Madame Bovary. Sittenbild aus der Provinz

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Из серии: Reclam Taschenbuch
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II

Eines Abends gegen elf Uhr wurden sie durch das Getrappel eines Pferds geweckt, das genau vor der Haustür anhielt. Das Hausmädchen öffnete die Bodenluke und unterhandelte eine Weile mit einem Mann, der unten auf der Straße stehengeblieben war. Er kommt den Arzt holen; er habe einen Brief. Nastasie stieg schlotternd die Treppenstufen hinab, schloss auf und schob die Riegel zurück, einen nach dem andern. Der Mann ließ sein Pferd stehen, folgte dem Mädchen und trat unversehens hinter ihr ein. Er zog aus seiner graubequasteten Wollkappe einen in einen Lappen gewickelten Brief hervor und reichte ihn behutsam Charles, der sich mit den Ellbogen auf das Kopfkissen stützte, um ihn zu lesen. Nastasie stand am Bett und hielt den Leuchter. Madame blieb verschämt der Wand zugekehrt liegen und zeigte den Rücken.

Dieser Brief, den ein kleines, blaues Wachssiegel verschloss, forderte Monsieur Bovary dringend auf, sich unverzüglich nach dem Pachthof Les Bertaux zu begeben, um ein gebrochenes Bein zu schienen. Nun aber sind es von Tostes nach Les Bertaux gute sechs Meilen Wegs, wenn man über Longueville und Saint-Victor reitet. Die Nacht war pechschwarz. Die jüngere Madame Bovary fürchtete, ihrem Mann könne etwas zustoßen. So wurde beschlossen, der Stallknecht solle vorausreiten. Charles wolle drei Stunden später aufbrechen, wenn der Mond aufgegangen sei. Es solle ihm ein Junge entgegengeschickt werden, um ihm den Weg nach dem Pachthof zu zeigen und die Knicktore zu öffnen.

Gegen vier Uhr morgens machte sich Charles, fest in seinen Mantel gehüllt, auf den Weg nach Les Bertaux. Er war noch benommen von der Wärme des Schlafes und ließ sich vom friedlichen Trott seines Pferdes schaukeln. Als es von selber vor einem der von Dornsträuchern umwachsenen Löcher stehenblieb, wie sie am Rand der Äcker gegraben werden, schreckte Charles auf, musste rasch an das gebrochene Bein denken und versuchte, in seinem Gedächtnis alles zusammenzukramen, was er über Knochenbrüche wusste. Es regnete nicht mehr; der Tag begann zu dämmern, und auf den Zweigen der blätterlosen Apfelbäume hockten reglose Vögel und sträubten ihr Gefieder im kalten Morgenwind. So weit man sehen konnte, erstreckte sich das flache Land, und die Baumgruppen, die die Bauernhöfe umgaben, bildeten in weiten Abständen schwärzlich-violette Flecke auf dieser großen, grauen Fläche, die am Horizont in die trübe Farbe des Himmels zerrann. Von Zeit zu Zeit riss Charles die Augen auf; danach wurde er wieder müde, und der Schlaf kam ganz von selber wieder; bald geriet er in einen traumartigen Zustand, in dem neuerliche Empfindungen mit Erinnerungen verschmolzen; er fühlte sich verdoppelt, gleichzeitig Student und Ehemann, in seinem Bett liegend wie vor kurzem noch, einen Saal mit Operierten durchschreitend wie ehemals. Der warme Geruch heißer Breiumschläge mischte sich in seinem Kopf mit dem frischen Duft des Taus; er hörte die Eisenringe an den Stangen der Bettvorhänge klirren und seine Frau schlafen … Als er durch Vassonville ritt, sah er am Grabenrand einen Jungen im Gras sitzen.

»Sind Sie der Doktor?«, fragte der Kleine.

Und auf Charles’ Antwort hin nahm er seine Holzschuhe in die Hand und begann vor ihm herzulaufen.

Unterwegs entnahm der Arzt den Reden seines Führers, dass Monsieur Rouault ein recht wohlhabender Landwirt sei. Er hatte sich das Bein gebrochen, als er am vergangenen Abend von einem Nachbarn, bei dem er das Dreikönigsfest gefeiert hatte, heimgegangen war. Seine Frau war seit zwei Jahren tot. Er hatte nur sein »Fräulein« bei sich; sie half ihm im Haushalt.

