Jenseits von Geborgenheit

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Nach schlecht durchschlafener und unruhig durchträumter Nacht erwachte der zweiundzwanzigjährige junge Mann schon früh, und dies, ohne dass er die Weckeruhr gestellt hatte. Ein Zettel lag daneben: ‘Ist man frei, solange die Diktatur der Uhrzeiger, der Zeit-, Fahr- und Stundenpläne herrscht?’ Der Versuch einer Erinnerung an Einzelheiten des Geträumten war vergeblich und brachte allenfalls das Bewusstsein eines konfusen Umherirrens der Gedanken zuwege. Entgegen des wirklichen Zustandes hatte er sich vorgenommen, gerade zu dieser Stunde noch zu schlafen in Anbetracht der ganz persönlichen Bedeutung des bevorstehenden Tages, dem er sich gefasst hingeben wollte. Liegenbleiben oder aufstehen und den Morgen anbrechen, der ja ohnehin schon in voller Fahrt war, wie das zum Fenster hereinströmende Sonnenlicht, die Geräusche der dicht an dicht fahrenden Autos sowie der kreischenden Straßenbahnen anzeigte?

Er kroch aus der Decke, kam mit eingezogenem Kopf unter der Bettnische hervor, bis er seine Einmeterachtzig aufrichten konnte, drückte den Schalter des Radios - „Du machst mir noch mein Herz zu Schutt ... “ dudelte es ihm zum Gruß - , öffnete das Dachfenster in der Schräge um einen handbreiten Spalt, ließ es einrasten, schob seine Nase nahe heran und sog die noch frische Luft dieses Junitages ein, der wohl wieder so warm wie die letzten Tage zu werden versprach. Im Glas zuckte knackend die aufgehende Hitze. Er peilte die Ziegel entlang und beobachtete über der Kimme seiner Dachrinne die Menschen, die sich an der Haltestelle gegenüber drängten. Die Bahn selbst entzog sich seinen Blicken hinter und unter dem hundert Jahre alten Wohnblock, auf dessen Höhe er dieses Appartement genannte Zimmer mit Schlaf- und Kochnische gemietet hatte, dem unschwer der aus ökonomischen Gründen erfolgte Umbau eines ehemaligen Dachspeichers anzumerken war.

Es war zwischen neun und zehn Uhr, als er es nicht mehr aushielt, dem Radio das Wort abschnitt, sein Fenster herunterzog, die Sonnenbrille einsteckte, das enge Zimmer verließ, den Schlüssel umdrehte, abzog und in seinem Jackett unterbrachte. Die Post, mit der seine frühere Schulfreundin ihren Besuch ankündigte, war in der Innentasche versteckt. Er hatte das kurze Schreiben vorgestern aus dem Briefkasten genommen. Auf der hellfarbenen Sondermarke war der Stempel 12.06.82 - 20 gut zu erkennen. Einige Jahre hatten sie sich nun nicht mehr gesehen. Das Wetter gestattete ihm, die Monatskarte für die Stadtbahn unbenutzt zu lassen. Arbeit, Haushalt, Schule, Kindergarten für die anderen ließen ihn bislang kein bekanntes Gesicht entdecken und es war ihm recht so.

Wo die Straße seiner Wohnung ihren Namen verlor, stieß er auf einen Fußgängerüberweg, vor dem er eine halbe Minute warten musste, während der er stumme Gesellschaft fand, die sich beim Grün der Ampel wie ein Spuk auflöste. Drüben auf der anderen Seite frühstückten einige Leute in einem Straßencafé. Er ging etwa hundert Meter dieser dicht belebten Geschäftsstraße mit dem unpassend lieblichen Namen Mariens hinab, ließ einen Ständer mit Ansichtskarten um dessen Achse drehen - Stadtansichten im Sonntagsstaat - , sah in einer zum Gehweg hin geöffneten Bar ein minderjährig erscheinendes blondes Mädchen mit eingefallenen Augen und kurzem Rock auf dem zu hohen Barhocker offenbar Alkohol trinken. Dornäcker zog einen kleinen Notizblock heraus, schrieb im Gehen: Wie viele leben in steinernen Pfahlbauten und haben das Schwimmen nicht gelernt!

An einem großen Möbelhaus bog er rechts ab und tauchte hinter einem Zeitschriftenkiosk in eine Unterführung ein, nicht ohne einen ernüchterten Blick sowohl über den Markt gedruckter Nacktheit diverser Schattierung als auch über die Börse des atavistischen Hanges zu Gewalt streifen zu lassen. Unten zeigten neben Vitrinenauslagen die Reste alter Wahlplakate verblichene Gesichter, nicht wesentlich unbekannter als noch mit frischer Druckfarbe, da die Person ohnehin etikettiert und programmiert und somit austauschbar schien.

