Der Luftkrieg

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IV

Dieser erste Sturz abwärts erfüllte Bert mit einer unheimlichen Vorstellung uferloser Wasser in der Tiefe. Es war eine Sommernacht, aber ihm schien sie trotzdem endlos lang. Er hatte ein Gefühl der Unsicherheit, von dem er – ganz unvernünftigerweise – glaubte, der Sonnenaufgang müßte es zerstreuen. Auch war er hungrig. Er tastete in der Truhe herum, fuhr mit den Fingern in eine Pastete, erwischte ein paar Butterbrote und öffnete auch mit ziemlichen Erfolg eine halbe Flasche Sekt. Das stärkte und erwärmte ihn. Er brummelte noch etwas von Grubb und den Streichhölzern, wickelte sich warm ein und entschlummerte auf der Truhe. Ein- oder zweimal stand er auf, um sich zu vergewissern, daß er auch noch sicher hoch über dem Meer sei. Das erste Mal waren die mondbeglänzten Wolken weiß und dicht, und der Schatten des Ballons fiel wie ein folgsames Hündchen darüber hin. Später erschienen sie dünner. Während er so still lag und den riesenhaften, dunklen Ballon über sich anstarrte, machte er eine Entdeckung. Seine – oder vielmehr Mr. Butteridges – Weste raschelte, wenn er atmete. Sie war mit Papier ausgefüttert. Aber es war zu dunkel zum Nachsehen, so sehr es Bert auch gelüstete …

Das Krähen von Hähnen, das Bellen von Hunden und ein Gezwitscher von Vögeln weckte ihn auf. Er trieb langsam, in geringer Höhe, über eine weite, vom Sonnenaufgang golden beschienene Landschaft unter einem klaren Himmel dahin. Er starrte auf heckenlose, gut bebaute Felder hinaus; dazwischen liefen mit roten Telegrafenstangen eingefaßte Straßen hin. Eben hatte er ein großes, weißgewaschenes Dorf mit einem geraden Kirchturm und steilen, roten Ziegeldächern passiert. Eine Anzahl Bauern, Männer und Frauen, in hellen Kitteln und plumpem Schuhwerk war auf dem Weg zur Arbeit stehengeblieben und beobachtete ihn. Er war jetzt so weit unten, daß das Tau schleppte.

Er starrte auf die Leute hinab. »Möcht' wissen, wie man landet?« dachte er.

»Ob ich wohl landen soll?«

Dann merkte er, daß er auf eine Einschienenbahnlinie zutrieb und warf hastig ein paar Säcke Ballast über Bord, um ihr zu entgehen.

»Laß sehen. Man könnte doch ganz einfach sagen: ›Prenez!‹ Wenn ich doch wüßte, wie das auf französisch heißt: Faßt das Tau! … Franzosen werden's ja wohl sein?«

Er betrachtete aufs neue die Landschaft. »Könnte auch Holland sein. Oder Luxemburg. Oder auch Lothringen – von mir aus. Was das wohl sein kann, die großen Dinger da drüben? Eine Art Ziegelbrennereien. Gedeihlich aussehende Gegend …«

Dies gedeihliche und gediegene Aussehen der ganzen Gegend erweckte einen Widerhall in seiner Brust.

»Werd' mich erst ein bißchen zurechtstutzen«, sagte er. Er beschloß, wieder etwas zu steigen und sich seiner Perücke (die jetzt unbehaglich heiß auf seinem Kopfe saß) und so weiter zu entledigen. Also warf er einen Sack Ballast über Bord und schoß zu seinem Erstaunen sogleich mit großer Geschwindigkeit aufwärts.

»Verdammt!« sagte Mr. Smallways. »Den Ballasttrick hab' ich entschieden ein bißchen zu sehr ausgeschlachtet! … Wann ich wohl wieder herunterkomme? … Na, also Frühstück an Bord!«

Die Luft war warm, er nahm die Mütze und seine Perücke ab und warf letztere unbekümmert über Bord. Das Statoskop tat sofort einen Ruck nach »Montée«.