Die Radspuren wurden tiefer. Sie näherten sich Les Bertaux. Der kleine Junge schlüpfte durch ein Loch in der Hecke und verschwand; dann tauchte er am Ende einer Einfriedigung wieder auf und öffnete die Schranke. Das Pferd glitschte auf dem feuchten Gras aus; Charles bückte sich, um unter den Baumzweigen durchzukommen. Die Hofhunde im Zwinger bellten und zerrten an ihren Ketten. Als er in Les Bertaux einritt, scheute sein Pferd und vollführte einen großen Satz.

Der Pachthof machte einen guten Eindruck. Durch die offenen Oberteile der Türen sah man kräftige Ackerpferde, die geruhsam aus neuen Raufen fraßen. Längs der Wirtschaftsgebäude zog sich ein breiter Misthaufen hin, von dem Dunstschwaden aufstiegen, und zwischen den Hühnern und Truthähnen stolzierten fünf oder sechs Pfauen einher, ein besonderer Luxus der Geflügelhöfe der Landschaft Caux. Der Schafstall war lang; die Scheune hoch, mit Mauern glatt wie die Fläche einer Hand. Im Schuppen standen zwei große Leiterwagen und vier Pflüge mit den dazugehörenden Peitschen, Kummeten und sämtlichen Geschirren; die blauen Wollwoilache waren mit feinem Staub bedeckt, der von den Kornböden niederfiel. Der Hof stieg etwas an; er war symmetrisch mit weit auseinanderstehenden Bäumen bepflanzt, und vom Tümpel her erscholl das fröhliche Geschnatter einer Gänseherde.

Eine junge Frau in einem mit drei Volants besetzten blauen Merinokleid erschien auf der Haustürschwelle, um Monsieur Bovary zu begrüßen; sie führte ihn in die Küche, in der ein tüchtiges Feuer brannte. Ringsum kochte das Essen für das Gesinde in kleinen Töpfen von unterschiedlicher Form. An den Innenwänden des Kamins trockneten feuchte Kleidungsstücke. Die Schaufel, die Feuerzange und das Mundstück des Blasebalgs, alle von kolossaler Größe, funkelten wie blanker Stahl, während an den Wänden entlang eine Unmenge von Küchengerät hing; darin spiegelte sich ungleichmäßig die helle Flamme des Herdfeuers, dem sich die ersten, durch die Fensterscheiben einfallenden Sonnenstrahlen zugesellten.

Charles stieg zum ersten Stock hinauf, um nach dem Patienten zu sehen. Er fand ihn im Bett, schwitzend unter seinen Decken; seine baumwollene Nachtmütze hatte er weit von sich geworfen. Er war ein stämmiger, untersetzter Mann von fünfzig Jahren, mit heller Haut, blauen Augen und kahler Stirn; er trug Ohrringe. Neben ihm stand auf einem Stuhl eine große Karaffe Schnaps, deren er sich von Zeit zu Zeit bedient hatte, um sich Mut zu machen; allein beim Anblick des Arztes legte sich seine Erregung, und anstatt zu fluchen, wie er es seit zwölf Stunden getan hatte, fing er schwach zu ächzen an.

Der Bruch war einfach, ohne jede Komplikation. Einen leichteren Fall hätte Charles sich schwerlich wünschen können. Also erinnerte er sich der Verhaltensweise seiner Lehrer an Krankenbetten; er tröstete den Leidenden mit allen möglichen guten Worten, Chirurgen-Freundlichkeiten, die wie das Öl sind, mit dem die Operationsmesser eingefettet werden. Um Schienen zu fertigen, wurde aus dem Wagenschuppen ein Bündel Latten geholt. Charles suchte eine aus, zerschnitt sie in Stücke und glättete sie mit einer Glasscherbe, während die Magd Laken zerriss, aus denen Binden gemacht werden sollten; Mademoiselle Emma versuchte inzwischen, kleine Polster zu nähen. Da es lange dauerte, bis sie ihren Nähkasten gefunden hatte, wurde ihr Vater ungeduldig; sie antwortete nichts; und beim Nähen stach sie sich in die Finger; die steckte sie dann in den Mund, um sie auszusaugen.

Charles staunte über die Sauberkeit ihrer Fingernägel, Sie glänzten, waren vorn gefeilt und reinlicher als die Elfenbeinschnitzereien in Dieppe, und mandelförmig geschnitten. Dabei war ihre Hand nicht schön, vielleicht nicht blass genug, und die Fingerglieder waren ein bisschen mager und ohne weiche Biegungen der Linien in der Kontur. Schön an ihr waren lediglich die Augen; obwohl braun, wirkten sie schwarz der Wimpern wegen, und ihr Blick traf einen unverhohlen mit naiver Kühnheit.

