Einsame Klasse

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Gemeinsam nahmen wir die U-Bahn, und als Lena in Shinjuku ausstieg, um in den Zug Richtung Tokioter Bucht im Süden zu wechseln, fühlte sich ihr Kuss, mit dem sie meinen erwiderte, zwar noch herzlich an, aber runtergeregelt, wie absichtlich kühl. Ich fand das unfair von ihr, aber ich beschwerte mich nicht. Nun wollte ich mich auf die Arbeit konzentrieren.

Kurz vor der Station Otemachi, bei der ich aussteigen musste, surrte mein Handy.

Nachricht von Lena: »Tut mir leid, dass ich eben zickig war. Die Situation macht mir einfach Angst.«

Lena, dachte ich, beruhig dich doch. Aber das wollte ich nicht schreiben. Die Nachricht ließ ich erstmal unbeantwortet, bis ich einfühlsamere Worte parat hatte.

In der riesigen Konferenzhalle im Finanzzentrum, die so modern und steril aussah, dass sie überall auf der Welt hätte stehen können, traf ich an einem der Kaffeespender auf meinen älteren Kollegen José Luis aus Spanien, den ich schon einige Male auf Pressekonferenzen getroffen hatte.

»Stress?«, fragte er gleich, als er mich sah.

»Nicht wirklich. Lena macht sich nur Sorgen um unsere Zukunft«, erklärte ich.

José Luis kannte die Geschichte von Lena und mir, erinnerte ihn an seine letzte Beziehung. Er drückte mir einen Pappbecher voll dünnem Kaffee in die Hand und antwortete wenig sensibel: »Beziehungen sind nun mal vergänglich.«

»Nicht alle«, konterte ich äußerlich cool.

Er deutete auf die Menge vor dem Saal, in dem gleich die Pressekonferenz über die Prognosen zum Wachstum der Weltwirtschaft stattfinden würde. »Hier sind so viele Leute Single. Wahrscheinlich weiß Lena das und macht sich deshalb Gedanken.«

Ich nickte und setzte ein möglichst unbeeindrucktes Lächeln auf, als ob ich selbst längst Bescheid wüsste. Sollte ich ja, als Reporter. Auf den folgenden Vortrag des Ökonomen vom Internationalen Währungsfonds über Inflation, Schulden und den Keynesianischen Multiplikatoreffekt konnte ich mich nicht mehr konzentrieren. Ich brauchte Ablenkung. Über den Browser in meinem Telefon suchte ich nach dem, was José Luis angedeutet hatte. Ich gab ein: »Singles Japan.«

Als José Luis, der schon viele Jahre in Tokio lebte, mein Display und dazu meine staunenden Augen sah, zwinkerte er mir zu und schlug mir hart und gönnerhaft auf den Oberschenkel. Die obersten der aufgepoppten Einträge handelten von mietbaren Liebhabern, nachgespielten Hochzeiten, dem Alleinsein in der Megacity, künstlicher Befruchtung und Liebessimulationen als Videospiel. Prompt musste ich an den Manager-Typ neben mir im Flugzeug und seine virtuelle Geliebte denken. »Kein Wunder, dass Lena beunruhigt ist«, flüsterte ich, aber José Luis, der sich Notizen zu den Wachstumsprognosen machte, beachtete mich nicht. Die Prognosen waren nicht sonderlich spannend. So fand ich Zeit, eingehender über das nachzudenken, was ich da auf meinem Handy sah. Anscheinend waren viele Singles auf der Suche nach einer Liebe ohne echte Partnerschaft. Aber war das nicht ein Widerspruch in sich?

Ein Artikel im Wall Street Journal berichtete: »Ein steigender Anteil unter Männern und Frauen gibt an, zufrieden damit zu sein, niemals zu heiraten.« Das Time Magazine schrieb, viele Alleinstehende hielten sich für »Single, ja, aber nicht allein.«

Den Konferenztag verbrachte ich fast zu gleichen Teilen mit Gedanken an Lenas Unruhe wie mit jenen Themen, um die es hier ging. Meine Güte, dachte ich, warum wollten so viele Menschen keinen Partner? Was musste ihnen fehlen? Oder sah ich etwas falsch? Mir kam Lenas Ausspruch in den Sinn, den sie kurz vor unserer Ankunft in Tokio in die Flughafenhalle von Dubai geflüstert hatte: »Hoffentlich finden sie auch als Singles irgendwie Liebe.« Konnte es das geben? Eine singlegerechte Liebe? Wieso dachte ich eigentlich über solche Dinge nach? Hatte ich etwa die Sorge, dass passierte, was ich verdrängt und vor dem Lena gewarnt hatte? Dass wir uns in Tokio auseinanderleben könnten?