»Dies verdammte Ding steigt schon, wenn man bloß einen Blick über Bord wirft!« bemerkte er und wandte sich zur Truhe. Er fand unter anderem verschiedene Dosen flüssigen Kakaos mit ausführlicher Gebrauchsanweisung, die er mit peinlichster Sorgfalt befolgte. Er bohrte den dazugehörigen Schlüssel in die am Boden der Büchse bezeichneten Löcher, worauf die Büchse sofort warm und wärmer und heiß und heißer wurde, bis er sie überhaupt nicht mehr anfassen konnte. Dann öffnete er sie am anderen Ende und hatte seinen dampfenden Kakao, ohne irgendwelche Art von Streichholz oder Flamme angewandt zu haben. Es war eine alte Erfindung, aber für Bert war sie neu. Schinken und Marmelade und Brot war auch vorhanden, so daß das Frühstück wirklich recht erträglich ausfiel.

Dann zog er seinen Überrock aus, denn die Sonne brannte jetzt schon fast heiß; und dabei fiel ihm das Rascheln ein, das er in der Nacht gehört hatte. Er zog die Weste aus und untersuchte sie. »Der alte Kerl wird keine große Freude haben, wenn ich das auftrenne!« Er zögerte, und fing dann an, aufzutrennen. Er fand die fehlenden Pläne zu den beweglichen Seitenteilen, auf denen die ganze Stabilität der Maschine beruhte.

Wenn ein Engel Bert beobachtet hätte, er hätte ihn lange Zeit nach dieser Entdeckung in einem Zustand tiefsten Nachsinnens dasitzen sehen. Schließlich erhob er sich mit der Miene eines Menschen, dem eine Erleuchtung kommt, nahm Mr. Butteridges zertrennte und ruinierte Weste und schleuderte sie zum Ballon hinaus, von wo sie in Schraubenlinien langsam niedersank, bis sie sich schließlich mit einem befriedigten Plumps auf dem Gesicht eines biederen Touristen, der am Rand des Höhenwegs bei Wildbad friedlich schlummerte, zur Ruhe setzte. Auch dies trieb den Ballon höher und folglich in eine noch günstigere Position für unsern beobachtenden Engel, der zunächst gesehen hätte, wie Mr. Smallways seinen eigenen Rock und seine eigene Weste aufriß, seinen Kragen ablegte, sein Hemd aufknöpfte, mit der Hand in seinen Busen fuhr und sich das Herz herausriß – oder wenn nicht das Herz, so doch jedenfalls einen großen, hellroten Gegenstand. Wenn dann der Beobachter, nach einem Schauder himmlischen Abscheus, diesen roten Gegenstand genauer betrachtet hätte, so wäre eins von Berts kostbarsten Geheimnissen, eine seiner Kardinalschwächen, ans Licht des Tags gekommen. Es war ein rotflanellener Brustwärmer, einer jener umfangreichen, quasi hygienischen Gegenstände, die, im Verein mit Pillen und Arzneimitteln, die Stelle wohltätiger Reliquien und Heiligenbilder unter den protestantischen Völkern der Christenheit einnehmen. Bert trug dies Ding immer. Es war sein Lieblingsaberglaube und gründete sich auf das Sprüchlein eines Fünfzigpenny-Wahrsagers, der ihm gesagt hatte, er sei schwach auf der Lunge.

Bert fuhr also fort, seinen Fetisch abzuknöpfen, zertrennte ihn mit einem Taschenmesser und barg die eben gefundenen Pläne zwischen den zwei Lagen Baumwollflanell, aus denen er bestand. Dann brachte er mit Hilfe von Mr. Butteridges Rasierspiegel und zusammenklappbarem Wachstuchwaschbecken und mit dem Ernst eines Mannes, der sich eines unwiderruflichen Schritts bewußt ist, seine Toilette in Ordnung, knöpfte seinen Rock zu, warf das weiße Laken des Wüstenderwischs beiseite, wusch sich mit Maß, rasierte sich, zog die große Mütze und den Pelzmantel wieder an und betrachtete, sehr erquickt durch all diese Manipulationen, die Gegend.

