Die Natur der Dinge

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Fünfte Wahrnehmung

Der Raum liegt zur ebenen Erde und ist vollkommen überdimensioniert. Zwei Damen sitzen darin. Ein Herr, der draußen vor der Tür Dummheiten in sein Telefon säuselt, wird noch kommen. Es verspricht ein geschlechtlich ausgewogener Kurs zu werden.

Innerhalb der Gruppe scheinen Übertretungen gegen das sechste Gebot so gut wie ausgeschlossen. Der Herr, ein kahler, Testosteron schwitzender Mann Ende dreißig, ist, seinem infantilen Gemurmel nach zu schließen, gut versorgt.

Heinrichs Gefährdung wäre ohnehin gering. Bekanntlich lassen die Kräfte der Venus mit den Jahren nach. Beim einen stärker, beim anderen schwächer, bei Heinrich eher stärker. Hinzu kommt, dass die ältere der beiden Damen alt ist. Die jüngere erinnert Heinrich vom Typus her an Isolde. Bei all der Verbitterung, die ihr Gesicht spiegelt, wäre sie im parallel stattfindenden Aquarellkurs vielleicht besser aufgehoben. Aber unterm Strich ist es vermutlich egal, ob man der Depression mit Malen, Schreiben oder dem Kneten von Ton begegnet.

Er stellt sich den Damen vor. Zuerst der Älteren, die in der ersten Reihe, unmittelbar vor dem Tisch des Kursleiters, Platz genommen hat. Sie trägt ein Dirndl, ihre Haare sind zum Dutt hochgesteckt, die Physiognomie wirkt heiter. Den Händen ist anzusehen, dass sie gearbeitet hat. Der klassische Großmuttertypus ländlicher Prägung.

Die Verbitterte ist, als Heinrich sich ihr nähert, gerade im Begriff, den Platz zu wechseln. Sie sei, erklärt sie, unschlüssig, wo sie sich hinsetzen solle. Feng-Shui-mäßig sei der Raum eine einzige Katastrophe, vielleicht wäre es drüben am Fenster besser. Heinrich möge ihr behilflich sein, den dort stehenden Tisch umzustellen. Ihre Stimme ist energisch. Heinrich rückt und hilft eine unfassbare Menge an Mappen, Gläsern und Taschen hinüberzubringen. Ob sie sich sicher sei, im richtigen Seminar zu sitzen, der Aquarellkurs finde im Raum Grützner statt? Sie schnauzt ihn an: Natürlich wisse sie, wo sie sich befinde! Ob sie einen minderbemittelten Eindruck mache? Was sie mitnehme und wie viel, gehe niemanden etwas an, sie habe diese Entmündigungsversuche vonseiten der Männer so etwas von satt, sie könne gar nicht sagen wie.

Nach dem Ausbruch kommt für Heinrich nur ein möglichst weit von der Verbitterten entfernter Tisch infrage. Dem Dozenten, der kurz darauf in den Raum stürzt, bietet sich folgendes Bild: eine nette alte Dame, dahinter v-förmig aufgefächert ein Herr im Lodenanzug und eine weitere, unangenehm wirkende Teilnehmerin. Das klassische Szenario eines schlecht gebuchten Schreibkurses, das entfernt an die Flugformation eines überalternden, stark gelichteten Schwarms erinnert. Doch hat der Dozent, abgehetzt und atemlos wie er ist, kein Auge dafür. Er murmelt Worte der Entschuldigung für seine Verspätung, die mit dem Zustand seines Autos zu tun habe, wobei er sich verhaspelt und rot wird. Dann erst stellt er seine schäbige Tasche ab, der er einen Zettel entnimmt, auf dem vier Namen stehen. Ehe er auf den Ablauf des Kurses zu sprechen komme, würde er gerne mit einer Vorstellungsrunde beginnen. Er selbst heiße Schwarzbach, aber da es in den Kursen üblich sei, sich zu duzen, möge man ihn Georg nennen. Er begehe demnächst seinen vierzigsten Geburtstag, sei geschieden, Vater einer zu pubertieren beginnenden Tochter und freier Autor. Vielleicht habe jemand der Herrschaften ja schon etwas von ihm gelesen, sein letzter Roman Werwölfe bei Tag sei von der Kritik, etwa im evangelischen Buchbeobachter, recht wohlwollend aufgenommen worden. Der Dozent blickt erwartungsvoll in die Runde. Bedauerlicherweise hat noch keiner der Anwesenden von der Existenz eines Autors namens Schwarzbach gehört.