Als ich kurz vor Mitternacht nachhause kam, war es in unserer Wohnung schon so dunkel wie draußen. In Lenas noch weit geöffneten Augen spiegelte sich ein Laternenlicht, das zwischen den Vorhängen ins enge Schlafzimmer schien.

»Wie lief’s bei dir heute?«, fragte ich und gab ihr übers Bett gebeugt einen Kuss.

»Ganz gut. Waren einige Leute da.«

»Lädst du mich beim nächsten Mal wieder ein?«

»Wenn wir dann noch zusammen sind«, entgegnete sie, und ich wusste nicht, ob das jetzt ernstgemeint war oder ein seltener Anflug schwarzen Humors.

Es folgten inbrünstige Liebeserklärungen. Das konnten wir immer noch gut. Auch wenn süße Worte nicht die Sorgen in unseren Köpfen tilgen konnten, konnten sie doch für eine Zeit den Konflikt zwischen uns beilegen. Auch das war viel wert, wir wollten ja nicht streiten. »Schlaf gut«, sagten wir uns gegenseitig, umarmten uns, machten die Augen zu. Vorm inneren Auge sah ich wieder die Ergebnisse, die meine flüchtige Recherche zum Thema »Singles Japan« am Vormittag ausgespuckt hatte. An unsere Probleme hatte ich mich längst gewöhnt, mich mit eigentlich allem arrangiert. Auch deshalb, weil ich mir einen Ausstieg aus dieser Zweisamkeit wie den Untergang vorstellte. Hier in Japan mussten also schon viele Menschen untergegangen sein. Aber mein Sitznachbar im Flugzeug hatte so ganz und gar nicht den Eindruck erweckt, untergegangen zu sein. »This is the future of love«, hatte er gesagt. Was auch immer das bedeutete, ob die Interaktion mit dem Avatar für ihn nur ein Spiel war, oder echte Gefühle hervorrief. Mir jedenfalls kam der Gedanke, aus der Liebe ein Spiel zu machen, fremd vor. Mit den kostbarsten Ressourcen des Lebens spielt man nicht, hatte ich als Kind gelernt.

In dieser Nacht hatte ich einen Traum. In einem dunklen Raum hielt ich ein Tablet, auf dem das Gesicht einer virtuellen Frau mit fließend wechselnden Haarfarben und Frisuren erschien, das mich mit seinem neckischen Lächeln gleich in seinen Bann zog. Auch ihre Gesichtszüge veränderten sich, allerdings noch langsamer als die Haare. Mal sehr feminin, mal androgyn, mal älter, mal jünger. Einmal hatte sie Blumen im Haar. Von diesem Wechsel war ich fasziniert. Sie flirtete mit mir und ich spielte nach anfänglichem Zögern mit. Es war ja nur ein Spiel, dachte ich im Traum. Da wurde ihr Gesichtsausdruck streng. Sie hob einen Arm, voll behängt mit klimperndem Geschmeide, wie ein Kettenhemd vor sich und sagte: »Bald hast du nur noch mich.« Dieser Satz riss mich mit einem Ruck aus dem Schlaf. Offenbar war die heutige Auseinandersetzung mit Lena bei mir doch in tiefere Schichten gedrungen. Irgendetwas lief schief.

An einigen Tagen traf Lena ihre neuen Kontakte direkt nach Feierabend auf ein Getränk. So vermied sie es auch, sich in der Rushhour in die vollgepackten U-Bahnen zu drängeln, kam aber trotzdem oft als Erste von uns beiden nach Hause. Dort schaute sie vom Bett aus Filme, las Bücher oder telefonierte mit ihren Freunden daheim. Zum Japanisch-Lernen fehlte ihr der Antrieb, sagte sie und ich dachte mir nichts dabei.