Als der Verband fertig war, wurde der Arzt von Monsieur Rouault persönlich eingeladen, »einen Happen zu essen«, ehe er wieder aufbreche.

Charles ging in das im Erdgeschoss gelegene große Wohnzimmer hinunter. Es lagen zwei Gedecke und standen zwei Silberbecher auf einem Tischchen am Fußende eines großen Bettes mit einem Kattunhimmel, auf dem Türken dargestellt waren. Es roch nach Iris und feuchten Betttüchern; der Geruch kam aus einem hohen Eichenschrank, der dem Fenster gegenüberstand. Am Fußboden, in den Ecken, waren aufrecht stehende Kornsäcke aufgereiht. Die anstoßende Kornkammer war übervoll; zu ihr hin führten drei Steinstufen. Als Zimmerschmuck hing an einem Nagel mitten an der Wand, deren grüne Tünche des Salpeters wegen abblätterte, in goldenem Rahmen eine Bleistiftzeichnung, ein Minervakopf, und darunter stand in altfränkischen Lettern: »Meinem lieben Papa.«

Zuerst wurde von dem Patienten gesprochen, dann vom Wetter, von den starken Frösten, von den Wölfen, die nachts über die Felder streiften. Mademoiselle Rouault hatte keine Freude am Landleben, zumal jetzt nicht, nun fast die ganze Last der Gutswirtschaft auf ihr allein ruhte. Da es im Zimmer kalt war, fröstelte sie während der ganzen Mahlzeit; dabei öffnete sie ein wenig ihre vollen Lippen, auf denen sie herumzubeißen pflegte, wenn sie schwieg.

Ihr Hals entstieg einem weißen Umlegekragen. Ihr Haar, dessen beide schwarze Streifen aus je einem einzigen Stück zu bestehen schienen, so glatt lagen sie an, war in der Mitte des Kopfes durch einen dünnen, hellen Scheitel geteilt, der sich, der Wölbung des Schädels entsprechend, leicht vertiefte; die Ohrläppchen waren kaum sichtbar; hinten wurde es zu einem üppigen Knoten zusammengefasst, mit einer Wellenbewegung nach den Schläfen zu, was der Landarzt hier zum erstenmal in seinem Leben sah. Ihre Wangen waren rosig. Zwischen zwei Knöpfen ihres hochgeschlossenen Kleides trug sie ein Schildpattlorgnon, wie ein Mann.

Als Charles, der hinaufgegangen war, um sich von dem alten Rouault zu verabschieden, nochmals in das Zimmer trat, ehe er fortritt, fand er sie am Fenster stehen und in den Garten schauen, wo der Wind die Bohnenstangen umgeworfen hatte. Sie wandte sich um.

»Suchen Sie etwas?«, fragte sie.

 

»Meine Reitgerte, wenn Sie gestatten«, antwortete er.

Und er machte sich daran, auf dem Bett nachzusehen, hinter den Türen, unter den Stühlen; sie war zwischen den Säcken und der Wand zu Boden gefallen. Mademoiselle Emma entdeckte sie; sie beugte sich über die Kornsäcke. Charles wollte ihr galant zuvorkommen, und als auch er den Arm mit der gleichen Bewegung reckte, spürte er, wie seine Brust den Rücken des unter ihm sich bückenden jungen Mädchens streifte. Sie war ganz rot, als sie sich aufrichtete, blickte ihn über die Schulter hinweg an und hielt ihm seinen Ochsenziemer hin.

Anstatt drei Tage später wieder nach Les Bertaux zu kommen, wie er es versprochen hatte, sprach er bereits am nächsten Tag dort vor, und dann regelmäßig zweimal die Woche, ganz abgesehen von den unerwarteten Besuchen, die er hin und wieder machte, wie aus Versehen.

Übrigens ging alles gut; die Heilung vollzog sich vorschriftsmäßig, und als man nach sechsundvierzig Tagen den alten Rouault versuchen sah, ganz allein auf seinem alten Hof umherzugehen, fing man an, Monsieur Bovary für eine Kapazität zu halten. Der alte Rouault sagte, besser hätten ihn die ersten Ärzte aus Yvetot oder sogar aus Rouen auch nicht heilen können.

