Wachtmeister Studer / Вахтмистр Штудер. Книга для чтения на немецком языке

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Из серии: Kriminalroman
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Der Fall Wendelin Witschi zum ersten

»Ihr seid…« (Räuspern.) »Ihr seid der Wachtmeister Studer?«

»Ja.«

»Nehmt Platz.«

Der Untersuchungsrichter war klein, mager, gelb. Sein Rock war über den Achseln gepolstert und von lilabrauner Farbe. Zu einem weißen, seidenen Hemd trug er eine kornblumenblaue Krawatte. In den dicken Siegelring war ein Wappen eingraviert – der Ring schien übrigens alt.

»Wachtmeister Studer, ich möchte Euch sehr höflich fragen, was Ihr Euch eigentlich vorstellt. Wir kommt Ihr dazu, Euch eigenmächtig – ich wiederhole: eigenmächtig! in einen Fall einzumischen, der…«

Der Untersuchungsrichter stockte und wußte selbst nicht weshalb. Da saß vor ihm ein einfacher Fahnder, ein älterer Mann, an dem nichts Auffälliges war: Hemd mit weichem Kragen, grauer Anzug, der ein wenig aus der Form geraten war, weil der Körper, der darin steckte, dick war. Der Mann hatte ein bleiches, mageres Gesicht, der Schnurrbart bedeckte den Mund, so daß man nicht recht wußte, lächelte der Mann oder war er ernst. Dieser Fahnder also hockte auf seinem Stuhl, die Schenkel gespreizt, die Unterarme auf den Schenkeln und die Hände gefaltet…

Der Untersuchungsrichter wußte selbst nicht, warum er plötzlich vom ›Ihr‹ zum ›Sie‹ überging.

»Sie müssen begreifen, Wachtmeister, es scheint mir, als hätten Sie Ihre Kompetenzen überschritten…« Studer nickte und nickte: natürlich, die Kompetenzen!… »Was hatten Sie für einen Grund, den Eingelieferten, den ordnungsmäßig eingelieferten Schlumpf Erwin noch einmal zu besuchen? Ich will ja gerne zugeben, daß Ihr Besuch höchst opportun gewesen ist – das will aber noch nicht sagen, daß er sich mit dem Kompetenzbereich der Fahndungspolizei gedeckt hat. Denn, Herr Wachtmeister, Sie sind schon lange genug im Dienste, um zu wissen, daß ein fruchtbares Zusammenarbeiten der diversen Instanzen nur dann möglich ist, wenn jede darauf sieht, daß sie sich streng in den Grenzen ihres Kompetenzbereiches hält…«

Nicht einmal, nein, dreimal das Wort Kompetenz… Studer war im Bild. Das trifft sich günstig, dachte er, das sind die Bösesten nicht, die immer mit der Kompetenz aufrücken. Man muß nur freundlich zu ihnen sein und sie recht ernst nehmen, dann fressen sie einem aus der Hand…

»Natürlich, Herr Untersuchungsrichter«, sagte Studer und seine Stimme drückte Sanftmut und Respekt aus, »ich bin mir bewußt, daß ich wahr- und wahrhaftig meine Kompetenzen überschritten habe. Sie stellten ganz richtig fest, daß ich es bei der Einlieferung des Häftlings Schlumpf Erwin hätte bewenden lassen sollen. Und dann – ja, Herr Untersuchungsrichter, der Mensch ist schwach – dann dachte ich, daß der Fall vielleicht doch nicht so klar liege, wie ich es anfangs angenommen hatte. Es könnte möglich sein, dachte ich, daß eine weitere Untersuchung des Falles sich als nötig erweisen würde und daß ich vielleicht mit deren Verfolgung betraut werden könnte, und da wollte ich im Bilde sein…«

Der Untersuchungsrichter war sichtlich schon versöhnt.

»Aber, Wachtmeister«, sagte er, »der Fall ist doch ganz klar. Und schließlich, wenn dieser Schlumpf sich auch erhängt hätte, das Malheur wäre nicht groß gewesen – ich wäre eine unangenehme Sache los geworden und der Staat hätte keine Gerichtskosten zu tragen brauchen…«

»Gewiß, Herr Untersuchungsrichter. Aber wäre mit dem Tode des Schlumpf wirklich der ganze Fall erledigt gewesen? Denn daß der Schlumpf unschuldig ist, werden auch Sie bald herausfinden.«

Eigentlich war eine derartige Behauptung eine Frechheit. Aber so ehrerbietig war Studers Stimme, so zwingend heischte sie Bejahung, daß dem Herrn mit dem wappengeschmückten Siegelring nichts anderes übrig blieb, als zustimmend zu nicken.