Froh, dem Ungeruch treppauf wieder entrinnen zu können, wurden Augen und Nase von einem Blumenstand getröstet. Kurz entschlossen kaufte Dornäcker drei rote Rosen, die er in Papier gewickelt in die äußere Jackentasche steckte, sodass die verhüllten Köpfe heraus schauten. Auf der vierspurigen Straße gärte der Stadtverkehr. Personenautos, Kombis, Lastwagen, Polizei, Sankas, ein Leichenwagen, Motorräder, Taxis, ein blumengeschmücktes Hochzeitsauto, für manchen zu schnell, für manchen zu spät, alles Blech, oder: die drei Produktionsfaktoren des Glücks - Arbeit, Mensch und Kaufkraft. Die besten Wünsche zur Vermählung, Schwangerschaft und Scheidung, Drogen, Macht, Geschwindigkeits- und andere Räusche, Träume in Narkose unterm Messer, ein traurigschönes Begräbnis der Besinnlich- und Gelassenheit.

Eine kurze Strecke weiter nahm ihn linker Hand ein überbauter Durchgang auf, der an einem Kino vorbeiführte. Er warf die zerknautschte, nicht mehr lesbare Eintrittskarte zum letzten Film (ein Western ... wie hieß der Titel noch ...?), die seine Finger aus der Hosentasche gruben, zu Boden. Eine Tür weiter das Schild eines Psychotherapeuten, Medizinmann der im Dschungelkrieg Gescheiterten. Die Treppe am Ende der Schneise hinabzusteigen bedeutete die Zuflucht in einer Fußgängerzone, von deren Gewühl er sich willig verschlucken ließ. In einem Buchladen murmelte er auf höflich bestimmte Fragen der Verkäuferin etwas von „Umschauen ...“ und stöberte interessiert und unkonzentriert zugleich in den Regalen und Auslagen, ohne zu beabsichtigen, etwas Kaufwürdiges zu finden, was ihm beim Hinausgehen die Verweigerung eines Abschiedsgrußes sowie unfreundliche Blicke eintrug.

Der kürzeste Weg zum Bahnhof wäre nun gewesen, die Seitenstraße hinaufzugehen, wo von oben der Ausschnitt ihrer Einmündung die Leinwand für das Geschehen auf der Königstraße abgab. Jene endete am Schluss aller eisernen Wege von draußen. Die Uhrzeit in Betracht ziehend blieb er jedoch unterhalb auf einer Parallelstraße und schlenderte in Richtung Marktplatz weiter, umströmt von menschentragenden Feldlinien. Masken als Gesichter, versteckte Seele - aber welche? - , unterm Kulissentuch die Menschlichkeit und Sehnsucht nach ein wenig Liebe wie die Wut zum Hass.

Er war im geschäftstüchtigen Herzen der Stadt, in dem fast alle Waren und beinahe alle Dienstleistungen käuflich zu erwerben waren, lapidar bekräftigt durch den tristen Anblick des Bordells in einer Seitengasse. Das Verschwinden einiger Kunden im Kaufhaus für sexuelle Bedürfnisse verriet ihm, dass es elf Uhr gewesen war. Die Sonne stand nun fast im Süden, während er gedankenverloren an einer Telefonzelle (‘Ruf doch mal an!’ „Wieviele wissen, wem?“) und am Rathaus vorbei („Guter Rat ist teuer, sagt man. Doch auch Ratlosigkeit kann teuer zu stehen kommen. Und was ist letzten Endes nicht ein Rätsel?“) mit der Hitze im Rücken quer über den Marktplatz ging, zwischen Ständen hindurch mit rufenden Landfrauen und antwortenden Käufern. Im Hintergrund lockten ein Eis- und ein Luftballonverkäufer. Vor einigen Wochen war ein Ballon bei einem Wettbewerb dank des anhaltenden Westwindes bis nach Prag geflogen. Er blieb im Schatten einer Würstchenbude stehen, sich überlegend, womit er den eventuellen Hunger auf ein Mittagessen vorbeugend überlisten konnte. Eine erste Erinnerung schob sich vor den Anblick eines zu stark gegrillten Angebotes, dessen mangelnde Vielfalt keine große Auswahl zuließ …