Was Charles betraf, so gab er sich keine Rechenschaft, warum er so gern nach Les Bertaux kam. Hätte er darüber nachgedacht, so würde er sicherlich seinen Eifer dem Ernst des Falles zugeschrieben haben, oder vielleicht auch dem Honorar, das er sich davon erhoffte. Aber waren das wirklich die Gründe dafür, dass seine Besuche auf dem Pachthof eine köstliche Abwechslung im armseligen Einerlei seines Daseins bildeten? An jenen Tagen stand er frühzeitig auf, ritt im Galopp fort; trieb sein Pferd an, saß dann ab, reinigte sich die Füße im Gras und streifte seine schwarzen Handschuhe über, ehe er einritt. Er liebte sein Ankommen auf dem Hof, er liebte es, an seiner Schulter das nachgebende Eingangstor zu fühlen, den Hahn, der auf der Mauer krähte, und die Buben, die ihm entgegenliefen. Er liebte die Scheune und die Ställe; er liebte den alten Rouault, der ihm die Hand gab, dass es nur so klatschte, und ihn seinen Lebensretter nannte; er liebte Mademoiselle Emmas kleine Schuhe auf den gescheuerten Fliesen der Küche; ihre hohen Hacken machten sie ein bisschen größer, und wenn sie vor ihm herging, schlugen die schnell sich hebenden Holzsohlen mit einem trockenen Geräusch gegen das Oberleder.

Sie geleitete ihn jedesmal bis an die erste Stufe der Freitreppe. Wenn sein Pferd noch nicht vorgeführt worden war, blieb sie bei ihm stehen. Sie hatten schon Abschied genommen; sie sagten nichts mehr; die freie Luft umgab sie und wehte wirr ihre flaumigen Nackenhärchen hoch oder ließ ihre Schürzenbänder um die Hüfte flattern; sie verdrehten sich wie Spruchbänder. Einmal, als Tauwetter war, schwitzte die Rinde der Bäume im Hof, und der Schnee auf den Dächern der Gebäude schmolz. Sie stand auf der Schwelle; sie ging hinein und holte ihren Sonnenschirm, sie spannte ihn auf. Der Schirm war aus taubenhalsfarbener Seide; das Sonnenlicht drang hindurch und bildete tanzende Reflexe auf ihrer weißen Gesichtshaut. Sie lächelte darunter in die laue Wärme, und man hörte die Wassertropfen einen nach dem andern auf das straff gespannte Moiré fallen.

In der ersten Zeit von Charles’ häufigeren Ritten nach Les Bertaux hatte seine Frau sich nach dem Patienten erkundigt, und in dem Buch, in das sie Ausgaben und Einnahmen eintrug, sogar für Monsieur Rouault eine schöne weiße Seite ausgesucht. Doch als sie vernahm, er habe eine Tochter, zog sie Erkundigungen ein; und nun erfuhr sie, dass Mademoiselle Rouault im Kloster erzogen worden sei, bei den Ursulinerinnen, und also sozusagen ›eine höhere Bildung‹ erhalten habe, dass sie infolgedessen Unterricht im Tanzen, in Geographie, im Zeichnen, in Gobelinstickerei und im Klavierspielen gehabt hatte. Das war der Gipfel!

»Deswegen also«, sagte sie sich, »macht er ein so heiteres Gesicht, wenn er sie besucht, und zieht seine neue Weste an, auf die Gefahr hin, dass der Regen sie verdirbt? Oh, dieses Weib! Dieses Weib …!«

Und instinktiv hasste sie sie. Anfangs erleichterte sie sich durch Anspielungen. Charles verstand sie nicht; dann durch anzügliche Bemerkungen, die er ihr aus Furcht vor einer Szene hingehen ließ; schließlich jedoch durch unverhohlene Vorwürfe, auf die er nichts zu entgegnen wusste. Wie es komme, dass er in einem fort nach Les Bertaux reite, wo doch Monsieur Rouault längst geheilt sei und die Leute da noch immer nicht bezahlt hätten? Haha, nur, weil dort »eine Person« sei, jemand, der zu plaudern wisse, eine, die sich aufspiele, eine Schöngeistige. So was möge er: Stadtdamen müsse er haben! Und dann fuhr sie in ihrer Rede fort:

»Die Tochter vom alten Rouault und eine Stadtdame? Geh mir doch! Deren Großvater war Schafhirt, und sie haben einen Vetter, der wäre beinah vors Schwurgericht gekommen, weil er bei einer Prügelei einen fast totgeschlagen hätte. Die braucht sich wirklich nicht aufzuspielen und sonntags in einem Seidenkleid zur Kirche zu gehen wie eine Gräfin. Übrigens hätte der Alte ohne seinen Raps vom vorigen Jahr schwerlich seine Pachtrückstände bezahlen können!«