Das mache nichts, fährt der Dozent fort, auch jemand wie Stendhal habe zu Lebzeiten mit Wahrnehmungsproblemen zu kämpfen gehabt. Die Kartause von Parma etwa hätte sich keine siebzig Mal verkauft. Das müsse man sich einmal vorstellen. Die Kartause! Von Parma! Ein Jahrhundertwerk! Wenn auch mit Längen; er persönlich hätte zum Beispiel den Teil, in dem Fabrizio im Kerker sitzt, stark gekürzt. Doch würden solche Überlegungen zu weit führen, auch sei er nicht so vermessen, sich mit Stendhal zu vergleichen. An dieser Stelle würde er gerne etwas über die geschätzten Teilnehmer erfahren. Namen, Beruf, ihre Erwartungen und Vorstellungen, und was sie dazu bewogen habe, gerade diesen Kurs zu buchen. Vielleicht wolle die Dame im Dirndl den Anfang machen?

Die ziert sich nicht lange. Sie heiße Hermynia, nach einer unverheirateten Tante, auf deren Grund und Boden der Vater spekuliert hätte. Eine Berechnung, die nicht aufgegangen sei; die Tante habe, als es ans Sterben ging, alles der Kirche vermacht. Geblieben sei ihr der Name, ein schrecklicher Name, weshalb sie es vorziehe, Herma genannt zu werden. Sie stamme aus Achleithen, aus bäuerlichen, also schrecklichen Verhältnissen und sei verwitwet, Gott sei Dank. Seit 17 Jahren vergehe kein Tag, an dem sie nicht dafür danke, dass der Mann unter der Erde liege. Denn es wäre keine gute Ehe gewesen. Was den Kurs betreffe, dazu sei sie so gekommen wie die Jungfrau zum Kind. Eigentlich habe sie sich zu ihrem achtzigsten Geburtstag ja etwas ganz anderes gewünscht; eine Reise zur Insel Mainau nämlich. Weil sie doch Blumen über alles liebe. Der Mann habe die Blumen in ihrem Garten immer zu Tode gedüngt. Kübelweise Jauche darüber geschüttet, bis alles verbrannt sei, aus Bosheit, aus reiner Bosheit. Er habe auch das Radio abgedreht, wenn etwas gespielt wurde, das ihr gefiel. Er habe es nicht ausgehalten, wenn sich jemand über etwas gefreut hat. Er wäre eben ein durch und durch böser Mensch gewesen. Übertroffen nur noch durch seine Mutter, die …

Herma verstummt, zieht ein Taschentuch hervor, wischt sich die Augen. Im Raum herrscht betretenes Schweigen. Der Dozent murmelt, er verstehe, sie habe sich umentschieden, wohl in der Annahme, dass ihr der Kurs vielleicht helfe, das Erlittene besser zu verkraften, weil …

Aber überhaupt nicht, unterbricht Herma, sie hätte viel lieber nach Mainau gewollt, aber der Nachwuchs wäre ganz nach dem Vater geraten, unvorstellbar geizig – und zwar alle sieben. Der Kurs sei schlicht billiger gewesen, und deshalb sitze sie hier und nicht im Bus in Richtung Bodensee.

Der Dozent schluckt, ehe er zur nächsten Teilnehmerin überleitet. Sie stellt sich als Frau Oberstudienrätin Professor Rottmann vor. Ihr Vorname tue nichts zur Sache, da sie nicht geduzt zu werden wünsche. Im Übrigen könne man den Berufstitel in der Anrede auch weglassen, Professor Rottmann reiche. Sie sei nicht prätentiös. Allerdings lege sie Wert auf Pünktlichkeit, darauf habe sie während all ihrer Jahre und Jahrzehnte im Schuldienst immer gehalten. Eine Selbstverständlichkeit, wie man annehmen sollte, namentlich bei erwachsenen Menschen. Der Kursus aber beginne unter schlechten Vorzeichen; mit einer Verspätung des sogenannten Herrn Dozenten. Dafür zahle sie nicht schweres Geld. Pünktlichkeit sei ein Eckpfeiler der bürgerlichen Gesellschaft und ohne diese gäbe es keine Kunst. Sie bitte sich aus, dass derlei nicht mehr vorkomme. Was die Beweggründe betreffe, die sie hierhergeführt haben, nun, ihr habe eigentlich etwas ganz anderes vorgeschwebt. Der Kurs hier sei eine Notlösung, denn sie trage sich mit dem Gedanken, ein Kinderbuch zu schreiben. Leider werde so etwas nirgendwo angeboten. Da sie seit vielen Jahren zeichne und aquarelliere, also mehr von der bildnerischen Seite komme, wolle sie das Buch auch selbst illustrieren, weshalb sie ihre Malutensilien mitgenommen habe.