Es war tatsächlich ein Schauspiel von beispielloser Großartigkeit. Wenn es auch vielleicht nicht ganz so seltsam und großartig war, wie das sonnbeglänzte Wolkenland des vorhergehenden Tages, so war es auf jeden Fall unendlich viel interessanter. Die Luft war vollkommen klar, und außer im Süden und Südwesten stand keine Wolke am Himmel. Die Landschaft bestand aus welligen Hügeln mit zerstreuten Tannenwäldern und Heideflächen und dazwischenliegenden zahlreichen Bauerngehöften. Flüsse, die ab und zu von angestauten Seen und Wehren mit elektrischen Kraftanlagen unterbrochen waren, durchschnitten in tiefen Windungen das Hügelland. Die ganze Gegend war übersät mit freundlichen, steildachigen Dörfern, deren jedes, neben seinem drahtlosen Telegrafenmast, eine eigenartige und interessante Kirche aufwies. Da und dort erhoben sich große Schlösser und Parks mit weißen Wegen; von rot und weißen Telegrafenstangen eingefaßte Straßen sprangen überall ins Auge. Dazwischen lagen – gleich Gärten – ummauerte Wiesen und Heuschober und große Scheunendächer und Meiereien. Die Höhen waren voll Viehherden. Da und dort sah Bert die Spuren der alten, jetzt in Einschienenbahnen umgewandelten Eisenbahnen sich durch Tunnels winden und Ströme überbrücken, und ein plötzliches Dröhnen verkündete einen vorübereilenden Zug. Alles war außerordentlich klar und bis aufs einzelnste deutlich. Ein oder das anderemal sah er auch Geschütze und Soldaten, und die leisen Anzeichen militärischer Vorbereitungen, deren Zeuge er am Pfingstsonntag in England gewesen war, fielen ihm wieder ein. Aber nichts deutete daraufhin, daß diese militärischen Vorbereitungen etwas Außergewöhnliches waren, und niemand vermochte ihm das gelegentliche schwache, unregelmäßige Kanonengedonner zu erklären, das zu ihm empordrang …

»Wenn ich bloß wüßte, wie ich hinunterkomme!« sagte Bert in seiner Höhe von zehntausend Fuß, und begann darauf ein vergebliches Zerren und Ziehen an der roten und weißen Leine. Danach nahm er eine Art Inventur des Proviants vor. Das Leben in der Höhe machte ihm einen geradezu niederschmetternden Appetit; und er hielt es für weise, seine Vorräte in Rationen einzuteilen. Er rechnete aus, daß er etwa eine Woche in der Luft zubringen könnte.

Zuerst war das ungeheure Panorama unter ihm so stumm gewesen wie ein gemaltes Bild. Aber als der Tag fortschritt und das Gas leise aus dem Ballon ausströmte, sank dieser wieder erdwärts. Die einzelnen Eindrücke mehrten sich; die Menschen erschienen deutlicher; er begann das Pfeifen und Dröhnen der Bahnzüge und Wagen, das Gebrüll des Viehs, den Klang der Hörner und Pauken und endlich sogar die Stimmen der Menschen zu unterscheiden. Schließlich schleifte sein Schlepptau wieder, und er dachte, es sei möglich, einen Landungsversuch zu machen. Ein- oder zweimal, als das Tau über Kabel streifte, fühlte er, wie ihm sein Haar vor Elektrizität zu Berge stand. Einmal verspürte er auch einen leichten Schlag, und Funken knisterten um den Korb. Aber er nahm all diese Dinge einfach als Reiseerlebnisse. Ein Gedanke beherrschte ihn jetzt ganz: er wollte den eisernen Anker, der vom Ring herabhing, auswerfen.