Charles wurde es müde; er stellte seine Besuche in Les Bertaux ein. Héloïse hatte ihn nach vielen Schluchzern und Küssen in einem großen Liebesausbruch auf ihr Messbuch schwören lassen, er werde nicht mehr hinreiten. Also gehorchte er; aber die Heftigkeit seines Verlangens protestierte gegen das Knechtische seines Verhaltens, und aus einer gewissen naiven Scheinheiligkeit heraus meinte er, dieses Verbot, sie zu besuchen, räume ihm gewissermaßen ein Recht ein, sie zu lieben. Und überdies war die Witwe mager; sie hatte lange Zähne; sie trug zu jeder Jahreszeit einen kleinen schwarzen Schal, dessen Zipfel ihr zwischen den Schulterblättern herabhing; ihre eckige Gestalt war in Kleider eingezwängt, die wie ein Futteral wirkten; sie waren zu kurz und ließen ihre Fußgelenke und die auf grauen Strümpfen sich kreuzenden Bänder ihrer plumpen Schuhe sehen.

Dann und wann kam Charles’ Mutter zu Besuch; aber nach ein paar Tagen schien die Schwiegertochter sich an ihr zu wetzen, und dann fielen sie wie zwei Messer mit ihren Betrachtungen und Bemerkungen über ihn her. Er solle nicht so viel essen! Warum immer gleich dem Erstbesten was zu trinken anbieten? Welch eine Dickköpfigkeit, keine Flanellwäsche tragen zu wollen!

Zu Frühlingsbeginn geschah es, dass ein Notar aus Ingouville, der Vermögensverwalter der Witwe Dubuc, übers Meer das Weite suchte und alles Geld mitnahm, das sich in seinem Büro befand. Freilich besaß Héloïse noch außer einem Schiffsanteil, der auf sechstausend Francs geschätzt wurde, ihr Haus in der Rue Saint-François, und dabei hatte sie von dem ganzen Vermögen, das so laut gerühmt worden war, nichts mit in die Ehe gebracht als ein paar Möbelstücke und ein bisschen abgetragene Kleidung. Der Sache musste auf den Grund gegangen werden. Das Haus in Dieppe erwies sich als bis an die Dachbalken mit Hypotheken belastet, und der Schiffsanteil war keine tausend Taler wert. Sie hatte also gelogen, die gute Dame! In seiner Wut zerschlug der Vater Bovary einen Stuhl auf dem Steinpflaster und beschuldigte seine Frau, den Sohn ins Unglück gestürzt und ihn mit dieser alten Schindmähre zusammengekoppelt zu haben, deren Geschirr nicht ihr Fell wert sei. Sie fuhren nach Tostes. Es kam zu Auseinandersetzungen. Es gab Auftritte. Héloïse warf sich schluchzend in die Arme ihres Mannes und beschwor ihn, sie gegenüber seinen Eltern in Schutz zu nehmen. Charles wollte ein Wort für sie einlegen. Das nahmen die Eltern übel; sie reisten ab.

Aber der Hieb hatte gesessen. Acht Tage später, beim Aufhängen von Wäsche in ihrem Hof, bekam sie einen Blutsturz, und am folgenden Tag, als Charles ihr den Rücken zukehrte, um den Fenstervorhang zuzuziehen, sagte sie: »Ach, mein Gott!«, stieß einen Seufzer aus und verlor das Bewusstsein. Sie war tot! Wie sonderbar!

Als auf dem Kirchhof alles vorüber war, ging Charles nach Hause. Unten war niemand; er ging hinauf in den ersten Stock in das Schlafzimmer und sah ihr Kleid noch immer am Fußende des Alkovens hängen; da lehnte er sich gegen das Schreibpult und verblieb dort bis zum Abend, in schmerzliche Grübelei versunken. Alles in allem hatte sie ihn doch geliebt.

III

Eines Morgens kam der alte Rouault und brachte Charles das Honorar für sein wiederhergestelltes Bein: fünfundsiebzig Francs in Vierzigsousstücken und eine Truthenne. Er hatte von seinem Unglück gehört und tröstete ihn, so gut er konnte.