Mit braunem Holz waren die Wände des Raumes getäfelt, und da die Läden vor den Fenstern geschlossen waren, schimmerte die Luft wie dunkles Gold. »Die Akten des Falles«, sagte der Untersuchungsrichter ein wenig unsicher.

»Die Akten des Falles… Ich habe noch nicht recht Zeit gehabt, mich mit ihnen zu beschäftigen… Warten Sie…«

Rechts von ihm waren fünf Aktenbündel übereinander geschichtet. Das unterste, das dünnste, war das richtige. Auf dem blauen Kartondeckel stand:

SCHLUMPF ERWIN

MORD

»Leider«, sagte Studer und machte ein unschuldiges Gesicht. »Leider hat man in letzter Zeit ziemlich viel von mangelhaft geführten Untersuchungen gehört. Und da wäre es vielleicht besser, wenn man sich auch bei einem so klaren Fall mit den notwendigen Kautelen umgeben würde…«

Innerlich grinste er: Kommst du mir mit Kompetenz, komm ich dir mit Kautelen.

Der Untersuchungsrichter nickte. Er hatte eine Hornbrille aus einem Futteral gezogen, sie auf die Nase gesetzt. Jetzt sah er aus wie ein trauriger Filmkomiker.

»Gewiß, gewiß, Wachtmeister. Sie müssen nur bedenken, es ist meine erste schwere Untersuchung, und da wird mir natürlich Ihre Kompetenz in diesen Angelegenheiten…«

Weiter kam er nicht. Studer hob abwehrend die Hand.

Aber der Untersuchungsrichter beachtete die Bewegung nicht. Er hatte zwei Photographien in der Hand und reichte sie über den Tisch:

»Aufnahmen des Tatortes…«, sagte er.

Studer betrachtete die Bilder. Sie waren nicht schlecht, obwohl sie von keinem kriminologisch geschulten Fachmann aufgenommen worden waren. Auf beiden sah man das Unterholz eines Tannenwaldes und auf dem Boden, der mit dürren Nadeln übersät war – die Bilder waren sehr scharf –, lag eine dunkle Gestalt auf dem Bauch. Rechts am kahlen Hinterkopf, schätzungsweise drei Finger breit von der Ohrmuschel, gerade über einem dünnen Haarkranz, der zum Teil den Rockkragen bedeckte, war ein dunkles Loch zu sehen. Es sah ziemlich abstoßend aus. Aber Studer war an solche Bilder gewöhnt. Er fragte nur:

»Taschen leer?«

»Warten Sie, ich habe hier den Rapport vom Landjägerkorporal Murmann…«

»Ah«, unterbrach Studer, »der Murmann ist in Gerzenstein. So, so!«

»Kennen Sie ihn?«

»Doch, doch. Ein Kollege. Hab ihn aber schon viele Jahre nicht gesehen. Was schreibt der Murmann?«

Der Untersuchungsrichter drehte das Blatt um, dann murmelte er halbe Sätze vor sich hin. Studer verstand:

»… männliche Leiche auf dem Bauche liegend… Einschuß hinter dem rechten Ohr… Kugel im Kopf stecken geblieben… wahrscheinlich aus einem 6,5 Browning…«

»In Waffen kennt er sich aus, der Murmann!« bemerkte Studer.

»…Taschen leer…«, sagte der Untersuchungsrichter.

»Was?« ganz scharf die Frage. »Haben Sie zufällig eine Lupe?« Alle Höflichkeit war aus Studers Stimme verschwunden.

»Eine Lupe? Ja. Warten Sie. Hier…«

Ein paar Augenblicke war es still. Durch einen Spalt der Fensterläden fiel ein Sonnenstrahl gerade auf Studers Haar. Schweigend betrachtete der Untersuchungsrichter den Mann, der da vor ihm hockte, den breiten, runden Rücken und die grauen Haare, die glänzten, wie das Fell eines Apfelschimmels.

»Das ist lustig«, sagte Wachtmeister Studer mit leiser Stimme. (Was, zum Teufel, ist an der Photographie eines Ermordeten lustig! dachte der Untersuchungsrichter.)

»Der Rock ist ja ganz sauber auf dem Rücken…«

»Sauber auf dem Rücken? Ja, und?«

»Und die Taschen sind leer«, sagte Studer kurz, als sei damit alles erklärt.

»Ich versteh' nicht…« Der Untersuchungsrichter nahm die Brille ab und putzte die Gläser mit seinem Taschentuch.