Als ich an einem Abend kurz vor Mitternacht nach Hause kam, weil ich für die Nachmittagsdeadline der acht Stunden hinter Tokio liegenden Zeitungen in Europa einen Artikel über die Fußball-Klub-WM im Dezember 2012 in Japan schreiben musste, wich Lena meinem Lächeln zur Begrüßung aus. Mein Kuss interessierte sie auch nicht. »Alles in Ordnung?«

»Ja«, sagte sie nur, mit starrem Blick auf ihren Laptop am Tisch in der Küche, in der man automatisch stand, wenn man diese unterdimensionierte Wohnung betrat.

»Ist was?«, wollte ich wissen.

»Es ist nichts«, meinte Lena.

Kommentarlos machte ich mich bettfertig.

Durch die hauchdünne Schiebetür, die das Schlafzimmer von der Küche trennte, hörte ich sie murmeln: »Ich dachte nur, wir wären zusammen hier.«

Natürlich waren wir das, aber darum ging es ja nicht. Sie hatte recht, fand ich, und doch nicht, mir fehlten die Worte, oder zumindest die richtigen Worte. Möglichst geräuschvoll legte ich mich ins Bett und deckte mich zu, damit Lena hörte, dass ich noch nicht gleich antworten konnte. Ich wusste keine Antwort. Am liebsten hätte ich ihre Worte überhört. Der warme, aber scharfe Ton war der, den ich von ihr immer hörte, wenn sie nicht zufrieden war. Mich warf er zurück in die Sorgenzeit vor unserem Umzug, durch den wir all das doch eigentlich hinter uns lassen wollten. Ohne dass es einer von uns aussprach, hing da bei mir unter der Bettdecke plötzlich wieder diese Frage: Hat es mit uns dann noch einen Sinn? Dann. Dieses Wort wurde immer mitgesagt, kennzeichnend für die aktuellen Umstände, die zwar nie dieselben waren, aber immer wieder Grund genug zur Unruhe lieferten. Ich wollte das nicht vertiefen. Als ich mich, nochmal möglichst hörbar, liegend umdrehte, sagte ich: »Wir sind zusammen. Ich bin glücklich darüber, dass wir es sind.«

»Worüber bist du glücklich, Felix. Was willst du? Was wird aus uns?« Sie kam zu mir ans Bett. Mit ernstem Gesicht.

Sie war also wirklich nicht zufrieden. Nicht mehr? Seit wann? Ich wollte das fragen, aber lieber nicht wissen. In den knapp fünf Jahren, die wir nun ein Paar waren, schaukelten uns die Grundsatzfragen immer wieder hin und her. Einer von uns stand dann auf dem dünnen Brett, von dem er in die kalte See gestoßen werden konnte. Was aus uns werden würde, so genau hatte ich darüber nicht nachgedacht. Für mich musste ich das auch nicht. Es war simpel und absolut. »Seit wir uns kennengelernt haben, wollte ich einfach mit dir zusammen sein, Lena.«

»Und jetzt muss man nichts mehr dafür tun?«

»Was meinst du?«

»Ach, egal. Du checkst es einfach nicht.«

Tat ich tatsächlich nicht.

»Können wir nicht einfach eine normale Beziehung führen?«, fragte Lena hinterher.

»Was ist denn nicht normal an uns?«, wollte ich wissen.

 

»Wir sehen uns kaum, wir sprechen nicht mehr über die Zukunft, ich weiß nicht, was du willst. Wie geht es weiter mit uns?«