Als Protagonist schwebe ihr ein besonderes Tier vor, nicht die üblichen Bären, Katzen, Hunde oder Hasen, die seien schon tausendfach besetzt, sondern eine Ratte. Eine Ratte namens Raphaela, ein unverstandenes, zerrissenes und einsames Geschöpf. Das Projekt werfe Probleme und viele Fragen auf, für die sie Lösungen und Antworten erwarte. Denn ganz ohne literarische Kompetenz werde die Leitung eines solchen Kurses ja wohl nicht vergeben worden sein. Zumindest stehe das zu hoffen. Auch, dass man endlich beginnen könne, wenn man mit der Vorstellungsrunde fertig sei.

Schwarzbachs Gesicht hat eine leuchtend ungesunde Farbe angenommen. Eine Farbe, wie sie aus der polnischen Karminschildlaus gewonnen wird. Heinrich ist sich nicht sicher, ob der Dozent zusammenbrechen, wortlos den Raum verlassen oder sich schreiend auf die Oberstudienrätin stürzen wird. Alles scheint möglich.

In diesem Moment wird die Tür aufgerissen, und herein stürzt der vierte Kursteilnehmer. Er sei untröstlich, sagt er, aber die Existenz eines Arztes bringe nun einmal unentwegt Störungen mit sich. Der Dozent atmet schwer. Herma springt ein, der Herr Doktor habe nichts versäumt, man befinde sich noch in der Vorstellungsrunde. Sie selbst sei uninteressant, nur eine alte Bäuerin, die Dame am Fenster eine malende Frau Professor und weiter wäre man noch nicht gekommen. Aber gut, dass ein Herr Doktor jetzt da wäre, denn das Gesicht des Herrn Dozenten gefalle ihr gar nicht, der schaue aus wie ihr Schwager, kurz bevor er den Schlaganfall erlitten habe. Das sei zu Martini gewesen, unmittelbar nachdem das Gansl aufgetragen wurde. Martini 1968, das Jahr werde sie nie vergessen. Jahrelang habe man noch darüber geredet, über das Pech, ausgerechnet vor einem solchen Festtagsessen einen Schlaganfall zu erleiden. Schwarzbach verdreht die Augen.

„Ja, der gefällt mir auch nicht“, meint der Arzt. „Ist Ihnen unwohl, kann man irgendwie helfen?“ Der Dozent schüttelt den Kopf. Nein, er glaube nicht, dass ihm jemand helfen könne. Er mache in seiner Existenz als Autor gerade die Erfahrung, dass die Realität die Fiktion offenbar um Längen schlage. Vielleicht wolle der Herr Doktor gleich den Reigen der Vorstellungsrunde fortsetzen und erzählen, was ihn zu dem Kurs gebracht habe? Der Herr Doktor blickt auf die Uhr. Ja, also er heiße Jakob Vodnik, sei Facharzt für Haut- und Geschlechtskrankheiten im St. Rochus Spital, habe sich sehr auf das Seminar gefreut, müsse aber gleich wieder weiter.

 

„Wie bitte?!“, krächzt der Dozent.

Ihm sei leider etwas dazwischengekommen. Wie gesagt, als Arzt … Dr. Vodnik lässt den Satz unvollendet. Auf seinen Gesichtszügen spiegelt sich mit einem Mal ein selig-blödes Lächeln. Die Kursteilnehmer folgen seinem Blick. Vor dem Fenster des Raumes steht eine Abgesandte der Göttin des Glücks. Eine junge, schöne, sehr weibliche Frau, bei der Männer unweigerlich mit der Hose zu denken beginnen.