»Wenn…«, sagte Studer und tippte mit der Lupe auf die Aufnahme. »Wenn Sie sich vorstellen, daß der Mann hier im Walde meuchlings überfallen worden ist, daß ihn einer von hinten niedergeschossen hat, so geht aus der Lage der Leiche hervor, daß der Mann vornüber aufs Gesicht gefallen ist. Nicht wahr? Er liegt also auf dem Bauch, rührt sich nicht mehr. Aber seine Taschen sind leer. Wann hat man die Taschen geleert?«

»Der Angreifer hätte den Witschi zwingen können, die Brieftasche auszuliefern …«

»Nicht sehr wahrscheinlich… Was sagt das Sektionsprotokoll, wann der Tod mutmaßlich eingetreten ist?«

Der Untersuchungsrichter blätterte in den Akten, eifrig, wie ein Schüler, der gerne vom Lehrer eine gute Note bekommen möchte. Merkwürdig, wie schnell die Rollen sich vertauscht hatten. Studer hockte immer noch auf dem unbequemen Stuhl, der sicherlich sonst für die vorgeführten Häftlinge bestimmt war, und doch sah es so aus, als ob er die ganze Angelegenheit in die Hand genommen hätte…

»Das Sektionsprotokoll«, sagte der Untersuchungsrichter jetzt, räusperte sich trocken, rückte an seiner Brille und las: »Zertrümmerung des Occipitalknochens… Mesencephalum… steckengeblieben in der Gegend des linken… Aber das wollen Sie ja alles nicht wissen… Hier… Tod approximativ zehn Stunden vor Auffindung der Leiche eingetreten… Das wollten Sie wissen, Wachtmeister? Aufgefunden ist die Leiche zwischen halb acht und viertel vor acht Uhr morgens von Jean Cottereau, Obergärtner in den Baumschulen Ellenberger… Der Mord wäre also ungefähr um zehn Uhr abends verübt worden.«

»Zehn Uhr? Gut. Wie stellen Sie sich die Szene vor? Der alte Witschi kommt von einer Tour zurück, er fährt mit seinem Zehnder ruhig nach Hause. Plötzlich wird er angehalten… Schon da ist vieles nicht klar. Warum steigt er ab? Hat er Angst?… Nehmen wir an, er sei angehalten worden. Gut, er wird gezwungen, seinen Karren an einen Baum zu lehnen, man treibt ihn in den Wald… Warum nimmt ihm der Angreifer nicht auf der Straße die Brieftasche fort und drückt sich?… Nein! Er zwingt den Witschi, mit ihm hundert Meter – es waren doch hundert Meter? – in den Wald zu gehen. Schießt ihn von hinten nieder. Der Mann fällt auf den Bauch… Wollen Sie mir sagen, Herr Untersuchungsrichter, wann ihm die Brieftasche mit den verschwundenen dreihundert Franken aus der Tasche genommen worden ist?«

»Brieftasche? Dreihundert Franken? Warten Sie, Wachtmeister. Ich muß mich zuerst orientieren…«

 

Stille. Eine Fliege summte dröhnend. Studer hatte sich kaum bewegt, sein Kopf blieb gesenkt.

»Sie haben recht… Frau Witschi gibt an, ihr Mann habe am Morgen zu ihr gesagt, er werde wahrscheinlich am Abend hundertfünfzig Franken mitbringen. Es seien Rechnungen fällig. Hundertfünfzig Franken habe er noch besessen… Telephonische Erkundigungen haben ergeben, daß wirklich zwei Kunden des Witschi ihre Rechnungen bezahlt haben. Die eine Rechnung betrug hundert Franken, die andere fünfzig…«

»Die eine hundert und die andere fünfzig? Merkwürdig…«

»Warum merkwürdig?«

»Weil der Schlumpf drei Hunderternoten in seinem Besitz gehabt hat. Eine, die er im ›Bären‹ gewechselt hat, und zwei, die ich ihm abgenommen habe. Wo ist die Brieftasche hingekommen?«

»Sie haben recht, Wachtmeister. Der Fall hat einige dunkle Punkte…«

»Dunkle Punkte!« Studer zuckte die Achseln. Ein ungemütlicher Mann, dachte der Untersuchungsrichter. Er war nervös wie seinerzeit beim Staatsexamen.

Vielleicht war dieser Wachtmeister für Schmeichelei empfänglich… Darum sagte er:

»Ich sehe, Wachtmeister, daß Ihre praktische kriminologische Schulung der meinigen überlegen ist…«

Studer brummte irgend etwas.

»Was wollten Sie sagen?« Der Untersuchungsrichter legte die Hand ans Ohr, als wolle er kein Wort seines Gegenübers verlieren.

Aber Studer schien auf einmal vergessen zu haben, wo er sich befand. Denn er zündete umständlich eine Brissago an.