Und noch mal gerammt! Mit Kreischen hob es im Voraus die Mädchen schon vom Sitz. Der kindisch kindliche Spaß hatte Narrenfreiheit. Unterm elektrischen Gitternetz zogen Funken schlagend Stromabnehmer ihre gewollt konfusen Bahnen. Das leuchtfarbene Bullauge voraus steuerte Lil neben ihrer Freundin Tanja das Gefährt auf der Flucht vor Albert und dessen Schulfreund. Mitten im Regen aus sehr lauter Musik setzte ein unsichtbarer Griff zum Schalter dem gummigesicherten Chaos ein Ende, und die vier Jugendlichen verließen nach der fünften Fahrt das metallene Geviert der Autoscooter und tauchten in die lustlose, obligat lustige Menge ein, sich ungeduldig durch deren zähen Fluss weiterkämpfend, stehen bleibend, sich zurufend: „Haltet mal, schaut hier ...!“

An einem Lotteriestand gewann Lil einen kitschigen Anhänger, der ihr sogleich von Tanja abgeschwatzt wurde: „Passt gut zu meinen roten Fingernägeln, oder etwa nicht?“

Lil gab sich großzügig. „Meine Mutter will mir so etwas erst erlauben, wenn ich nächstes Jahr konfirmiert bin. Wenn du also möchtest ... ! Und du, Albert?“

Vom aufgerollten Los rezitierte dieser: „Gut verloren ist auch gewonnen! ... Na ja, was soll’s ...“

Der andere Junge spendierte den jungen Damen eine Tüte Magenbrot und ließ Albert einiges von seinem ab. „Dieses Mal haben wir mehr Glück mit dem Wetter. Wisst ihr noch? Das vorige Frühlingsfest: Die ganze Woche hat es geregnet.“

Dann kokettierten die Mädchen vor der Geisterbahn, indem sie kategorisch erklärten: „Da bringt uns keiner hinein!“ Worauf die Jungen sie zur Kasse zogen, alle einen Stempel auf die Hand gedrückt bekamen und auf zwei kleine Wagen verteilt wurden. Die Lust am befreiten Schreien wurde ausgekostet, auch wenn sich draußen Zuhörer an der Lautsprecherübertragung belustigten, anregen ließen, manche gar einen leichten Schauer im Nacken spürten.

Zur Beruhigung der Nerven brauchte anschließend jeder ein Tüteneis, das in Balance zu halten im Gedränge keine leichte Aufgabe war und einen beschleunigten Genuss angeraten sein ließ. Ein paar Muskelprotze, oder solche, die es gerne gewesen wären, hauten verbissen den ‚Lukas’, und die beiden Jungen gerieten in den Zwiespalt, zuschauen zu wollen und doch die Aufmerksamkeit der Mädchen nicht allzu sehr gefangen nehmen zu lassen. Eine Einladung zum Fliegen im Kettenkarussell war die rettende Idee. Und wenn auch alle Versuche, den Mädchen am Schießstand als Schützen zu imponieren, zu nichts weiterem als der Beute in Gestalt eines Federwischs zum Anstecken führte, so wurde im folgenden auf der Schiffschaukel der Beweis erbracht, dass Geschicklichkeit und Ausdauer sehr wohl Kraft ersetzen können, wofür die Steigerung der Angst bei den Mädchen, je höher es ging, beredt zeugte.

 

Die einerseits psychische, andererseits physische Erschöpfung machte nun allen vier mehr und mehr zu schaffen, und sie folgten den Spuren, welche die sämtliche Lautsprecher übertönende Blasmusik akustisch legte, zum großen Bierzelt. Ungeachtet eventueller Risiken trank das Quartett je ein Bier, auch die Szenen einiger zeitig Betrunkener konnten nicht abschrecken, allenfalls erheitern. Dennoch wurde zwar der Durst gelöscht, aber es deuteten sich gewisse Unsicherheiten an, im Verein mit der Neigung, mehr Dinge als nötig komisch zu finden. Sie ließen sich auch von einem ruppig-fremden „Passt doch auf, ihr Gören!“ nicht in ihrem Übermut stören.

Die Heraufsetzung der Mutschwelle brachte nun eine Diskussion in Gang, ob der Rest des Geldes ins Riesenrad oder die Achterbahn investiert werden sollte. Das Wort der Jungen entschied zugunsten der letzteren. Ein flaues Gefühl im Magen rührte nicht oder nicht nur von der Vorahnung folgender dieses Organ besonders in Mitleidenschaft ziehender Einwirkungen, sondern eher von der nicht vorhandenen Grundlage, dem Alkohol ein rechtes Wirkungsfeld zu geben.