In ihren Armen würde selbst Heinrich seine Virilität wiederfinden.

Ja, also er müsse dann los, sagt der Arzt. Er hätte aber noch eine Bitte –

„Sie können jetzt nicht mehr vom Kurs zurücktreten!“ Der Dozent klingt panisch.

„Aber nein, aber nein“, beruhigt Vodnik. Er würde lediglich um das Teilnahmediplom bitten.

Die Schöne wiegt sich leicht in den Hüften, winkt, Vodnik winkt zurück. Die Oberstudienrätin betrachtet ihn hasserfüllt, Heinrich neidisch, Herma amüsiert. Der Kursleiter wühlt in seiner Aktentasche, zieht ein in Fraktur gedrucktes Pergamentimitat hervor und macht sich ans Ausfüllen. Damit fertig, fragt er betont unschuldig, ob er vielleicht noch etwas dazuschreiben solle, dass der Herr Doktor zu großen Hoffnungen Anlass gebe oder dass er sein Werk aufs Beste empfehlen könne? Heinrich schmunzelt. Herma lacht. Der Gesichtsausdruck der Verbitterten ist unverändert. Vodnik antwortet kühl. Nicht nötig. Er nehme nicht an, dass die Empfehlung eines Herrn Schwarzbach irgendetwas bewirken würde. Aber das Datum möge er ausbessern, der Kurs ende übermorgen, nicht heute. Der Dozent tut es mit eingezogenem Kopf. Die Oberstudienrätin knirscht mit den Zähnen.

Vodnik nimmt das Diplom lächelnd entgegen. Man muss kein sehr aufmerksamer Beobachter sein, um festzustellen, dass an seinem rechten Digitus anularis an der Stelle, die normalerweise vom Ehering bedeckt wird, die Haut deutlich blasser ist als an der restlichen Hand. Monogamie entfärbt das Leben.

Als Vodnik abgerauscht ist, muss sich der Dozent erst einmal setzen. Herma verleiht ihrer Verwunderung Ausdruck, dass der Falott seinen Abgang durch die Tür gemacht habe und nicht gleich aus dem Fenster gesprungen sei. Der Ihrige habe einmal … Die Oberstudienrätin unterbricht mit eisiger Stimme, fragt, ob man nun endlich beginnen könne. Schwarzbach strafft den Rücken. Natürlich, natürlich. Er dürfe alle Anwesenden nochmals recht herzlich zu dem Kurs … – Er kann seine Ausführungen aber nicht zu Ende bringen, da Herma ihn daran erinnert, dass sich der andere Herr ja noch gar nicht vorgestellt habe. Das sei allerdings wahr, sagt der Dozent, bitte, Herr Függe. Was hat Sie hierhergeführt – eine verlorene Wette vielleicht?

Es liegt kein Zynismus in dem Satz, nur tiefe Resignation. Heinrich ist plötzlich von einem Gefühl des Mitleids mit dem armen Teufel erfüllt. Er muss ihm etwas Nettes sagen. Und während er noch überlegt und nach dem richtigen Einstieg sucht, geht die Tür erneut auf und herein tritt ein dicker Mann, der sich wortreich für sein Erscheinen entschuldigt. Sein Name sei Ördög, er leite die Akademie und wolle den kreativen Fluss auch gar nicht lange stören. Er hoffe, die geschätzten Teilnehmer würden sich wohlfühlen, hier im Seminarraum Rosegger, in dem schon viele mit den literarischen Gattungen der Epik, Dramatik, Lyrik und so weiter erfolgreich gerungen hätten. Aus organisatorischen Gründen bitte er die Herrschaften, ihm mitzuteilen, was sie zum Mittagessen zu speisen wünschen. Im akademieeigenen Restaurant stünden zwei Menüs zur Auswahl, gebackener Emmentaler mit Preiselbeeren und Baguette oder gebackener Karpfen mit Kartoffelsalat. Davor eine Masurische Jagdsuppe, alternativ ein kleiner Salat vom Buffet. Was er notieren dürfe?