»Ich weiß, wie einem da zumute ist!«, sagte er und klopfte ihm auf die Schulter; »auch mir ist es gegangen wie Ihnen! Als ich meine arme Selige verloren hatte, bin ich hinaus ins Freie gelaufen, um allein zu sein; am Fuß eines Baums bin ich niedergesunken, habe geweint, den lieben Gott angerufen und ihm Dummheiten gesagt; am liebsten wäre ich gewesen wie die Maulwürfe, die ich an den Ästen angenagelt hängen sah und denen schon die Würmer im Bauch wimmelten, mit anderen Worten: endlich verreckt. Und wenn ich daran dachte, dass in diesem Augenblick andere Männer mit ihren guten kleinen Frauen beisammen waren und sie an sich drückten, dann schlug ich mit meinem Stock wild auf die Erde; ich war gewissermaßen verrückt, ich aß nichts mehr; der Gedanke, allein ins Café zu gehen, ekelte mich an, Sie können sich nicht vorstellen, wie sehr. Na, und so nach und nach, wie ein Tag den andern verjagte, einen Frühling lang nach einem Winter, einen Herbst nach einem Sommer, da ist es vorübergegangen, Halm für Halm, Krümchen für Krümchen; hingeschwunden ist es, weg war es, hinabgesunken, will ich lieber sagen, denn es bleibt tief in einem stets etwas sitzen, man könnte sagen … etwas, das einem auf die Brust drückt! Aber da das nun mal unser aller Schicksal ist, darf man sich nicht davon überwältigen lassen und sterben wollen, weil andere gestorben sind … Sie müssen sich aufrappeln, Monsieur Bovary; es wird schon vorübergehen! Besuchen Sie uns mal; meine Tochter denkt oft an Sie, müssen Sie wissen, und sie sagt immer, Sie hätten sie vergessen. Es wird nun bald Frühling; wir lassen Sie im Gehege ein Kaninchen schießen, damit Sie ein bisschen abgelenkt werden.«

Charles folgte seinem Rat. Er ritt wieder nach Les Bertaux; er fand dort alles so vor, wie es gestern gewesen war, das heißt, vor fünf Monaten. Schon standen die Birnbäume in Blüte, und der wackere Rouault, der jetzt völlig wiederhergestellt war, lief hin und her, und das machte den Pachthof lebendiger.

Der Meinung, es sei seine Pflicht, ihn mit besonderer Zuvorkommenheit zu umgeben, seiner schmerzlichen Lage wegen, bat er ihn, die Mütze aufzubehalten, sprach mit gedämpfter Stimme mit ihm, wie wenn er krank gewesen wäre, und tat sogar, als gerate er in Zorn, wenn für Charles nicht, wie er angeordnet hatte, etwas Leichtes aufgetischt worden war, vielleicht kleine Schüsseln mit Rahmspeise oder geschmorte Birnen. Er erzählte Geschichten. Zu seiner eigenen Verwunderung musste Charles lachen; allein die Erinnerung an seine Frau, die ihn plötzlich überkam, stimmte ihn düster. Der Kaffee wurde gebracht; er dachte nicht mehr an sie.

Er dachte um so weniger an sie, je mehr er sich an das Alleinleben gewöhnte. Das neue Behagen an der Unabhängigkeit machte ihm die Einsamkeit bald erträglicher. Jetzt konnte er die Stunde der Mahlzeit nach seinem Ermessen festsetzen, er konnte kommen und gehen, ohne die Gründe dafür anzugeben, und, wenn er mal sehr müde war, alle viere von sich strecken und sich in seinem Bett breitmachen. Er hegte und pflegte sich und ließ die Trostesworte, mit denen er bedacht wurde, über sich ergehen. Andererseits hatte der Tod seiner Frau keine ungünstige Wirkung auf seine Praxis gehabt; denn einen ganzen Monat lang hieß es wieder und wieder: »Der arme junge Mensch! Wie traurig!« Sein Name hatte sich herumgesprochen, sein Patientenkreis sich vergrößert; und ferner konnte er nach Les Bertaux reiten, wann es ihm beliebte. Er trug eine ziellose Hoffnung in sich, ein unbestimmtes Glücksgefühl; er fand sich sympathischer aussehend, wenn er vor dem Spiegel seinen Backenbart bürstete.

Eines Tages langte er gegen drei Uhr nachmittags an; alles war draußen auf den Feldern; er ging in die Küche, und zunächst bemerkte er Emma gar nicht; die Fensterläden waren geschlossen. Durch die Ritzen des Holzes warf die Sonne lange, dünne Streifen auf die Fliesen; sie brachen sich an den Kanten der Möbel und zitterten an der Zimmerdecke. Auf dem Tisch krabbelten Fliegen an den Gläsern herum, aus denen getrunken worden war, und summten, wenn sie in dem Ziderrest, der am Boden haftete, ertranken. Das durch den Kamin hereinfallende Tageslicht ließ den Ruß der Herdplatte wie Samt wirken und färbte die kalte Asche bläulich. Emma saß zwischen dem Fenster und dem Herd und nähte; sie trug kein Brusttuch, auf ihren nackten Schultern glänzten Schweißperlen.