Ein Umzug ans andere Ende der Welt, in eine gemeinsame Wohnung, setzte eigentlich doch ein deutliches Zeichen in Richtung unserer Zweisamkeit. Aber die Konflikte blieben dieselben. Lena wollte, dass wir mehr Dinge gemeinsam machten. Ich wollte das auch, aber oft fehlte die Zeit dafür, der Druck bei der Arbeit war am Anfang noch zu hoch, zugleich war Tokio zu faszinierend, als dass ich die Zeit hier nicht voll in mich aufsaugen wollte. Lena konnte dasselbe tun, wir konnten trotz allem auch Vieles gemeinsam erforschen, aber nach und nach wurde sie von einer Schwermut ergriffen, die ich an ihr noch nicht gekannt hatte. Zum Yoga, das sie hier für sich entdeckt hatte, ging sie kaum noch. Auf ihrem Gesicht sah ich immer seltener ein Lächeln, wir umarmten uns weniger, ich hieß auch nicht mehr Babe. Ich hielt das nur für eine Phase, denn einfach war es für uns beide nicht. Wir sprachen die Sprache gar nicht oder nur schlecht, wandelten ohne richtige Orientierungspunkte durch den Alltag, suchten noch nach unseren Plätzen. Uns hätte das zusammenschweißen können und das versuchten wir auch.

Aber vielleicht kannten wir uns schon zu gut, oder zu lange, als dass wir unsere Missverständnisse in der Kommunikation noch einfach als solche benennen konnten. Ich vergriff mich in der Wortwahl, sie wurde laut. Die Harmonie, die wir beide suchten, war mit Gesprächen nicht wiederzubeleben. Diskutiert hatten wir schon alles. Den Fünfjahresplan, den ich weder aufstellen noch absegnen konnte, ihren zunehmenden Kontrolldrang, den ich immer weniger ertrug, einmal im Streit einen Polizeistaat nannte. Ich bereute das sofort, aber die Worte waren damit in der Welt, ab sofort gab es nur mehr Schaden zu begrenzen, den ich verursacht hatte. Ich vertraute Lena mehr als mir selbst, aber sie vertraute nach und nach uns beiden nicht mehr. Wie Jan und Anna, Lenas Freunde, die sich getrennt hatten, obwohl sie sich verstanden hatten, weil ihre Vorstellungen vom Leben und vom gemeinsamen Leben wohl doch zu unterschiedlich waren. Und es gab so viele andere. Überall schossen Freunde ihre Partner ab oder wurden in die Wüste geschickt, weil einer der beiden angeblich nicht ausreichend beziehungsfähig war. Alles andere, der gemeinsame Humor, die Interessen, der Sex, mochte gut funktioniert haben, aber irgendwas war immer.

Dennoch. Unsere Revolution musste weiterleben. Wir waren noch nicht fertig, und Lena war trotz allem mein moralisches Vorbild. Weniger rachsüchtig als ich, weniger eigensinnig, weniger stur. Sie verhandelte nicht auf dem Flohmarkt, fuhr nicht schwarz und log nie. Falls sie doch log, dann so gut, dass ich es für ausgeschlossen hielt, weshalb es mich dann auch nicht störte. Sie durchschaute Dinge viel schneller als ich, vor allem zwischenmenschliche Situationen. Ehe ich bemerkte, dass jemand im Gespräch die eigene Geschichte hochjazzte, um eindrucksvoller zu wirken, hielt Lena immer schon drei Beispiele dafür bereit. Zu Lena schaute ich auf, und ich wollte werden wie sie. Allein, wie sie mir damals verziehen hatte, als ich auf Weltreise gegangen war. Mit Anfang zwanzig war ich unterwegs auch auf andere Frauen getroffen, aber nach vielen Aussprachen und neuen Vertrauensbeweisen blieben wir zunächst ein Paar und fanden später wieder zueinander. Zwar holte sie das Thema immer wieder gegen mich hervor, wenn es ihr in den Kram passte. Aber mein Gott, dachte ich, das ist wohl ihr Recht. Wenn man so denkt, in den unangenehmsten Momenten, ist es dann Liebe? Die ganz große?

Tokios Herbst wurde kälter. Uns als Deutschen, die zittrige Winter gewohnt sind, hätte das die Stadt weniger fremd machen müssen. Aber die Fremden waren wir, und eher als gegenüber Tokio wurden wir es gegenüber einander. Vielleicht war Tokio auch Teil des Problems. Lena empfand die Stadt als unnahbar, über ihr Praktikum lernte sie doch deutlich weniger neue Menschen kennen als ich durch meine Arbeit und die Uni. Zeit mit meinen Bekannten zu verbringen gefiel ihr zwar, allerdings nagte es an ihrem Selbstwertgefühl, weil sie fand, dies seien ja eigentlich nicht ihre Bekanntschaften. Unsere Nachbarn waren allesamt freundlich, aber enge Freunde fanden wir auch in der Nachbarschaft nicht.