„Ist der Karpfen geschröpft?“, will Herma wissen. Ördög sagt, er werde in der Küche nachfragen. „Ja, so etwas müsse man doch wissen“, ruft Herma. Der Akademieleiter versucht, seinen Emmentaler anzubringen. Niemand will den Emmentaler. Also viermal Fisch? Die Oberstudienrätin zischt, sie esse nichts Gebackenes. Das mache nichts, den Karpfen gebe es à la carte auch gedünstet auf polnische Art. Die Oberstudienrätin legt nach, sie esse nichts, was Augen habe. Sie sieht dabei wie eine Gottesanbeterin aus, und Heinrich fragt sich unwillkürlich, ob sie bei Menschenfleisch eine Ausnahme macht.

Schwarzbach, bemüht, die Situation zu deeskalieren, mischt sich ein. Die Zeichen stünden auf Fisch, immer vorausgesetzt, dass dieser geschröpft sei, ansonsten etwas von der Karte. Ördög macht ein missmutiges Gesicht. Er nehme das zur Kenntnis, obgleich er nicht froh darüber sei, denn der Küchenchef, ein sehr schwieriger Charakter, würde ihm wieder etwas erzählen. Doch könne man nichts machen, zehn Monate habe es gedauert, jemanden zu finden, es wolle ja niemand mehr in der Gastronomie arbeiten. Er selbst habe damals in die Bresche springen müssen, und um nichts in der Welt wolle er in diese Küche zurück. Und Schwarzbach solle nicht vergessen, dass er als Dozent nur Anspruch auf ein Menü habe, à la carte müsse er selbst bezahlen. Die Getränke sowieso, die wären früher frei gewesen, aber man habe mit Schriftstellern diesbezüglich schlechte Erfahrungen gemacht. Erst letztes Jahr sei ihnen so ein Autor fast im Karpfenteich ersoffen. Sternhagelvoll. Na ja, er wünsche jedenfalls noch einen angenehmen Aufenthalt, und am Nachmittag würde Frau Riefenbuck kommen und vom Wellnessprogramm berichten, welches sehr reichhaltig sei und von Massagen über Schlammpackungen bis hin zum Heubad keine Wünsche offenlasse. Stichwort Bad: Das akademieeigene Schwimmbad sei zurzeit leider geschlossen. Die Auflagen würden ja von Jahr zu Jahr immer mörderischer, der Staat lasse eben nichts unversucht, das Unternehmertum des Landes umzubringen.

Sechste Wahrnehmung

Heinrich kommt die Unterbrechung nicht ungelegen. Sie gibt ihm Zeit, sich eine Vorstellung zurechtzulegen, bei der er das Gesicht wahren und den Dozenten nicht vor den Kopf stoßen muss. Und so geht er, kaum, dass sich die Tür hinter dem vom Zustand der Welt bitter enttäuschten Akademieleiter geschlossen hat, gleich in medias res.

Er heiße Heinrich Függe, 1943 in Dachau geboren, wo es die Mutter hin verschlagen habe. Sie sei Malerin gewesen, der Vater Techniker, eine ungewöhnliche Konstellation. Der frühe Tod des Vaters habe dazu geführt, dass er das Gymnasium abbrechen musste, um das Seine zum Familienunterhalt beizutragen. Ein Schritt, der ihm als wissenshungrigen jungen Menschen nicht leichtgefallen sei. Den Großteil seines Berufslebens habe er in der Privatwirtschaft zugebracht, in verschiedensten Funktionen, die längste Zeit als Abteilungsleiter. Seit gut sechs Wochen genieße er die mit dem Vorruhestand verbundenen Annehmlichkeiten. An sich eine gute Sache, denn die Pension könne nur nach vorne verlängert werden.

Aber nachdem er schon früh zu arbeiten begonnen habe und es seiner Natur widerstrebe, im Ohrensessel sitzend Denksportaufgaben zu lösen, wäre ihm bereits in den ersten Tagen des neuen Lebensabschnittes die Idee gekommen, sich in der Akademie einzuschreiben. Er wolle sein Leben Revue passieren lassen, auf das Erreichte zurückblicken, kurz, Zeugnis ablegen. Der Kurs sei ihm als passendes Instrument dazu erschienen, also habe er nicht lange gezögert und nun sei er hier.