 

Von Anfang an war dieser Versuch ein mißglückter, vielleicht, weil der Ort zum Abstieg unglücklich gewählt war. Ein Ballon sollte auf einem offenen, leeren Platz landen; und Bert wählte eine Menschenmenge dazu aus. Er entschloß sich ganz plötzlich und ohne rechte Überlegung. Während er so dicht am Boden über der Erde hinflog, sah er auf einmal vor sich eins der reizendsten kleinen Städtchen, die es überhaupt geben konnte: eine Gruppe steiler Giebel, überragt von einer hohen Kirche, von Bäumen überschattet, von Mauern eingehegt, mit einem schönen, breiten Tor, das auf eine von Bäumen eingefaßte Landstraße ging. Alle Drähte und Kabel der ganzen Umgebung liefen hier zusammen wie fröhliche Gäste zum Fest. Es sah unendlich traut und gemütlich aus, und reicher Flaggenschmuck machte es noch heiterer. Auf der Straße war ein fortwährendes Hin und Her von Gruppen von Landleuten in großen, zweirädrigen Wagen und zu Fuß; dazwischen ab und zu ein Einschienenwaggon. Und um den Bahnhof, unter den Bäumen vor der Stadt, war ein wimmelnder, kleiner Jahrmarkt von Buden aufgeschlagen. Das Ganze erschien Bert so recht als ein warmer, menschlicher, treugewurzelter und in jeder Beziehung reizender Ort. Er kam in niedrigem Flug über die Baumwipfel daher, seinen Anker in Bereitschaft, der ihn – so malte er es sich aus – als seltsamen, interessanten und interessierten Gast inmitten des Ganzen festankern sollte.

Er sah sich schon, wie er mit Hilfe der Zeichensprache und zufällig anwesender Sprachkundiger in einem Kreis bewundernder Landleute Heldentaten verrichtete …

Dann begann ein Kapitel widrigster Verhängnisse. Lang, ehe die Menge sein Kommen über den Bäumen so recht bemerkt hatte, machte das Tau sich unbeliebt. Ein älterer und augenscheinlich betrunkener Bauer in einem glänzenden schwarzen Hut und mit einem großen roten Regenschirm erblickte es zuerst, als es an ihm vorüberschleifte, und ward von einem unrühmlichen Ehrgeiz, es umzubringen, ergriffen. Energisch und unter unerquicklichem Geschrei verfolgte er es. Es schleifte quer über den Weg, patschte in eine Kufe Milch auf einem Verkaufstisch, und schlug dann mit seinem milchigen Schwanz in ein Automobil voll Fabrikmädchen, das vor dem Stadttor hielt. Die Mädchen kreischten laut auf. Jetzt blickten die Menschen in die Höhe und sahen Bert, der, wie er meinte, freundliche Begrüßungszeichen, wie sie – in Anbetracht des weiblichen Gekreisches – dachten, beleidigende Gesten machte. Nun stieß der Korb heftig an das Dach des Häuschens mit dem Torgang, knickte eine Flaggenstange, griff einen Akkord auf ein paar Telegrafendrähten und schleuderte unter die wachsende Menge einen zerrissenen Draht, der die Erbitterung mit wohlgezielten Peitschenhieben noch anfeuerte. Bert entging nur durch krampfhaftes Anklammern einem plötzlichen Purzelbaum aus dem Korb. Zwei junge Soldaten und mehrere Bauern schrien ihm allerlei zu, schüttelten die Fäuste gegen ihn und machten sich, als er über die Mauer in die Stadt verschwand, eiligst auf, ihn zu verfolgen.

Bewunderungsvolle Landleute! Jawohl!

Der Ballon machte, wie alle Ballons, wenn sie durch Aufstoßen einen Teil ihres Gewichtes verlieren, eine Art leichtfertigen Satz, und im nächsten Augenblick befand sich Bert über einer von Bauern und Soldaten wimmelnden Straße, die auf einen Marktplatz mündete. Die Woge von Unfreundlichkeit folgte ihm.