»Rauchen Sie nicht lieber eine Zigarette?« wagte der Untersuchungsrichter schüchtern zu fragen, denn er haßte den Brissagorauch. Er reichte dem Wachtmeister ein geöffnetes Etui über den Tisch. Studer schüttelte ablehnend den Kopf. Ihm, dem Wachtmeister Studer, Zigaretten mit Goldmundstück!…

Der Untersuchungsrichter fragte in die Stille:

»Wo haben Sie sich Ihre praktischen Kenntnisse angeeignet, Herr Studer?« Aber nicht einmal der Wechsel in der Anredeform – Herr Studer statt Wachtmeister – vermochte den schweigenden Mann aus seinem Grübeln zu wecken.

»Wie kommt es, daß Sie es mit Ihren Kenntnissen nicht wenigstens zum Polizeileutnant gebracht haben?«

Studer fuhr auf:

»Was?… Wie meinen Sie?… Haben Sie einen Aschenbecher?«

Der Untersuchungsrichter lächelte und schob eine Messingschale über den Tisch.

»Ich hab seinerzeit beim Professor Groß in Graz gearbeitet. Und warum ich es nicht weiter gebracht habe? Wissen Sie, ich hab' mir einmal die Finger verbrannt an einer Bankaffäre. Damals war ich Kommissär bei der Stadtpolizei… ja, und während des Krieges… Nach der Bankaffäre bin ich in Ungnade gefallen und hab' wieder von unten anfangen müssen… Das gibt es… Aber was ich sagen wollte: wie gedenken Sie die Angelegenheit zu behandeln? Was für Schritte werden Sie unternehmen?«

Zuerst wollte der Untersuchungsrichter den Mann an seinen Platz verweisen, ihm klarmachen, hier habe er zu befehlen, ertrage schließlich die Verantwortung für die Untersuchung… Aber dann verwarf er diese Aufwallung. Der Blick Studers hatte etwas so Erwartungsvoll-Ängstliches… Darum sagte er ziemlich versöhnlich:

»Nun, wie gewohnt, denk ich. Die Familie Witschi vorladen, den Meister des… des… Angeklagten…«

»Schlumpf Erwin«, unterbrach Studer, »vorbestraft wegen Einbruch, Diebstahl und anderer kleinerer Delikte…«

»Ganz richtig. Im Grunde also eine Persönlichkeit, der man das Verbrechen gut zutrauen könnte, nicht wahr?«

»Schon… möglich…« Pause. »Aber auch ein Vorbestrafter kann nicht zaubern… Und der Schlumpf wird nicht das Maul auftun… Sie werden lange fragen können. Der läßt sich lebenslänglich nach Thorberg schicken – und wenn er einmal dort ist, hängt er sich wieder auf. Im Grund ist es schad' um den Burschen… ja, es ist schad' um ihn…«

»Ihre Menschlichkeit in Ehren, Herr Studer, aber… Wir haben eine Untersuchung zu führen, oder?«

»Ja, ja… übrigens ist die Leiche noch in Gerzenstein?«

Wieder blätterte der Untersuchungsrichter in den Akten.

»Sie ist am Mittwochabend ins Gerichtsmedizinische Institut überführt worden. Der Regierungsstatthalter von Roggwil hat das angeordnet…«

Studer zählte an den Fingern ab:

»Am Mittwoch, dem dritten Mai um halb acht Uhr morgens wird die Leiche gefunden. Gegen Mittag die erste Obduktion von Doktor… Doktor… Wie heißt er schon?«

»Dr. Neuenschwander«

»Neuenschwander. Gut. Mittwochabend wechselt Schlumpf die Hunderternote im ›Bären‹. Donnerstag Flucht. Heute, Freitag, verhafte ich ihn bei seiner Mutter. Wann ist die Leiche ins Gerichtsmedizinische Institut gebracht worden?«

»Mittwochabend…«

»Wann glauben Sie, können wir den Rapport vom Institut haben?«

»Ich habe gedacht, wir könnten den Angeklagten mit der Leiche konfrontieren. Was meinen Sie dazu?« Die Frage war höflich, aber der Untersuchungsrichter dachte dabei: Wenn der Kerl nur bald abschieben würde, die Brissago stinkt, er ist aufdringlich, ich werde mich bei der Behörde beschweren, aber was nützt mir das? Deswegen werd' ich ihn doch nicht so bald los. Also seien wir freundlich…

»Konfrontieren?« wiederholte Studer. »Damit er wieder einen Fluchtversuch macht?«

»Was? Er hat Ihnen durchbrennen wollen? Und Sie haben mir nichts davon gesagt?«

Studer sah den Untersuchungsrichter mit seinen ruhigen Augen an. Er zuckte die Achseln. Was sollte man auf solche Fragen antworten?