Heinrich lehnt sich zurück. Vom Geburtsjahr und -ort abgesehen, ist das Gros seiner Ausführungen eine Aneinanderreihung von Unwahrheiten. Nicht einmal der Vorname stimmt, in Wirklichkeit heißt er Hans Maria Heinrich. Doch ist das noch der lässlichste Schwindel; denn die mit seinem Namenswechsel verbundene Geschichte ist keine, die man ohne Androhung der Folter erzählt. Mit angelegten Daumenschrauben würde er Folgendes zu Protokoll geben: Als ich in die Familie meiner Frau gekommen bin, gab es dort bereits einen Hans. Meine Schwiegermutter, damals noch meine Schwiegermutter in spe, hat befürchtet, es würde zu Verwirrungen führen, wenn man zwei Träger dieses Namens hätte. Und ihren Hans könne man wohl schlecht umbenennen, nicht nur wegen seiner älteren Rechte. So wurde ich zu Heinrich. Und blieb es, auch als der Namensvetter bald darauf verschied. Ein Versuch, wieder zu meinem angestammten Namen zurückzukehren, wurde von der Schwiegermutter mit dem Hinweis, die Erinnerung tue zu weh, abgelehnt. Zehn Jahre habe man das brave Tier gehabt, dieses Bild von einem deutschen Schäferhund. Bis heute hängt sein Foto in ihrem Ankleidezimmer. Hans von Hartenstein, bissig bis zuletzt, ein zutiefst widerliches Vieh.

Doch daran denkt Heinrich im Augenblick nicht. Er ist mit sich, dem Gesagten und seiner Positionierung gerade sehr zufrieden. Die anderen Kursteilnehmer schweigen. Andächtig, wie ihm scheint. Geschichten vom Aufstieg werden immer gerne gehört. Der Zustand währt indes nicht lange, denn an der Fensterseite wird gelacht. Die Oberstudienrätin. Sie kann also lachen, wenn auch nur heiser und bösartig. Wie eine Hyäne. „Es ist interessant – und bezeichnend“, sagt sie und fixiert ihn auf unangenehme Weise, „dass Ihre Frau mit keinem einzigen Wort Erwähnung findet.“

„Sie kennen meine Frau?“, fragt Heinrich mit mühsam verborgenem Grauen, „woher kennen Sie meine Frau?!“

„Ich kenne Isolde. Aus einem Kurs. Auch wir beide sind einander übrigens schon begegnet. Letzte Woche. In der Rahmenabteilung – erinnern Sie sich nicht?“

Heinrich beginnt zu schwitzen.

„Isolde hat viel von Ihnen erzählt. Durchaus interessante Geschichten … Sie würde Ihre Herkunft und Ihren Werdegang wohl etwas anders schildern. Nun, wir werden hoffentlich noch einiges zu hören bekommen.“

Die Oberstudienrätin lächelt. Heinrich spürt ein Gefühl der Übelkeit aufsteigen. Ihre Vorderzähne sind gelb und lang. Das Bild einer Ratte drängt sich auf.

Der Dozent wirkt mittlerweile entspannter als zuvor. Er ist froh, dass die grässliche Person von ihm abgelassen und sich in Herrn Függe verbissen hat. Hoffentlich bleibt es dabei. Das Letzte, was er brauchen kann, sind Konfrontationen – gleich welcher Natur. Dafür sind ihm die Kursteilnehmer zu gleichgültig, ist der Job zu schlecht bezahlt und sein Nervenkostüm zu dünn. Schwarzbach ist ja nicht freiwillig hier, sondern weil er das Geld braucht. Das Auto muss dringend in die Werkstatt, er ist mit der Miete und den Alimenten im Rückstand, Kleidung und Schuhwerk sind fadenscheinig und abgenutzt. Und das ist erst die Spitze des Eisbergs. Wenn er den Kernstock-Preis nicht bekommt, kann er eigentlich gleich in den Karpfenteich gehen. Nüchtern. Eine innere Stimme sagt ihm allerdings, dass er ihn nicht bekommen wird, den Preis. Er darf gar nicht daran denken.

Schwarzbachs Eröffnung ist die eines Opportunisten; er schlägt sich auf die Seite, auf der er die Macht vermutet. Die Frau Oberstudienrätin habe mit ihrer Bemerkung einen sehr wichtigen Punkt angesprochen; nämlich jenen, dass Autobiographien nur dann glaubwürdig sind, wenn sie etwas Unschönes zugeben. Denn von innen her betrachtet, sei das Leben nichts anderes als eine Aneinanderreihung von Niederlagen. Der Dozent blickt erwartungsvoll in die Runde.