»Ankern!« sagte sich Bert. Dann kam ihm – etwas verspätet – ein Gedanke, und er brüllte: »He! Ihr da drunten! Têtes! He! He! Têtes! Verflucht!«

Der Anker rasselte, gefolgt von einer Lawine zerbrochener Ziegel, ein steil abfallendes Dach hinab, schlug unter Schreien und Kreischen auf der Straße auf und schmetterte mit gewaltiger und verhängnisvoller Wirkung durch eine Schaufensterscheibe. Der Ballon schwankte zum Übelwerden, und der Korb kippte um. Aber der Anker hatte nicht Grund gefaßt. Er tauchte sofort wieder auf, mit einer lächerlichen Miene sorgfältigster Auswahl auf seiner einen Schaufel ein Kinderstühlchen tragend und verfolgt von einem wutschnaubenden Ladeninhaber. Er hob seine Errungenschaft in die Höhe, drehte sich, mit einer Miene peinlicher Unentschlossenheit, inmitten eines Wutgebrülls ein paarmal um sich selbst und stülpte sie dann, wie durch Eingebung, geschickt über den Kopf einer Bauersfrau, die auf dem Marktplatz Gemüse feilhielt.

Aller Aufmerksamkeit war jetzt auf den Ballon gerichtet. Jedermann versuchte, entweder den Anker zu packen oder das Schlepptau zu erhaschen. Mit einem pendelartigen Schwung, der die Menge nach rechts und links in die Flucht jagte, kam jetzt der Anker wieder zur Erde, angelte vergeblich nach einem dicken Herrn in blauem Anzug und Strohhut, riß einem Tisch mit Töpferwaren zwei Beine weg, veranlaßte einen Soldaten in Radfahrhosen zu den schönsten Bocksprüngen und rettete sich dann etwas unsicher zwischen die Hinterbeine eines Schafs, das krampfhafte und wenig vornehme Anstrengungen machte, sich zu befreien und sich schließlich auf einem steinernen Kreuz in der Mitte des Platzes widerwillig zur Ruhe setzte. Der Ballon zerrte mit einem Ruck nach oben. Im nächsten Moment zog ein Dutzend eifrige Hände ihn erdwärts. Im gleichen Augenblick verspürte Bert zum erstenmal einen frischen Windhauch, der um ihn wehte.

Ein paar Sekunden lang stand er taumelnd im Korb, der jetzt unbehaglich schwankte, betrachtete die empörte Menge unter sich und versuchte, seine Gedanken zu sammeln. Er war ungemein erstaunt über diese Folge von Mißgeschicken. Machte er sich wirklich den Leuten so unangenehm? Jedermann schien erbost über ihn. Niemand schien seine Ankunft zu interessieren oder zu belustigen. Ein ganz unverhältnismäßig großer Teil des Geschreis klang fast wie Geschimpfe klang tatsächlich geradezu wie Empörung! Verschiedene Amtspersonen in großartigen Uniformen und Dreispitzen versuchten vergeblich, die Menge in Ordnung zu halten. Fäuste und Stöcke hoben sich. Und als Bert einen Mann den Haufen durchbrechen, nach einem Heuwagen eilen, eine lange Heugabel mit blanken Zinken holen und einen Soldaten im blauen Rock seine Koppel aufschnallen sah, ward sein aufsteigender Zweifel, ob diese kleine Stadt schließlich wirklich ein so guter Landungsplatz sei, zur Gewißheit.

Er hatte sich in die Vorstellung eingewiegt, sie würden eine Art Heros aus ihm machen. Jetzt wußte er, daß das ein Irrtum war.