So bestiegen die vier erst nach dem Verzehr einer heißen Roten mit Senf und Wasserwecken und der Ausgabe ihrer letzten zusammengekratzten Münzen gemeinsam den Reitsitz eines Wagens. Dieser zog an, wurde von einer Kette zur Höhe gebracht und ausgeklinkt. Sie erlebten den freien Sturz des Fallschirmspringers, innere Organe unterlagen als Ruhemasse der Trägheit und blieben stehen, der Hals ging drüber weg, ein Gegenwind fegte alle Schreie fort nach hinten, potentielle Energie wandelte sich kinetisch um, die Hand umkrampfte den Haltegriff. Beschleunigung per Talfahrt, hingeklatscht am nächsten Hang zum Himmel, die Verzögerung von kurzer Dauer, umgeschleudert in der Zentrifuge und ab ins Loch, vorne Albert, schau voraus, zwei Mädchen in der Mitte, die Welt im Veitstanz, ‘My little baby, you are so crazy’, dem Lautsprecher ging die Membran über, Achtung Kurve, Gefälle dreißig Prozent, mit Schwung in den Auslauf, hart gebremst.

Ein Helfer eilte herbei, die nächsten Gäste warteten wie üblich vorne schon, und lauthals eh er bei den Mädchen war: „O Mann, konntest du’s nicht noch für zehn Meter bei dir halten? Verfluchte Schweinerei ...!“ Albert hing im schnell versuchten Sprung halb drin, halb draußen, über Bord gekrümmt, ausgekröpft die gallige Nachhut …

Dornäcker ließ sich eine Papierschale voll Pommes frites mit Ketchup reichen, verlangte von letzterem noch etwas nach und steckte sich im langsamen Dahingehen ein ums andere Kartoffelstäbchen in den Mund, nachdem er es in den roten Breihügel am Rand der Schale gespießt hatte. Merkte sodann stirnrunzelnd, dass einige der Stückchen schwarz waren und angebrannt schmeckten …

Albert Dornäckers Mutter hatte, einmal des Alleinseins überdrüssig, den Verfasser einer Annonce, die nach einer ersten verabredeten Begegnung im Park reale und durchaus positive Gestalt annahm, zu einem Essen aus eigener Küche eingeladen, sich des Risikos wohlbewusst, unter Umständen eine investitionsträchtige kulinarisch-erotische Niete gezogen zu haben. Die Hauptlast der Verantwortung in diesem Scharmützel lag bei der Mutter, deren höchsteigene Kochkunst angestrengt anstrengende Rhetorik unnötig werden lassen sollte. Hierbei durfte man sich durch keinen außerfamiliären, wenn auch hilfreich gemeinten Eingriff die Möglichkeit nehmen lassen, mit Stolz auf eigene Fähigkeiten und vor allem persönliche Widmung und Hingabe zu verweisen. Kochen sei wie Musizieren: das gleiche Rezept und die gleichen Noten geraten bei jedem zu einem persönlichen Mahl oder Spiel. Das bemüht zwanglose Gespräch würde schon auf eine irgendeine unvorhersehbare Weise den richtigen Weg zum rechten Thema finden.

Die Bedeutung des Abends, dem der Eingeladene für Freitag zugestimmt hatte, warf Schatten in Gestalt einer sich steigernden Nervosität besonders der Mutter voraus, wodurch die gesamte häusliche Atmosphäre befangen war. Kochbücher der Nachbarn wurden neben den eigenen zur Planung herangezogen. Aus diesen sowie aus verschiedenen Zeitschriften nahm die Mutter die Bausteine für die Kombination eines Menüs, das die vorausgegangene Ankündigung an den zu erwartenden Gast erfordert hatte, nur nach leichter Tageskost die Runden der aufgetragenen Gänge zu überstehen.

Zwei Tage vorher hatte die Mutter bei ihrem Metzger vorbestelltes, gut abgehangenes Hasenfleisch besorgt, dem sie seine sieben Häute abzog, bis es freilag. Mit Hingabe bereitete sie eine Beize aus Buttermilch mit Nelken, Lorbeerblättern, Pfefferkörnern, Wacholderbeeren, einer Zwiebel, schließlich Knoblauch, worin das Fleisch sich einer Geschmacksmetamorphose unterziehen sollte. Dieses Kleinod ruhte vorläufig im Kühlschrank und ließ dem gewohnten Leben seinen Gang.