Das sei aber sehr negativ, meint Herma, das sehe sie nicht so. Pessimistischer Schwachsinn, sekundiert die Oberstudienrätin. Auf Ihr Leben mag das Gesagte ja zutreffen. Auf meines nicht, meint Heinrich, entschlossen, den Dozenten nun nicht mehr zu schonen.

Er habe George Orwell zitiert, sagt der Dozent.

„Dann ist es eben sozialistisch-pessimistischer Schwachsinn“, ruft die Oberstudienrätin. Die Sozis möge man dort, wo sie herkomme, gar nicht, bemerkt Herma. Heinrich sagt nichts. Er freut sich über die roten Flecken im Gesicht des Dozenten, dem in diesem Augenblick klar wird, dass es klüger gewesen wäre, eine andere Allianz einzugehen. Und da man in der Defensive immer gut beraten ist, auf Zeit zu spielen, gibt Schwarzbach seinen Feinden, denn als solche sieht er die Kursteilnehmer nun, die erste Übung bekannt.

Sie dreht sich um die Frage, wie der Stoff beschaffen sei, aus dem einer gemacht ist. Um die unmittelbaren Vorfahren. Kurz: um Vater und Mutter. Man möge mit Ersterem beginnen, einer biographischen Skizze des Vaters. Die, das betont er noch einmal, nur dann Sinn mache, wenn sie nicht geschönt sei. Als zeitlichen Rahmen schlage er dreißig Minuten vor, bei Bedarf könne gerne verlängert werden. Ob es dazu noch Fragen gebe? Nein? Sehr schön, dann könne die Arbeit ja beginnen.

 

Das kann sie nicht, denn die Oberstudienrätin möchte an dieser Stelle wissen, ob es patriarchalen Denkmustern geschuldet sei, dass mit dem Vater begonnen werde. Das Primat des Mannes könne und werde sie in ihrer Existenz als Frau nicht akzeptieren. Schwarzbach entgegnet, das sei mitnichten der Fall, sie könne auch gerne mit der Mutter der Ratte anfangen. Nur komme man bei Säugetieren um den Vater gemeinhin nicht herum, dem Vater entrinne man nicht. Eine Problematik, die seines Wissens auch vom Feminismus noch nicht befriedigend gelöst worden sei. Wobei ihm durchaus bewusst sei, dass es in Gottes wundersamer Natur Lebewesen gebe, die sich ohne männlichen Samen fortpflanzen. Wenn er sich recht erinnere, nenne man dieses Phänomen Parthenogenese, es komme bei Blattläusen, Wasserflöhen und Fadenwürmern vor. Allesamt Tiere, die im Kinderbuchsektor stark unterrepräsentiert seien. Dies nur zur Anregung, und nun wünsche er ein frohes Schaffen.

Zwei der drei Teilnehmer haben Schwarzbachs gute Wünsche und den ihnen vorausgegangenen naturwissenschaftlichen Exkurs zur Jungfernzeugung gar nicht mehr gehört. Sie arbeiten bereits. Analog zum Pawlow’schen Hund, der auf den Klang der Glocke mit verstärktem Speichelfluss reagiert, sind bei Herma und Heinrich Schreibreflexe aktiviert worden, als die Worte dem Vater entrinne man nicht fielen. Es hat seine Gründe. Der Ankündigung der Oberstudienrätin, diese Frechheiten nicht hinnehmen zu wollen, begegnet Schwarzbach gestisch, indem er den Finger an die Lippen legt und auf die beiden Schreibenden deutet.

Und tatsächlich wäre es eine Sünde, die beiden zu stören, denn hier bricht sich lang Aufgestautes Bahn. Es ist eine Freude, zu sehen, mit welcher Schnelligkeit sich das Papier mit Worten bedeckt, eine Freude, in die sich im Falle des Dozenten auch ein wenig Neid mischt. Denn Schwarzbach ist ein ringender Autor, einer, der seine Texte nur unter Schmerzen gebiert. Mit leisem Seufzen öffnet er den Klapprechner, um sich dem eigenen Werk zu widmen.