»Ich will ganz offen mit Ihnen sein, Herr Untersuchungsrichter«, sagte Studer plötzlich, und seine Stimme klang merkwürdig dumpf und erregt. »Wir haben lange genug herumgeredet. Sie denken bei sich: Dieser alte, abgesägte Fahnder, der knapp vor der Pensionierung steht, will sich wichtig machen. Er drängt sich auf. Ich werd ihm aber schon aufs Dach geben lassen. Heut am Abend noch, sobald er fort ist, telephoniere ich an die Polizeidirektion und beschwere mich…«

Schweigen. Der Untersuchungsrichter hatte einen Bleistift in der Hand und zeichnete Kreise aufs Löschblatt. Studer stand auf, packte die Lehne des Stuhles, schwang den Stuhl herum, bis er vor ihm stand, stützte sich auf die Lehne – und die Brissago qualmte, die zwischen zwei Fingern stak – und dann sagte er:

»Ich will Ihnen etwas sagen, Herr Untersuchungsrichter. Ich reiche gern meine Demission ein, wenn der Fall nicht so untersucht wird, wie ich es wünsche. Aber wenn ich dann demissioniert habe, dann kann ich machen, was ich will. Es wird lustig werden. Ich hab' dem Schlumpf versprochen, seine Sache in die Hand zu nehmen…«

»Sind Sie Fürsprech geworden, Wachtmeister?« warf der Untersuchungsrichter spöttisch ein.

»Nein. Aber ich kann ja einen nehmen. Einen, der die ganze Anklage über den Haufen wirft – während der Schwurgerichtsverhandlung. Wenn Sie das lieber wollen? Aber Sie müssen sich das recht lebhaft vorstellen! Sie werden als Zeuge von der Verteidigung vorgeladen werden, und dann wird man Ihnen alle Fehler der Voruntersuchung vorhalten… Wird Ihnen das gefallen?«

Der Kerl ist ja ganz verrückt! dachte der Untersuchungsrichter. Der richtige Querulant! Warum hat man gerade diesen Studer zur Verhaftung abkommandiert! Ein Gerechtigkeitsfanatiker! Daß es so etwas noch gibt! Ich habe die ganze Zeit eingelenkt… Kann der Mann denn Gedanken lesen? Dumme Geschichte! Und wenn dieser Schlumpf unschuldig ist, dann gibt es womöglich einen Skandal, Leute geraten in Verdacht. Es wird doch besser sein, ich arbeite mit dem Kerl… Laut sagte er:

»Das hat ja alles keinen Sinn, Wachtmeister. Ich weiß nur wenig von der Sache. Und drohen? Warum fahren Sie gleich so schweres Geschütz auf? Hab' ich mich geweigert, Sie anzuhören? Sie sind ungeduldig, Herr Studer. Wir können doch ganz ruhig die Sache besprechen. Sie sind sehr empfindlich, Wachtmeister, scheint mir, aber Sie müssen denken, daß andere Leute manchmal auch Nerven haben…«

Der Untersuchungsrichter wartete, und während des Wartens starrte er auf die qualmende Brissago in Studers Hand…

»Ach so!« sagte Studer plötzlich. »Das also…« Er ging zum Fenster, stieß die Läden auf und warf die Brissago hinaus. »Ich hätt' daran denken sollen. Leute wie Sie… War das der Grund? Ich hab's gespürt, daß Sie etwas gegen mich haben, und gedacht, es sei wegen dem Schlumpf… Und dann war's nur die Brissago?« Studer lachte.

Komischer Mensch! dachte der Untersuchungsrichter. Versteht doch allerhand! … Der Brissagorauch! Kann so etwas eine feindliche Stimmung auslösen?… In diese Gedanken hinein sagte Studer:

»Merkwürdig. Manchmal ist es nur eine unbedeutende Angewohnheit, die uns bei einem Menschen auf die Nerven fällt: das Rauchen einer schlechten Zigarre zum Beispiel. Bei mir sind's die teuren Zigaretten mit Goldmundstück…« Und setzte sich wieder:

»So, so«, sagte der Untersuchungsrichter nur. Aber innerlich fühlte er allerhand Hochachtung für den Gedankenleser Studer. Und dann meinte er:

»Ich möchte jetzt den Schlumpf, Ihren Schützling, vorführen lassen. Wollen Sie dabei sein?«

»Doch. Gern. Aber vielleicht sind Sie so gut…«

»Ja, ja«, der Untersuchungsrichter lächelte, »ich werd' ihn schon so behandeln, daß er sich nicht wieder aufhängt, wenigstens vorläufig… Ich kann nämlich auch anders… Und ich will mit dem Staatsanwalt reden. Wenn eine weitere Untersuchung nötig sein sollte, fordern wir Sie an…«

Billard und Alkoholismus chronicus

Studer stieß zu. Die weiße Kugel rollte über das grüne Tuch, klickte an die rote, traf die Bande und sauste haarscharf an der zweiten weißen Kugel vorbei.