Er war vielleicht noch zehn Fuß über den Leuten, als er seinen Entschluß faßte. Seine Erstarrung wich. Er sprang auf den Sitz und löste, unter größter Gefahr, kopfüber hinauszustürzen, das Ankertau von dem Knebel, der es hielt, sprang dann nach dem Schlepptau und befreite auch dies. Ein heiserer Schrei der Entrüstung begrüßte den Fall des Ankertaus und den raschen Stoß des Ballons, und etwas – er hielt es später für eine Rübe – schwirrte an seinem Kopf vorüber. Das Schlepptau folgte seinem Genossen. Die Menge schien einen Sprung nach abwärts zu machen. Mit einem gewaltigen, entsetzenerregenden Knistern streifte der Ballon an einem Telefonpfosten vorbei, und einen herzbeklemmenden Augenblick lang erwartete Bert entweder eine elektrische Explosion oder das Zerreißen der Seide oder beides zugleich. Aber das Glück war ihm hold.

In der nächsten Sekunde saß er zusammengekauert am Boden des Korbs und schoß, befreit vom Gewicht des Ankers und der zwei Taue, aufs neue durch die Luft empor. Eine Zeitlang blieb er noch zusammengeduckt; und als er endlich wieder hinaussah, war die kleine Stadt schon winzig und flog mit dem ganzen übrigen Süddeutschland in immerwährendem Kreislauf um den Korb. Oder wenigstens schien es so. Nachdem er sich erst daran gewöhnt hatte, fand er diese Rotation des Ballons ganz bequem; so brauchte er selber nicht im Korb umherzugehen.

V

Spät am Nachmittag eines heiteren Sommertags im Jahre 19... – um im Stil gewisser klassischer Romane zu reden – konnte man einen einsamen Luftschiffer beobachten, der in einer Höhe von ungefähr elftausend Fuß über dem Meer und sich immer noch langsam um die eigene Achse drehend, in nordöstlicher Richtung über das fränkische Land hinflog. Er hatte den Kopf über die Wand seines Korbs herausgestreckt und überschaute das Land unter sich mit dem Ausdruck tiefster Bestürzung. Dann und wann formten seine Lippen unhörbare Worte, wie zum Beispiel: »Auf einen schießen!« oder »Ich werd' schon herunterkommen, wenn ich nur erst herauskriegte, wie!« Über dem Rand des Korbs hing als Aufforderung zur Rücksichtnahme eine erfolglose weiße Flagge – das Gewand des Wüstenderwischs.

Er war sich jetzt sehr deutlich bewußt, daß die Welt unter ihm, weit davon entfernt, die naive, schläfrige Provinziallandschaft seiner vormittäglichen Phantasien zu sein, die von seinem Dasein nichts wußte und seinen Abstieg mit Erstaunen, ja mit Ehrfurcht begrüßen würde, seinen Flug ganz im Gegenteil mit großer Gereiztheit aufnahm und äußerste Unzufriedenheit mit der Richtung, die er einschlug, bekundete. Dabei war gar nicht er es, der diese Richtung einschlug, sondern seine Gebieter, die Winde des Himmels. Geheimnisvolle Stimmen sprachen durch Vermittlung von Megaphonen auf unheimliche und erschreckende Weise und in einer Menge der verschiedensten Sprachen an sein Ohr. Offiziell aussehende Persönlichkeiten hatten mit Hilfe wehender Flaggen und winkender Arme zu ihm emporsignalisiert. Im allgemeinen herrschte eine gutturale Variante des Englischen in den einzelnen Sätzen vor, die zum Ballon empordrangen; und hauptsächlich wurde er aufgefordert, »herunterzukommen, oder man würde nach ihm schießen«.

»Alles ganz schön und recht«, sagte Bert. »Aber wie?«

Dann schossen sie in einiger Entfernung an dem Ballon vorüber. Sechs- oder siebenmal hatte man soeben auf ihn geschossen; und einmal war die Kugel mit einem Laut an ihm vorübergeschwirrt, der so überzeugend an das Reißen von Seide gemahnte, daß er sich schon auf einen jähen Sturz gefaßt machte. Aber entweder zielten sie an ihm vorbei oder sie hatten ihn gefehlt; und bis jetzt war noch nichts zerrissen als die Luft um ihn her und seine gequälte Seele.