Es herrscht tiefer Frieden. Alles fließt. Herma und Heinrich füllen Seite um Seite, was die Oberstudienrätin macht, ist nicht ganz ersichtlich. Jedenfalls raschelt sie in ihren Papieren, was sich harmonisch in die Rattenthematik einfügt. Und doch ist nicht alles so, wie es sein sollte. Der Dozent ist unzufrieden. Er starrt auf den Bildschirm, auf dem ein einsamer Satz geschrieben steht. Der Satz ist nicht so, wie er sein sollte. Der erste Satz aber entscheidet über das Schicksal eines Buches. Er hat eine Schlepperfunktion, soll den Leser in den Text hineinziehen wie in einen Strudel. Geht man in eine Buchhandlung und beobachtet die Leute, so fällt auf, dass praktisch jeder mit der ersten Seite beginnt. Folglich steht und fällt alles mit dem Beginn. Das ist das Wesen erfolgreicher Literatur. Später kann es dann schwächer werden.

So oder so ähnlich hätte es Schwarzbach den Kursteilnehmern erklärt, wenn er dazu eine Gelegenheit gehabt hätte. Sein eigener Anfang ist jedenfalls ein Dreck. Es bedürfte eines anderen Einstiegs, um weiterschreiben zu können, aber welchem? Ihm fällt nichts ein.

Die vorgegebene Zeit ist längst um. An sich hätte er vor zwanzig Minuten unterbrechen und nach der Notwendigkeit einer Verlängerung fragen müssen. Doch wäre es töricht gewesen, die Ruhe der Kampfpause zu stören. Auf der anderen Seite ist es sinnlos, weiter in den Laptop zu starren. Und so ist Schwarzbach erleichtert, als es an der Tür klopft, der Akademieleiter, ohne auf ein „Herein!“ zu warten, eintritt und die Herrschaften dringend ersucht, zum Mittagessen zu kommen.

Die Bitte wird von den Kursteilnehmern schlecht aufgenommen, sie sind über die Störung ungehalten. Herma und Heinrich, weil sie mit der Bannung des väterlichen Dämons noch lange nicht fertig sind, die Oberstudienrätin, weil sie sich bei der Mischung der idealen Fellfarbe ihrer Ratte kurz vor dem Durchbruch wähnt. Sie ist es auch, die ihrem Unmut Luft macht.

Sie sehe nicht ein, sagt sie mit schneidender Stimme, weshalb man als zahlender Gast eines Hauses, das mit Achtsamkeitsversprechen gegenüber schöpferischer Menschen Werbung mache, an strikte Essenszeiten gebunden sei. Der Akademieleiter zeigt sich unbeeindruckt. Es sei kurz nach eins, sagt er, mit dem Finger gegen das Glas seiner Armbanduhr tippend, höchste Zeit, die Küche nehme nach halb keine Bestellungen mehr entgegen. Er könne auch nichts machen, der Schwager des Kochs sei bei der Gewerkschaft, und wenn zu essen gewünscht werde, dann wäre man gut beraten, sich Richtung Speisesaal zu begeben.

Die Oberstudienrätin ist noch nicht fertig. Den tropfenden Pinsel wie eine Waffe gegen Ördög gerichtet, erklärt sie, dass sie sich in dieser Hinsicht ein höheres Maß an Flexibilität erwarte. Andernfalls werde man eben woanders zu Mittag essen. Das glaube er nicht, meint der Leiter. Im vergangenen Jahr habe der Schwarze Bär zugesperrt und der Besitzer der Goldenen Sense … aber das sei kein Essensthema. Jedenfalls gebe es in der näheren Umgebung keine Wirtshäuser mehr, in denen noch warm ausgekocht werde. Selbst die Option auf eine Packung Kekse im Gemischtwarenladen des Dorfes falle flach, weil dieser heute Nachmittag geschlossen habe.

Im Übrigen seien Herrn Schwarzbach die Essenszeiten bekannt gegeben worden. Die Dozenten der beiden anderen Kurse seien mit ihren Teilnehmern auch zur gegebenen Zeit erschienen – alles eine Frage der Einteilung. Dies nur zur Information und der Vollständigkeit halber, und jetzt wäre man gut beraten, sich zu sputen, wenn man daran interessiert sei, vor dem Abendessen noch etwas zu sich zu nehmen.

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