Mit seinen siebzehn Jahren konnte der junge Mann noch nicht den rechten Sinn für die Bedeutung des kommenden Ereignisses entwickelt haben, was sich in manch ironischer Kritik andeutete, wofür wiederum seine Mutter kein Verständnis hatte. Dennoch akzeptierte ihr Sohn Albert den Anspruch, die ganze Sache mit dem nötigen Ernst zu nehmen, als Gegebenheit und brachte dies als persönliches Opfer zugunsten des beiderseitigen Verhältnisses fairerweise ein. Er zeigte sich gerne bereit, zur Hand zu gehen, wenn es seine Mutter von ihm wünschte und sofern ihm Schule und Hausaufgaben dafür Zeit ließen. Seine eigenen Freizeitinteressen hintanzustellen, wenn es um höhere, doch zeitlich überschaubare Ziele ging, war Ehrenpflicht.

Noch am Freitagnachmittag durchstreifte er die Stadt, um in den damals noch wenigen Spezialgeschäften einige Honigmelonen, eine Kokosnuss sowie frische Weintrauben zu erstehen, Ingredienzien für den ersten Gang, Auftakt und Anregung: einen Melonencocktail. Die Zutaten für eine Froschschenkelsuppe nach Elsässer Art, die danach folgen sollte, waren von der Mutter bereits in Vorrat genommen.

Sie hatte am Nachmittag für den Rest des besonderen Tages Urlaub beantragt, und der Gast war, um Pünktlichkeit gebeten, für neunzehn Uhr eingeladen. Die Uhr zeigte jetzt siebzehn Uhr dreißig. Alle notwenigen Einkäufe waren am Tage getan, der Tisch schon gedeckt. Die kulinarische Bereitstellung trat in ihre entscheidende Phase. Das Hasenfleisch durfte aus der Beize geholt, abgetrocknet und rundum mit Speckstreifen eingewickelt werden. Der Backofen war auf zweihundertfünfzig Grad vorgeheizt und nahm den Braten, in eine Fettfangschale gelegt, auf. Es war siebzehn Uhr vierzig.

Der Sohn hatte die Kokosnuss geöffnet, sodass die Mutter mit den nun von ihr bereiteten Kokosraspeln an die Fertigstellung der Früchtevorspeise gehen konnte. Dies war um siebzehn Uhr fünfzig geschafft. Inzwischen legte sich am Braten etwas brauner Satz an, weshalb der Ofen kurz geöffnet werden musste, damit ein Achtelliter Weißwein neben Pilzen und den Gewürzen aus der Beize zugegeben werden durften. Noch ein Schuss Wasser, und die Ofenhitze übernahm wieder ihre Aufgabe. All das war in wenig Zeit geschehen, während die nächsten zwanzig Minuten von der Zubereitung einer bunten Salatplatte ausgefüllt waren, wobei die Arbeit hauptsächlich im Anrichten und Abschmecken der verschiedenen Salatsorten bestand, da das Reinigen, Schälen, Zerpflücken und Raspeln zum größten Teil bereits vorweggenommen war.

Gegen Viertel nach sechs wurde die Komposition des Desserts ins Auge gefasst: einer Schwarzwälder Creme aus Schokoladenpudding mit Sauerkirschen, Kirschwasser, süßer Sahne und Vanillesauce, das Ganze mit einem Tropfen Rumaroma abgerundet und anschließend kaltgestellt. Achtzehn Uhr dreißig.

Nun war es Zeit, an die Suppe zu denken. Die Mutter löste das Muskelfleisch von den Knochen der Froschschenkel, schnitt es zusammen mit einigen überbrühten Tomaten und einer Zwiebel in grobe Stücke. Nachdem sie einen Würfel Kräuterbutter im Topf erhitzt hatte, schob sie das Geschnittene in das Flüssige, löschte es mit Cognac ab und flambierte die Mischung. Anschließend kam eine heiße Brühe darüber, und hierein legte sie einen Leinenbeutel mit Majoran, Thymian, Basilikum, Koriander und grobem Pfeffer, dazu ein Lorbeerblatt und eine Nelke.