An einem Wochenende fuhren wir nach Kyoto. Von der altehrwürdigen Kaiserstadt wird behauptet, sie sei die Wiege der japanischen Kultur. Wir wollten die Tempel aus Gold und Silber besuchen, die Tradition der Geishas auf den Straßen sehen. »Jetzt fühle ich mich zum ersten Mal so, als wäre ich in Japan angekommen«, sagte Lena, sobald wir aus dem Bahnhof an die frische Luft traten. Die aufdringliche, bunte Seite von Tokio war hier nicht zu finden. Matte Farben, gerade angelegte Wege, kleine Einzelhäuser statt hoher Gebäude, in allen Richtungen Parks mit Schreinen oder Tempeln. Passanten schritten zu gemächlich voran, als dass einem bei ihrem Anblick die Bezeichnung Fußgänger einfiel. Hier erschienen die Leute noch viel mehr in Einklang mit ihrer Umwelt als in Tokio, wo das Verrückte im Menschen immer wieder nach außen drängte. Hier nicht, hier herrschte zurückhaltende Vernunft.

Lena lächelte wieder.

Ich auch. Händchenhaltend spazierten wir durch die Stadt, als Touristen konnten wir es gut aushalten gemeinsam. »Glaubst du, Anna und Jan wären gerne mal nach Kyoto gereist?«

Lena schüttelte den Kopf. »Aber vielleicht reist einer von denen jetzt alleine rum.«

Wer seine Erfahrungen nicht erst teilen muss, weil er sie gemeinsam mit jemandem erlebt, sich später auch gemeinsam erinnern kann, erfährt alles doch mit einer ganz anderen Qualität, dachte ich. Anna und Jan taten uns leid. Selbst mir, der sich manchmal insgeheim wünschte, ohne Rechtfertigung oder Beobachtung auszugehen, zu reisen, Leute zu treffen, aufzustehen, sich schlafen zu legen. Weil doch Freiheit schon an sich ein kostbarer Wert ist, selbst dann, wenn er zu nichts Konkretem nützlich sein mag, nur als Möglichkeit. Jan und Anna waren nun beide frei. Andere von Lenas und meinen Bekannten gesellten sich unbekannterweise zu den beiden, indem auch diese sich von ihren Partnern trennten. Patrick und Kathy aus London, Mark und Steffi aus Wien, Tobi und Erhan aus Hamburg. Als Zweierteam würden wir sie wohl nie mehr treffen, sie sich auch nicht, jeder würde nun für sich alleine durchs Leben ziehen. Vielleicht würde einer dieser Neusingles so friedliche Städte wie Kyoto finden, wo über den Tempeln sogar die Vögel zu zwitschern aufhörten, oder durch verdreckte Gassen in London taumeln, wo die Backsteinwände nach pinkelnden Männern rochen und aus den Pubs Torjubel grölte. Vieles nimmt man alleine intensiver wahr. Aber wenn man es nicht richtig teilen kann, weil niemand dabei war, was ist das dann wert? Doch unseretwegen mussten wir uns endlich nicht weiter damit beschäftigen. Die Tage in Kyoto waren wie früher, als wir frisch zusammen waren und unsere Beziehung noch nicht mit immer neuen Liebeserklärungen rechtfertigen mussten. Die Stimmung trug uns und nicht umgekehrt.

Aber diese Tage vergingen schnell. Zurück in Tokio umarmte uns wieder die Schwermut. An einem Abend in einer Sushibar kam die Frage ein weiteres Mal auf. Lena stand kurz davor, nach Köln in die Heimat zu fliegen. »Felix, wie machen wir weiter?« Sie wollte mehr wissen. Über den nächsten Schritt, den sie in ihren Vorstellungen wahrscheinlich genau kannte und den ich nicht im Sinn hatte. »Wo willst du in einem Jahr sein?«

Ich blieb stumm, weil ich keine Antwort hatte, die ihr gefallen würde, und »keine Ahnung« lieber nicht sagen wollte.