Augenblicklich erfreute er sich einer Pause in diesen Aufmerksamkeiten; aber er fühlte, es war im besten Fall nur ein Zwischenakt, und er versuchte nach Kräften, sich über seine Lage klarzuwerden. Er stärkte sich eben – in einer etwas nachlässigen, unordentlichen Art – an heißem Kaffee und Pastete, wobei sein Auge unablässig nervös über den Rand des Korbes hinausschweifte. Zuerst hatte er das wachsende Interesse an seinem Flug seinem ungeschickten Landungsversuch in dem anmutigen, kleinen Bergstädtchen zugeschrieben; jetzt aber begann er sich zu vergegenwärtigen, daß mehr die militärische als die bürgerliche Gewalt sich mit ihm beschäftigte.

Er spielte ganz wider Willen die unheimlichste aller mysteriösen Rollen – die Rolle eines internationalen Spions. Er sah geheime Dinge. Und keine geringere Macht als das Deutsche Reich war es, deren Absichten er durchkreuzt hatte. Er war mitten in den Brennpunkt der Weltpolitik geraten; er trieb hilflos dem großen Reichsgeheimnis, dem riesigen aeronautischen Park zu, der in rasender Hast in Franken angelegt worden war, um stillschweigend, eiligst und in ungeheurem Maßstab die großen Erfindungen Hunstedts und Stoffels zu verwerten und so, vor allen anderen Nationen, Deutschland eine Flotte von Luftschiffen, die Gewalt über die Luft und die Herrschaft der Welt zu sichern.

Später, just ehe sie ihn ganz herunterschossen, sah Bert jenes große Gelände leidenschaftlichster Arbeit, vom warmen Abendlicht beleuchtet, eine große Hochebene, auf der die Luftschiffe wie eine Herde grasender Ungetüme zur Fütterungszeit lagen. Es war eine ungeheure Fläche, die sich gen Norden erstreckte, soweit er überhaupt sah, und methodisch in numerierte Hallen, Gasometer, Truppenlager, Magazine eingeteilt, von den allgegenwärtigen Einschienenbahnlinien durchzogen und gänzlich frei von durch die Luft gehenden Drähten oder Kabeln war. Überall war das Schwarzweißrot des Deutschen Reichs, überall breiteten die schwarzen Adler ihre Schwingen aus. Aber auch ohne diese Wahrzeichen hätte die breite und kraftvolle Geordnetheit des Ganzen es als deutsch gekennzeichnet. Eine Unmenge von Männern gingen ab und zu, manche, in der weiß und grauen Arbeitsuniform, waren an den Ballons beschäftigt, andere, im grauen Dienstanzug, exerzierten. Da und dort glitzerte eine große Uniform. Die Luftschiffe fesselten ganz besonders seine Aufmerksamkeit; und er wußte sofort, drei von ihnen waren es, die er in der vergangenen Nacht gesehen hatte, als sie die bewölkte Luft wahrgenommen hatten, um unbeobachtet zu manövrieren. Sie waren ganz und gar fischähnlich. Denn die großen Luftschiffe, mit denen Deutschland in seinem letzten ungeheuerlichen Kampf um die Weltherrschaft – ehe die Menschheit begriffen hatte, daß Weltherrschaft ein Traum ist – New York angriff, waren die direkten Abkömmlinge des Zeppelinschen Luftschiffs, das 1906 über den Bodensee flog, und der Lebaudy-Lenkballons, die 1907 und 1908 ihre denkwürdigen Streifzüge über Paris machten.