Indessen war der Braten gar, wurde aber noch nicht herausgenommen, sondern erhielt einen Guss saurer Sahne und sollte zehn weitere Minuten im Ofen verharren. Gleichzeitig setzte die Mutter als hausfrauliche Sterneköchin für zwei Personen Nudeln auf, das einzige Zugeständnis an die übliche, nämlich rationellere Weise, zu kochen. Und nachdem die Suppe genügend unter Dampf gestanden hatte, wurden die Gewürze entfernt, zum rechten Schluss noch ein Eigelb sowie Sahne eingerührt. Suppe, Nudeln und Braten konnten jetzt für kurz oder länger, schwach oder stärker ihrer Temperatur überlassen werden, während die Hausfrau sich ihrer Toilette als Dame des Hauses widmen durfte; zuvor ihrem Sohn die Bitte hinterließ, nur ja den Braten in „Sagen wir ... fünf Minuten!“ herauszunehmen, zugleich die Herdplatte unter der Suppe auszuschalten, indessen sie zum Abschöpfen der Nudeln wieder zur Stelle sein wollte.

Aus dem Keller des großelterlichen Hofes, wo der Großvater ein zusätzliches Ziegelgewölbe eingebaut hatte, unter dem sein ganzer Stolz: wertvoller, abgelagerter Wein ruhte - dort unten war lautes Sprechen untersagt, weil die Schallwellen sonst vielleicht die kostbare Flüssigkeit verdorben hätten - , waren Tage zuvor von Albert zwei Flaschen Auslese entführt worden, die als späte Krönung des Abends kredenzt werden sollten.

Als es an der Wohnungstüre läutete, verließ der Sohn überrascht von dem Zeitpunkt seinen Aufsichtsposten an der Herdfront, ohne eine Veränderung vorzunehmen, da er nach dem Öffnen nur den Gast hereinlassen musste, der vermutlich zu früh erschienen war. Draußen stand jedoch Lil, die mit „Grüß dich, Albert! Kommst du morgen Abend mit zu den Rolling Stones in die Halle? Das darfst du dir doch auf keinen Fall entgehen lassen! Ich könnte noch ein paar super Karten erhalten. Bingi, Frank und Kurt gehen auch ... “ seine Pflichtenkreise störte. „Wann geht’s denn los?“ Mit Lil war er schon oft in Konzerten dieser Art gewesen, und er wusste ihr Angebot durchaus zu schätzen. Die Erinnerungen an gemeinsam erlebte musikalische Höhepunkte geisterten durch das Gespräch.

Ein Auto hielt vor dem Haus. „O je, komm rein! Ich hab was vergessen ...“ rannte Albert vorweg in die Küche. Dort stand seine Mutter im Abendkleid vor dem offenen Backofen über den Braten gebeugt und drückte sprachlos ihr Entsetzen, ihre Verzweiflung, Enttäuschung und Wut über das geschehene Unheil aus ...

Albert Dornäcker verließ das Marktplatzareal und schüttelte erstaunt den Kopf über sich selbst und seine gefälschte Erinnerung, die er sogleich korrigierte: Als Lil hinter ihm die Küche betreten und die Nase mit einem „Hm, hier duftet es ja himmlisch! So möchte man alle Tage irgendwo empfangen werden ... “ hereingestreckt hatte, war auch die Mutter hinzugetreten, dem Sohn halb ernst, halb scherzend die Haare zausend: „Auf die jungen Leute ist doch kein Verlass. Ich dachte, ich schau lieber selbst nach dem Rechten. Und tatsächlich, der Herr Sohn war verschwunden. Aber der Braten sieht herrlich aus. Der Besuch mag kommen! Und ihr beiden geht am besten miteinander ins Kino. Hier habt ihr etwas dazu ...“

Zur Rechten lag nun das wuchtige Renaissanceschloss, während Albert Dornäcker über den freien Platz - vorbei an der Dichterstatue Schillers in dessen Zentrum - gehend sich bewusst war, dass er über einigen hundert Autos in einer unter ihm ausgehöhlten Tiefgarage dahinschritt. Und beiläufig bemerkte er an der Auf- und Ausfahrt zur Straße neben dem Schloss drei Männer sich abmühen, ein Fahrzeug ans Tageslicht zu bringen, das in der Blechgruft gestreikt hatte. Am Straßenrand wurde die Motorhaube geöffnet und drei Köpfe versenkten sich weissagend dahinter. Seine eigenen Erfahrungen mit einer zumeist öligen Kunst der Motorentechnik und -mechanik lagen einige Jahre zurück und waren ohnehin nur sporadischer und zugleich recht begrenzter Natur, geboren aus dem Verlangen, während einer tristen Winterferienzeit, welche kaum Schnee brachte, die finanzielle Basis zum besseren Auskosten der Ferien in wärmeren Jahreszeiten zu legen …

Lil und er - wer in wessen Schlepptau, wusste er später nicht mehr genau zu sagen - versuchten ihr Glück bei verschiedenen größeren Firmen, wurden abgewiesen, es sei leider Wintersaison, kein Bedarf wegen der vielen Feiertage, kurzum keine Arbeit zu vergeben. Bis sie doch noch an eine Kraftfahrzeugwerkstätte gerieten, die eine große Halle mit einem Dutzend Hebebühnen besaß. Die vielen Autos auf dem Vorhof harrten ihrer ungeduldigen Besitzer.