Studer stellte die Queue auf den Boden, blinzelte und sagte ärgerlich:

»Bitzli z'wenig Effet.«

Und gerade in diesem Augenblicke hörte er zum ersten Male die dröhnende Stimme, die er noch oft hören sollte.

Die Stimme sagte:

»Und glaub mir, in der Affäre Witschi ist auch nicht alles Bock; glaub mir nur, da stimmt etwas nicht… und das weißt du ja auch. Daß sie den Schlumpf geschnappt haben…« Mehr konnte Studer nicht verstehen. Die Stille, die einen Augenblick über dem Raum geschwebt hatte, zersprang, der Lärm der Gespräche setzte wieder ein. Studer drehte sich um und sah sich an dem Mann mit der merkwürdig dröhnenden Stimme fest.

Der war hochgewachsen, mit einem mageren, zerfurchten Gesicht. Er saß in einer Ecke des Cafés an einem Tischchen zusammen mit einem kleinen Dicken. Der Dicke nickte, nickte ununterbrochen, während der magere Alte den Ellbogen aufgestützt hatte und mit aufgerecktem Zeigefinger weitersprach. Die Lippen waren fast unsichtbar – dem Mann mußten alle Zähne fehlen. Jetzt senkte der Alte die Hand, hob das Glas zerstreut zum Mund, merkte plötzlich, daß es leer war: da zerbrach ein sehr sanftes Lächeln den harten Mund, so, wie einer lächelt, der sich selbst nicht ganz ernst nimmt.

»Rösi«, sagte er zur Kellnerin, die gerade vorbeikam, »Rösi, noch zwei Becher.«

»Ja, Herr Ellenberger.« Die rothaarige Kellnerin ließ sich die Hand tätscheln. Sie sah aus wie eine Katze, die gerne schnurren möchte, aber auf der Suche nach einem ruhigen Platz ist, wo sie dies ungestört tun kann.

»Du kommst…«, sagte Studers Spielpartner, der Notar Münch, der einen hohen steifen Kragen um seinen dicken Hals trug. Und während Studer mit verkniffenen Augen die Stellung der Kugeln prüfte, dachte er immerfort: Ellenberger? Ellenberger? Und redet von der Affäre Witschi? Und während er weiter dachte, ob es wohl dieser Ellenberger sei, Baumschulenbesitzer in Gerzenstein, Meister des Schlumpf, verfehlte er natürlich seinen Stoß. Er hatte nicht richtig eingekreidet, die Spitze der Queue sprang mit einem unangenehm hohen Gix von der Kugel ab.

Das Billardtuch, mit der sehr hellen, nach unten abgeblendeten Lampe darüber, warf einen grünen Schein in die Luft und gab dem Rauch, der leise durch die Luft wogte, eine kuriose Farbe. Ein Lachen, das wie ein Krächzen klang, kam vom Tisch des alten Ellenberger, aber nicht der Alte hatte gelacht, sondern sein Begleiter, der kleine Dicke. Und in die Stille, die dem Lachen folgte, hörte Studer den alten Ellenberger sagen:

»Ja, der Witschi, der war nicht dumm. Aber der Aeschbacher. Ein zweitägiges Kalb ist minder…«

»Was ist los, Studer?« fragte der Notar Münch. Keine Antwort.

Die Affäre Witschi schien wirklich verhext zu sein.

Jetzt hatte Studer gemeint, sie diesen Abend wenigstens vergessen zu können.

Aber natürlich: da kam man ins Café zum Billardspielen und ausgerechnet mußte dieser Ellenberger auch hier hocken und laut über die Affäre Witschi reden. Dann war es natürlich mit der Ruhe vorbei…

Der Rücken des Ermordeten auf der Photographie… Der Rücken, auf dem keine Tannennadeln hafteten… Die Wunde im Hinterkopf… Die kuriosen Vornamen der Familienmitglieder… Wendelin hieß der Vater, die Tochter Sonja, der Sohn Armin. Vielleicht hieß die Mutter Anastasia?… Warum nicht?

 

Witschi… der Name klang wie Spatzengetschilp. Der Wendelin Witschi, der auf einem Zehnder den Commisvoyageur machte und in einem Wald erschossen aufgefunden wurde… Die Frau Witschi, die im Bahnhofkiosk hockte und Romane las…

Und während Studer auf seine Billardqueue gestützt, dem Spiele des Notars zusah, der heute abend in Form zu sein schien, hörte er wieder die angenehm dröhnende Stimme sagen:

»Was macht wohl unser Schlumpf? Was meinst, Cottereau? Haben sie ihn wohl geschnappt, die Tschucker?«

Das Wort »Tschucker« gab Studer einen Ruck. Er war abgebrüht gegen den Spott, dem man als Fahnder ausgesetzt war. Einzig dieses verfluchte Wort mit dem unangenehmen »U« machte ihn wild. Es klinge so vollgefressen, hatte er einmal zu seiner Frau geäußert. Und als er es jetzt aus des alten Ellenbergers Munde hörte, riß es ihn herum, und er starrte auf den Mann.