 

Diese deutschen Luftschiffe bestanden aus rippenartigen Skeletten aus Stahl und Aluminium und einer starken, nicht elastischen Segeltuchhülle, innerhalb welcher sich eine durch Querschotten in fünfzig bis hundert Zellen eingeteilte, undurchlässige Gummigaskammer befand. Diese Abteilungen waren alle absolut gasdicht und mit Wasserstoff gefüllt, und der ganze Aerostat ließ sich vermittels eines langen, inneren Ballonets aus geölter und gefirnister Seide, in welchen und aus welchem Luft gepumpt werden konnte, in jeder beliebigen Höhe halten. Auf diese Weise ließ sich der Aerostat nach Belieben leichter oder schwerer machen als Luft, und Verluste an Gewicht durch Verbrauch von Brennmaterial, Auswerfen von Granaten und so weiter ließen sich durch das Einlassen von Luft in einzelne Abteilungen des allgemeinen Gassacks ebenfalls ersetzen. Alles in allem war es eine in höchstem Grad explosive Konstruktion; Gefahren waren aber in all solchen Dingen nicht zu vermeiden, und es hieß, sich dagegen wappnen, so gut es ging. Jegliche Erzeugung von Feuer mußte auf diesen Luftschiffen ausgeschaltet werden. Das Ganze hatte eine Stahlachse, ein Rückgrat, das in Maschine und Propeller endigte; die Mannschaft und die Magazine waren vorn in einer Reihe von Kabinen unter dem breiteren, kopfähnlichen Vorderteil untergebracht. Die Maschine, nach jenem höchsten Triumph deutscher Erfindung, dem außerordentlich leistungsfähigen Pforzheimer Modell, gebaut, wurde durch Drähte vom Vorderteil aus bedient, das überhaupt der einzige bewohnbare Teil des Schiffs war. War irgend etwas in Unordnung, so gingen die Ingenieure an einer Strickleiter unterhalb des Rahmens nach hinten. Die Neigung des Ganzen zum Schlingern wurde zum Teil durch zwei ebensolche vertikale Flossen bewerkstelligt, die unter normalen Umständen wie Kiemendeckel an beiden Seiten des Kopfes anlagen. Kurzum, es war eine fast vollkommene Anpassung der Fischform an Luftverhältnisse, nur daß Statozyste, Augen und Gehirn unten lagen statt oben. Ein auffallender und unfischartiger Zug war der Apparat für drahtlose Telegrafie, der von der vordersten Kabine, das heißt unter dem Kinn des Fisches, herabhing.

Diese Ungetüme leisteten bei ruhiger Luft neunzig Meilen die Stunde, so daß sie fast allem, mit Ausnahme vielleicht eines ungewöhnlich heftigen Tornados, die Stirn zu bieten und standzuhalten vermochten. Ihre Länge wechselte zwischen achthundert und zweitausend Fuß, und sie hatten eine Tragkraft von siebzig bis zweihundert Tonnen. Wie viele Deutschland besaß, berichtet die Geschichte nicht; aber Bert zählte während seiner kurzen Überschau beinahe achtzig große, perspektivisch sich verkleinernde Klumpen. Solchergestalt waren die Instrumente, auf die Deutschland sich bei Verwerfung der Monroe-Doktrin und bei der kühnen Forderung eines Anteils an der Herrschaft der Neuen Welt hauptsächlich stützte. Aber nicht ausschließlich darauf stützte es sich; auch noch einen bombenschleudernden Einmann-Drachenflieger von unbekannter Leistungsfähigkeit hatte es unter seinen Streitmitteln.

Die Drachenflieger jedoch waren im zweiten großen aeronautischen Park östlich von Hamburg, und Bert Smallways sah nichts von ihnen bei seiner Vogelschaubesichtigung des fränkischen Lagers, ehe sie ihn herunterschossen. Denn herunter schossen sie ihn – mit großer Präzision. Die Kugel schlug an ihm vorüber, und gab, während sie in den Ballon fuhr, eine Art dumpfen Knalls von sich – einen Knall, dem ein raschelndes Ächzen und eine gleichmäßige Abwärtsbewegung folgte. Und als Bert in der Verwirrung des Augenblicks einen Sack Ballast auswarf, beschwichtigten die Deutschen seine Skrupel höflich, aber sicher, indem sie noch zweimal nach seinem Ballon schossen.

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