 

„Tja, das Mädchen könnte ich schon brauchen ... Botengänge durchführen, mit Auftragskarten zwischen Bürohaus und Werkhalle zum Beispiel ... Aber Sie, junger Mann ...?“ Der Chef machte auf bedauernd. „Ohne meinen Freund möchte ich eigentlich auch nicht, wissen Sie!“ Lils sanfter Erpressungsversuch war ihr eigenes Risiko. Die Pupillen über den Tränensäcken des älteren Mannes hinterm Schreibtisch ruhten auf Lils aufrecht stehenden mit Hose und Pullover eng gekleideten Körper, und Albert Dornäcker fühlte sich nicht sonderlich wohl, als er augenzwinkernd „So’n raffiniertes Weib, na ja, den bringen wir schon irgendwie unter!“ als Anhängsel dabei sein durfte.

Und an den folgenden Tagen tauchte Albert allmorgendlich im Blauen Anton, geliehen, pünktlich in der Werkhalle unter, wo im fahlen Kunstlicht die schon abends eingefahrenen Kandidaten warteten, um von Eis- und Schneekufen abgeschmolzen hydraulisch hochgehoben zu werden und Operationen an Teilen hinter deren Tauchlackkulisse zu erdulden. Er versank in der ihm nach und nach erträglich gewordenen Geruchspalette aus Kohlenwasserstoffdestillaten, Acetylen und Farbe.

Lil sah er nach der Trennung im morgendämmrigen Vorhof tagsüber nur wenig. Einige Male erschien sie mit einem kleinen Stoß Karten von der Auftragsannahme und empfing vom Meister einen ebensolchen für das Rechnungsbüro, nicht ohne Albert von weitem gesucht, gefunden und zugenickt zu haben. Und er, je öliger, zerzauster, stinkender, desto stolzer, erwachsener, würdiger fühlte er sich.

Seine Begegnungen mit Zylinderköpfen, Kolben, Ventilen, Kurbel-, Nocken- und Kardanwelle, Getriebe und Differential blieben zwangsläufig distanziert und provisorisch. Von Arbeitsplatz zu Arbeitsplatz weitergereicht überließ man ihm die Nachprüfung des Säurestandes in der Batterie, Wasservorrates im Kühler, Reifendrucks, Sitzes der Innenverkleidung, wohl auch hie und da das Entrosten von Leitungen oder Bürsten der Zündkerzenelektroden („Zur Übung!“ hieß es, als er die Zündkerzen im Abfall wiederfand), das Reinigen oder Austauschen des Filters, einen Ölwechsel und als Krönung das Ausputzen des Vergasers älterer Modelle, wozu er diesen ausbauen und zerlegen musste.

So hatte er sich nach einigen Tagen den Ruf eines anstelligen, zuverlässigen Gehilfen erworben, und er bekam vom gemeinsamen Vesper das eine oder andere wohlmeinend gereichte Stück Wurst etwa, die Senftube hinterhergestreckt und draufgedrückt: „Nun beiß mal zu und lass es dir schmecken!“, worauf ihm der Meerrettich die Schweißperlen an den Haarwurzeln austreten ließ.

Seine erste wöchentliche Lohntüte hatte er nach Hause gebracht, und nach den Feiertagen war er mit Lil und einem regnerischen Morgen, der die Dunkelheit noch dunkler machte, wieder zur Stelle. Hatte er sich in der ersten Stunde mit Schwimmer und Drosselklappe beschäftigen dürfen, sollte er nun die Räder von vorne nach hinten und umgekehrt wechseln. Kurz vor der Frühstückspause war der Wagen gerade noch eines Rades amputiert, als zum einen der Meister an den verantwortlichen Mechaniker herantrat: „Der Besitzer ist da und drängt. Er will wegfahren, in irgend so ein Skigebiet. Wie weit seid ihr denn?“ und der Mechaniker: „Ich wär soweit fertig, der Junge muss nur noch das Rad anschrauben. Na lass mal, ich mach das schon!“ darauf reagierte. Albert wehrte ab: „Ich hab’s gleich!“ und das Gespräch der beiden andern floss weiter.