Er begegnete dem Blick eines Augenpaares, und dieser Blick war ungemütlich. Studer hielt ihn nicht lange aus. Merkwürdige Augen hatte der Ellenberger: kalt wirkten sie, die Pupillen waren fast schlitzförmig, wie bei einer Katze. Und die Iris blaugrün, sehr hell.

»Revanche?« fragte der Notar Münch. Er hatte stillschweigend eine Serie gemacht und war jetzt fertig.

Studer schüttelte den Kopf.

»Kennst du den dort drüben?« fragte er und deutete mit dem Daumen über die Schulter. Der Notar Münch schraubte seinen Kopf aus dem hohen Kragen. »Den Alten dort? Den, der mit dem Dicken zusammenhockt? Denk wohl!… Das ist der Ellenberger. Er war heut' bei mir. Wegen einem gewissen Witschi… Eh, du hast doch von den Leuten gehört. Der Witschi, der vor ein paar Tagen umgebracht worden ist. Der war dem Ellenberger Geld schuldig… Den Witschi hab' ich auch einmal gesehen…«

Der Notar Münch schwieg und machte mit seiner rechten Hand, die wie eine Flosse aussah, beschwichtigende Bewegungen. Und als Studer sich umwandte, gewahrte er den alten Ellenberger, der dem Notar winkte, näherzukommen.

Münch ging quer durch den Raum. Drüben, am runden Tischchen, schüttelte er dem alten Ellenberger die Hand und winkte dann Studer näherzukommen. Der Wachtmeister wurde vorgestellt, es erwies sich, daß Ellenberger und Studer sich vom Hörensagen kannten. Übrigens war Ellenbergers Hand mit Tupfen übersät, die in der Farbe an dürres Buchenlaub erinnerten.

»Hat es Euch beleidigt, Wachtmeister Studer, daß ich vorhin ›Tschucker‹ gesagt habe? Ich hab gesehen, wie Ihr gezuckt habt wie ein junges Roß, wenn es die Geißel klepfen hört.«

Das sei so ähnlich, meinte Studer, wie bei den Gärtnern, die hätten es auch nicht gern, wenn man sie ›Krauterer‹ nenne. Oder nicht?

Der Ellenberger lachte ein tiefes Baßlachen, zwinkerte mit den faltigen Lidern, saugte die Lippen zwischen die Bilgeren und schwieg. Sein Gesicht blieb eine lange Weile starr; es wirkte uralt und grotesk.

Sie saßen um den kleinen Tisch und hatten nicht richtig Platz. Neben ihnen stand ein Fenster offen, es war schwül, ein heißer Wind strich draußen vorbei, und der Himmel war mit einer giftiggrauen Salbe verschmiert.

Die Kellnerin hatte unaufgefordert vier hohe Gläser mit Bier auf den Tisch gestellt.

»G'sundheit«, sagte Studer, hob das Glas, kippte es in den Mund, setzte es ab. Weißer Schaum blieb an seinem Schnurrbart kleben. »Aaah…«

Mit Daumen und Zeigefinger ließ der Ellenberger sein Glas langsame Tänze auf der Kartonunterlage ausführen. Dann fragte er plötzlich:

»Wißt Ihr etwas vom Schlumpf?«

– Er habe ihn heut morgen verhaftet… sagte Studer leise. – Wo? – Bei der Mutter.

Schweigen. Der alte Ellenberger schüttelte den Kopf, so, als sei ihm irgend etwas nicht klar.

– Die Tschu… die Fahnder hätten nicht immer eine schöne Büetz, meinte er dann trocken. Den Sohn von der Mutter wegholen… Er, für sein Teil, tue lieber Rosen okulieren oder allenfalls im Winter rigolen.

Der Notar Münch trommelte verlegen auf der Marmorplatte und schraubte an seinem Hals. Der kleine Dicke, der Cottereau hieß und also jener Obergärtner war, der die Leiche gefunden hatte, schneuzte sich in ein großes rotes Taschentuch.

Studer ließ das Schweigen über dem Tisch liegen und blickte am alten Ellenberger vorbei durchs Fenster.

»Und? Wie gehts dem Schlumpf?« fragte der Alte böse.

