehrt, der Punkt, wo sie das Erträgliche überschritten hatten, war längst vorbei – es mußte ein besonderer Anlass kommen, der Karl Siebrecht berechtigte, seinen Vorgesetzten den Gehorsam aufzukündigen.

Wer wartet, gewinnt. Es kam ein Nachmittag, an dem Herr Oberingenieur Hartleben nicht auf der Zeichenstube anwesend war, der Chef hatte ihn zu sich gerufen. Dies hatte Herr Feistlein zum Anlass genommen, auch sich auf ein oder zwei Stunden von der Zeichenstube zu beurlauben, ohne vom Chef dazu berufen zu sein. Als Feistlein gegen vier Uhr nachmittags die Stube wieder beitrat, glühte ein Antlitz wie eine schöne rote Holländer Tulpe.

Herr Feistlein war nicht gesonnen, sich nun sogleich an seine Arbeit zu machen. Er ging erst eine Weile, gewaltig leuchtend, auf und ab, wobei er die Zeilen vor sich hinsummte: »Wo sind sie, die vom breiten Stein nicht wankten und nicht wichen, die ohne Moos bei Bier und Wein den Herrn der Erde glichen? Sie zogen mit gesenktem Blick in das Philisterland zurück. O jerum, jerum, jerum, o quae mutatio rerum!« – »Knabe Karl!« rief Herr Feistlein herumfahrend: »Übersetze: quae mutatio rerum!«

Der Knabe Karl hätte es sogar gekonnt, so viel Latein hatte ihm der Rektor Tietböhl immerhin beigebracht, aber er hatte keine Lust, sich hier zum Vergnügen der ganzen Zeichenstube examinieren zu lassen. So sagte er: »Keine Ahnung, Herr Feistlein!«

»Da sieht man's wieder!« rief Herr Feistlein, rot strahlend. »Nicht humanistisch gebildet! Oh, welch ein Abgrund von Unwissenheit bist du doch, Knabe Karl! Du ahnst es nicht, wie unwissend du bist, aber ich weiß es, und es tut mir wehe, wenn ich dich ansehe! Unser Kaiser hat gesagt, daß er das Realgymnasium wohl fördert, aber mit Treue an dem humanistischem Gymnasium hängt! Uns Humanisten liebt unser herrlicher Kaiser nach seinen Herren Offizieren am meisten. – Da habt ihr's!«

Damit fuhr Herr Feistlein zu den grinsenden Zeichnern, deren Gesichter sofort ernst oder beifällig wurden, herum und vergaß eine Weile den Knaben Karl. Er ging nun von Zeichentisch zu Zeichentisch, tadelte vieles und fuhrwerkte gewaltig mit seinem Bleistift herum, hütete sich aber wohl, auch nur einen einzigen Strich zu tun. Denn so klar war er noch, seinem Zustand zu mißtrauen. Dann sank er in den Stuhl vor seinem Tisch, stützte das Haupt in die hohle Hand und versank in tiefes Sinnen. Es wäre nun alles gut abgelaufen, wenn Herr Feistlein nicht von dem Schlackerwetter draußen nasse Füße gehabt hätte. Ohne dies wäre er sanft entschlummert, eingelullt von dem warmen Sausen der Gasflammen.

Aber seine Füße störten ihn. Ein paarmal starrte er irritiert auf sie, dann richtete er sich auf und schrie: »Karl, Knabe Karl!«

»Jawohl, Herr Feistlein?«

»Mal herkommen!« Der Knabe Karl kam, er stand vor seinem Herrn und sah ihn an. »Zieh mir mal die Dinger aus!« sagte Herr Feistlein. Der Knabe Karl sah ihn an. »Du sollst mir die Stiebel ausziehn, verdammt noch mal! Hörst du nicht?!«

»Nein, Herr Feistlein!«

»Wie –?!!!«

»Nein, Herr Feistlein, das tue ich nicht!«

»Du tust nicht, was ich dir sage?«

»Nein, Herr Feistlein, dies nicht!«

»Dann soll dich und mich«, sagte Herr Feistlein mühsam, »der Teufel holen!« Und Herr Feistlein stieß mit dem Fuß nach dem Jungen.

»Lassen Sie das lieber, Herr Feistlein!« sagte Karl Siebrecht warnend.

Der Ingenieur hatte selbst das dunkle Gefühl, daß es besser wäre, dies zu lassen. Da aber die Anregung dazu von dem Jungen kam, vertrug es sich nicht mit seiner Ehre, auf sie einzugehen. Herr Feistlein schlug noch einmal aus und traf kräftig das feindliche Schienbein. »Da!« rief er, von der Wucht seines Stoßes überrascht und begeistert.

»Da!« rief auch der Junge und hatte den Fuß fest in Händen.

»Laß los, sofort!« schrie Herr Feistlein.

»Nicht, ehe Sie nicht aufhören, zu treten!«

»Ich denke ja gar nicht daran!« rief der Ingenieur. »Du kriegst noch ganz andere Tritte von mir!« Und er bemühte sich, den Fuß aus den Händen des Knaben zu befreien. Dabei hatte er aber jede Rücksicht auf seinen durch Alkoholgenuss gestörten Gleichgewichtssinn vergessen: er rutschte vom Stuhl und landete mit einem Krach auf dem Stubenboden. »Da!« rief er verblüfft. Karl Siebrecht aber hatte den Fuß losgelassen und lachte aus vollem Halse, so sehr amüsierte ihn das rote Gesicht, das fassungslos zu ihm emporleuchtete.

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