Zum andern betrat Lil die Halle, den Meister suchend. Gab ihm die Karten, er gab ihr eine davon zurück, mit der Hand auf einen gegenüber liegenden Arbeitsstand weisend, wo ein junger Mechaniker sich die Hände an einem Knäuel Werg putzte. Albert Dornäcker beobachtete von der anderen Seite unter dem Auto hindurch, während er die Felge an die Schrauben hängte, und sah, wie der Mensch dort drüben sich neben das Mädchen stellte, den Rücken ihm zugekehrt, und seinen Daumen die hintere Hosennaht von Lils Jeans entlang zog bis zum Schenkelschluss. Und er stand auf, griff nach einem schweren Mutternschlüssel vom Werkzeugwagen, schlich mit unsicher wütenden Schritten hinüber. Schnappte empört auf: „Püppi, trägst du deine Unschuld in der Handtasche herum?“, hob den Schlüssel, bekam von hinten zugerufen: „Bist du fertig?“, hörte abwesend, atmete auf, als sich Lil alleine freimachte, musste sich noch von dem andern sagen lassen: „Was gibt’s zu glotzen, werd erst mal trocken, du Spanner!“ Stolperte der kopfroten Lil nach, hörte hinter sich das herabgelassene Auto nach draußen fahren und erschrak im voraus.

Sekunden danach hörte er wie alle anderen den Schlag bis in die Halle herein, und aus drei durcheinander schreienden Stimmen rief die eine ihn, nur ihn, die unleidig gelittene Zugabe. Und er wusste, dieses Wochenende würde es keine Lohntüte geben, für beide nicht.

Dornäcker steckte sich die letzten Pommes frites in den Mund, warf den Pappteller in den Abfallkorb vor einer Gaststätte, schüttelte den Kopf und fragte in sich hinein, während er die Straße überquerte, warum der Mechaniker nicht doch noch vorsichtshalber die Muttern nachgezogen hatte. Er sah wohl den bereits recht nahen Stadtbus, der mit beachtlicher Geschwindigkeit die Haltestelle fünfzig Meter weiter links anfuhr, hätte in Ruhe warten können und müssen wie all die andern Fußgänger auch, sprang dennoch um einen Augenblick an der Front des Busses vorbei, das zornige Hupen des erschrockenen Fahrers und das verständnislose Kopfschütteln der Leute im Rücken …

Seit jeher war der Jahresausflug des Gymnasiums für die gesamte Mittelstufe auf denselben Tag angesetzt worden. Aus organisationsökonomischen Gründen, pflegte der Direktor als Apologie gegen den Vorwurf der Busunternehmer, sie würden dadurch in fahrplantechnische Schwierigkeiten gebracht, in Feld zu führen. Für die Schüler konnte dies zum unnachgiebig verordneten Massenreinfall wie zum kollektiven Hochvergnügen geraten, je nach Wetterlage. In jenem Jahr, da Albert Dornäcker fünfzehn geworden war, fiel der Schicksalstag mit einer recht vielversprechenden meteorologischen Konstellation zusammen.

Treffpunkt war die Schule, sechs Uhr morgens: Eine lange Phalanx älterer, neuer, kleinerer und großer Busse wartete auf den von den einzelnen Lehr- und Begleitpersonen mehr oder weniger gebändigten Ansturm der - um subjektiv für gut befundene Plätze besorgten - Schülerinnen und Schüler. Die Sonne stand noch nicht hoch, und aus einsamen, unsicher drei Schritte vor und zurück gehenden, verlegenen, weil offenbar zu früh Gekommenen waren nach und nach Gruppen gewachsen, deren Größe in direktem Verhältnis zur Heiterkeit stand, die sich entfaltete. Das Erscheinen des Lehrers bedingte nur eine kurze, allenfalls verhalten Respekt andeutende Unterbrechung. So auch, als der ältere untersetzte kahlköpfige Herr eintraf, von den Fünfzehnjährigen mit dem aus distanzierter Ironie und zugestandener Autorität gemixten Titel ‚Opa’ bedacht.

In einer Gruppe lautstarker Jungen Witze austauschend, nahm Albert Dornäcker die Ankunft Lils wahr, und er behielt sie, die sich mit den anderen Mädchen über zumeist unnötige Utensilien unterhielt, die man mitgenommen oder mitbekommen hatte, um am Abend unbeschadet an Leib und Seele nach Hause zurückzukehren, im Auge.

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