 

Nach ländlichem Brauch bot sie ihm zu trinken an. Er dankte; sie nötigte ihn und bat ihn schließlich lachend, mit ihr zusammen ein Glas Likör zu trinken. Also holte sie aus dem Schrank eine Flasche Curaçao, suchte zwei Gläschen hervor, füllte das eine bis zum Rand, goss ganz wenig in das andere, und nachdem sie angestoßen hatten, führte sie es zum Munde. Da es fast leer war, musste sie sich beim Trinken zurückbeugen; den Kopf nach hinten geneigt, den Hals gestrafft, stand sie da und lachte, weil sie nichts spürte, während ihre Zungenspitze zwischen den feinen Zähnen hervorkam und in kleinen Stößen den Boden des Glases ableckte.

Sie setzte sich wieder und machte sich abermals an die Arbeit, die darin bestand, einen weißen Baumwollstrumpf zu stopfen: sie arbeitete mit gesenktem Kopf; sie sagte nichts, Charles schwieg ebenfalls. Der hinter der Tür hindurchstreichende Luftzug wirbelte auf den Fliesen ein wenig Staub auf; er sah zu, wie er wegwehte, und hörte dabei nichts als das Hämmern in seinem Kopf und dazu in der Ferne das Gackern eines Huhns, das irgendwo gelegt hatte. Von Zeit zu Zeit kühlte Emma ihre Backen, indem sie die Handfläche darauf presste; danach kühlte sie diese wieder auf den eisernen Knäufen der großen Feuerböcke.

Sie klagte über Schwindelanfälle, die sie seit Frühlingsanfang heimsuchten; sie fragte, ob Seebäder ihr guttun würden; sie fing an, von ihrem Klosteraufenthalt zu plaudern, Charles vom Gymnasium; die Sätze kamen ihnen ganz von selbst. Sie stiegen in ihr Zimmer hinauf. Sie zeigte ihm ihre alten Notenhefte, die kleinen Bücher, die sie als Preise in der Schule bekommen hatte, und die Kränze aus Eichenlaub, die vergessen in einem Schrankschubfach lagen. Auch von ihrer Mutter erzählte sie, vom Kirchhof, und sie zeigte ihm sogar im Garten das Beet, von dem sie jeden ersten Freitag im Monat Blumen pflückte, die sie dann auf das Grab legte. Aber der Gärtner, den sie hätten, tauge nichts; man werde so schlecht bedient! Am liebsten möchte sie in der Stadt wohnen, zumindest während des Winters, obwohl die langen schönen Tage das Landleben im Sommer noch langweiliger machten; – und je nachdem, was sie sagte, klang ihre Stimme hell, scharf oder, wenn sie plötzlich weich und sehnsüchtig wurde, schleppte sie sich in Modulationen hin, die fast in ein Flüstern einmündeten – bald war sie fröhlich und schlug naive Augen auf, dann schlossen sich ihre Lider zur Hälfte, ihr Blick ertrank in Langeweile, ihre Gedanken schweiften umher.

Abends auf dem Heimritt wiederholte Charles sich nacheinander die Sätze, die sie gesagt hatte; er versuchte, sich ihrer zu erinnern, ihren Sinn zu ergänzen, um sich den Teil ihres Daseins anzueignen, den sie durchlebt hatte, als er sie noch nicht kannte. Aber nie konnte er sie in seinen Gedanken anders erblicken als so, wie er sie zum erstenmal gesehen, oder so, wie er sie gerade eben beim Abschied vor sich gehabt hatte. Dann fragte er sich, was aus ihr werden würde, wenn sie heiratete, und wen? Ach, der alte Rouault war ziemlich reich, und sie … sie war so schön! Doch immer wieder sah er Emmas Gesicht vor sich, und etwas Monotones wie das Summen eines Kreisels surrte ihm im Ohr: »Wenn du dich nun aber verheiratetest! Wenn du dich verheiratetest!« Nachts fand er keinen Schlaf; die Kehle war ihm wie zugeschnürt; er hatte Durst; da stand er auf, um aus seiner Wasserkaraffe zu trinken, und öffnete das Fenster; der Himmel war voller Sterne, ein warmer Wind strich vorüber, in der Ferne bellten Hunde. Er wandte den Kopf in Richtung auf Les Bertaux.