»Oh«, sagte Studer ruhig, »er hat sich aufgehängt.« Der Notar schmatzte hörbar, er blickte seinen Freund Studer verblüfft an, aber der Ellenberger sprang vom Stuhl auf, stützte die Fäuste auf den Tisch und fragte laut:

»Was sagst du? Was sagst du?«

»Ja«, wiederholte Studer friedlich, »er hat sich aufgehängt. Ihr scheint Euch sehr für den Burschen zu interessieren?«

»Ah bah!« wehrte der Ellenberger ab. »Ich hab ihn nicht ungern gesehen. Er hat sich gut gehalten bei mir… Und jetzt ist er tot… So, so… Der Zweite, den die alte Hex' auf dem Gewissen hat, sie und ihr… und ihr…« Der Ellenberger unterbrach sich. »Also tot ist er?« fragte er noch einmal.

– Das habe er nicht gesagt, meinte Studer und betrachtete kritisch seine Brissago. Er sei noch zur rechten Zeit gekommen, um den Schlumpf – man könne ja sagen: zu retten, obwohl…

»Also ist er nicht tot? Und wo ist er jetzt, der Schlumpf?«

»In Thun«, sagte Studer gemütlich und versteckte seine Augen unter seinen Lidern. »In Thun, in der Kischte.« Er, Studer, habe auch mit dem Untersuchungsrichter geredet, ein gäbiger Mann, der Fall sei nicht hoffnungslos, aber dunkel, dunkel… Das sei das Elend.

»Und das Gericht will klare Fälle, das gibt schöne Verhandlungen… Aber der Schlumpf leugnet alles ab, der Fall kommt vor die Assisen, natürlich… Und man weiß ja, wie Geschworene sind…« Das alles unterbrochen von langen Zügen, abwechselnd am Bierglas und an der Brissago.

»Aber«, fuhr Studer fort, »Ihr habt da einen Satz nicht beendigt. Wen habt Ihr gemeint mit der Hexe? Die Frau Witschi?«

Ellenberger wich der Frage aus.

»Wenn Ihr etwas wissen wollt, Wachtmeister, müßt Ihr nach Gerzenstein kommen, Euch das Kaff anschauen. Es lohnt sich…« Dann seufzend: »Ja, der Witschi hat's nicht gut gehabt. Hat mir oft geklagt, der alte Schnapser… Aber viele saufen… Heiratet nie, Wachtmeister.«

– Er sei schon verheiratet, sagte Studer, und könne nicht klagen. – So, geschnapst habe der Witschi? – Ja, meinte der Ellenberger, so arg, daß der Aeschbacher, der Gemeindepräsident – der Mann schaue aus wie eine Sau, die den Rotlauf habe – den Witschi habe nach Hansen versenken wollen… (Hansen nennt man im Kanton Bern die Arbeitsanstalt St. Johannsen).

Nach einer Weile fragte der Ellenberger:

»Hat er von mir gesprochen, der Erwin?«

Studer bejahte. Der Schlumpf habe seinen Meister gerühmt. Seit wann denn der Ellenberger der Fürsorge für entlassene Sträflinge beigetreten sei?

»Fürsorge?« Die Fürsorge könne ihm gestohlen werden. Er brauche billige Arbeitskräfte, voilá tout. Und daß er die Burschen anständig behandle, das gehöre zum Geschäft, sonst würden sie ihm wieder drauslaufen. Er, der Ellenberger, sei zuviel in der Welt herumgekommen, die braven Leute brächten ihn zum Kotzen, aber die schwarzen Schafe, wie man so schön sage, die sorgten für Abwechslung. Von einem Tag auf den andern könne man in der schönsten Kriminalgeschichte drinnen stecken, an einem Mordfall beteiligt sein, par exemple, und dann werde es spaßig.

Der alte Ellenberger stand auf:

»Ich muß heim, Wachtmeister, komm, Cottereau… Ich denk, wir werden uns noch einmal sehen… Besuchet mich dann, wenn Ihr nach Gerzenstein kommt… Läbet wohl…«

Der alte Ellenberger winkte der Kellnerin, sagte: »Alles«, gab ein zünftiges Trinkgeld. Dann schritt er zur Tür. Das letzte, das Wachtmeister Studer an dem Alten feststellte, war sicher merkwürdig genug: Der Ellenberger trug zu einem schlechtsitzenden Anzug aus Halbleinen ein Paar braune, moderne Halbschuhe. Die schwarzen Socken, die unter den zu kurzen Hosen hervorlugten, waren aus schwarzer Seide…

Am nächsten Morgen schrieb Wachtmeister Studer seinen Rapport. Das Bureau roch nach Staub, Bodenöl und kaltem Zigarrenrauch. Die Fenster waren geschlossen. Draußen regnete es, die paar warmen Tage waren eine Täuschung gewesen, ein saurer Wind blies durch die Straßen und Studer war schlechter Laune. Wie sollte man diesen Rapport schreiben? Vielmehr, was schreiben, was auslassen?

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