Der Meinung, man riskiere dabei nicht Kopf und Kragen, gelobte sich Charles, seinen Heiratsantrag zu machen, wenn die Gelegenheit sich böte; doch jedesmal, wenn sie sich bot, verschloss ihm die Angst, nicht die passenden Worte zu finden, die Lippen.

Dabei wäre es dem alten Rouault ganz lieb gewesen, wenn jemand ihm die Tochter vom Hals geschafft hätte; sie war im Haus zu nichts nütze. Innerlich entschuldigte er sie; er fand, sie sei zu intelligent für die Landwirtschaft, dieses Gewerbe, das der Himmel verflucht hatte, weil man darin niemals Millionäre sah. Er selber war weit davon entfernt, es dabei zu Vermögen gebracht zu haben; der gute Mann setzte alle Jahre zu; denn wenn er auch auf den Märkten glänzte, wo er sich in den Kniffen und Pfiffen seines Gewerbes erging, war er für die Landwirtschaft im eigentlichen Sinn und für die Leitung des Pachthofs ganz und gar nicht geschaffen. Er zog ungern die Hände aus den Taschen und scheute keine Ausgabe, wenn sie ihm selbst von Nutzen war; er wollte gut essen und trinken, eine warme Stube haben und gut schlafen. Er hatte eine Schwäche für Zider, halb durchgebratene Hammelkeulen und gut umgerührten Kaffee mit Calvados. Seine Mahlzeiten nahm er ganz allein in der Küche ein, dem Feuer gegenüber, an einem Tischchen, das für ihn fertig gedeckt hereingetragen wurde, wie auf der Bühne.

Als er merkte, dass Charles, wenn die Tochter zugegen war, einen roten Kopf bekam, was bedeutete, dass er eines schönen Tages um ihre Hand gebeten werden könne, überlegte er die Sache schon im voraus. Er fand ihn zwar ein bisschen schwächlich; er war nicht der Schwiegersohn, den er sich gewünscht hätte; aber er war als ein anständiger, sparsamer, sehr gebildeter Mann bekannt und würde schwerlich allzu sehr um die Mitgift feilschen. Da nun aber der alte Rouault zweiundzwanzig Morgen seines eigenen Grunds und Bodens hatte verkaufen müssen, da er dem Maurer, dem Sattler viel Geld schuldete und die Spindel der Apfelpresse der Erneuerung bedurfte, sagte er sich:

»Wenn er um sie anhält, dann gebe ich sie ihm.«

Um den Michaelistag herum war Charles für drei Tage nach Les Bertaux gekommen. Der letzte Tag war verflossen wie die vorhergehenden, von Viertelstunde zu Viertelstunde hatte er es verschoben. Der alte Rouault begleitete ihn; sie gingen durch einen Hohlweg, sie mussten sich verabschieden; der Augenblick war gekommen. Charles gab sich noch Zeit bis zur Heckenecke, und endlich, als sie schon daran vorbeigegangen waren, murmelte er:

»Papa Rouault, ich würde Ihnen gern etwas sagen.«

Sie blieben stehen. Charles schwieg.

»Heraus mit der Sprache! Schließlich bin ich doch längst im Bilde«, sagte der alte Rouault und lachte gemütlich.

»Papa Rouault …, Papa Rouault …«, blubberte Charles.

»Ich selber wünsche mir nichts Besseres«, fuhr der Pächter fort. »Obwohl die Kleine sicherlich denken wird wie ich, muss sie um ihre Meinung gefragt werden. Also reiten Sie los; ich gehe zurück ins Haus. Wenn sie ja sagt, verstehen Sie mich recht, dann brauchen Sie nicht nochmal reinzukommen, der Leute wegen, und außerdem würde es sie allzu sehr mitnehmen. Aber damit Sie nicht lange Blut schwitzen, werde ich einen Fensterladen kräftig gegen die Hauswand klappen lassen: Sie können es von hier aus sehen, wenn Sie sich über die Hecke beugen.«

Und er ging davon.

Charles band sein Pferd an einen Baum. Er eilte auf den Fußpfad; er wartete. Eine halbe Stunde verstrich; dann zählte er auf seiner Taschenuhr neunzehn Minuten nach. Plötzlich gab es einen Bums gegen die Hauswand; der Fensterladen war dagegengeschlagen, der Riegel wackelte noch.

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