»Kannst du mir nicht sagen, wo du in einem Jahr mit mir sein willst?«

Darauf konnte ich antworten, und ich fand meine Antwort viel bedingungsloser als alles Konkrete, was in einem Fünfjahresplan stehen könnte: »Ich will mit dir sein, Lena. Wo, das weiß ich nicht. Wie, weiß ich auch nicht. Ist das wichtig? Das Wichtigste ist für mich, dass es uns beide gibt, so wie in den letzten Jahren. Wir haben nie gewusst, wie es weitergehen wird. Irgendwie könnten wir überall auf der Welt sein. Wir sind nicht reich, aber leben ohne finanzielle Sorgen. Wir haben keinen konkreten Plan, aber viel Spaß und machen unbezahlbare Erfahrungen. Wir sind beweglich. Was ist daran schlecht? Andere beneiden uns darum.«

Lena nickte, sie war aber nicht einverstanden. Dem Stück Makrelensushi, das auf dem Zugsystem über den Tischen an ihren Augen vorbeifuhr, schmiss sie einen abschätzigen Blick zu. Ich liebte Japans Küche mit all ihren Variationen und Zubereitungsformen. Sie hasste Fisch, genau wie Fleisch. »Ich finde nur, dass es nicht ewig so weitergehen kann. Das wilde Leben will ich nicht für immer. Irgendwann muss man sesshaft werden.«

Der Satz klingelte in meinen Ohren. Mindestens bei der Hälfte aller Paare, die sich auseinandergelebt hatten, hatte ich in den Gesprächen darüber so einen Begriff wie Sesshaftwerden gehört. Bestimmt wollten das in einigen Fällen beide nicht, mindestens einer aber hatte dann das Gefühl, es wollen zu sollen. Geordnete Bahnen sind wichtig, heißt es so oft, und es gilt wohl auch hier. Sonst würde Liebe zu Anarchie. Dabei ist das Wichtigste nach der Revolution doch die neue Ordnung.

Einige Tage später umarmten wir uns am Flughafen. Unsere Körper legten sich wieder perfekt ineinander, wie in einem Guss. So etwas find ich nie wieder, dachte ich. Ihre weichen, vollen Lippen berührten meine, ihr Flüstern kitzelte in meinem Ohr, meine Zweifel waren schon wieder weggeliebt. Diesmal war Lena diejenige, die ging und ich blieb zurück. Sie sollte bald wiederkommen. Nach einem halben Jahr in Japan war es nun mal an der Zeit, die Heimat zu sehen.

Die unterschiedlichen Zeitzonen trieben uns noch weiter auseinander als die Entfernung. Wenn ich ins Bett ging, war bei ihr Nachmittag. Ich stand auf, wenn sie schlafen ging. Wir schrieben einander Nachrichten, telefonierten nur alle paar Tage. Wäre da nicht das Bewusstsein gewesen, dass das alles so nicht sein sollte, weil eine normale Beziehung enger getaktet ist, hätte es mich kaum gestört. Aber auch da waren wir unterschiedlich. Eines Tages sagte sie mir, dass sie sich nach dem Praktikum keinen Job in Tokio suchen wolle. Kurz darauf schrieb Lena per Handy an einem Nachmittag, der ihr Morgen war: »Können wir später bitte reden?«

Bis spät saß ich am Laptop, klickte schließlich auf »Anruf annehmen«.

»Felix …«

Nur ihre Stimme musste ich hören, um zu wissen, dass es ernst war. Über den Bildschirm sah ich das auch in ihrem Gesicht, aber ihre Sommersprossen lenkten mich ab, ich dachte wieder an schöne Tage mit ihr, damals in Wien, oder später in Mexiko.

»Wir haben doch keine Zukunft, oder?«

Ihre Worte trafen mich wie ein Schlag in den Magen.

»Keine gemeinsame Zukunft, meine ich. Du willst dich nicht binden.«

»Ich bin doch seit Jahren gebunden, Lena. Und mir geht’s gut damit.«

»Aber du kannst mir nicht sagen, wo du in fünf oder zehn Jahren mit mir sein willst. Mir geht’s so nicht gut.«

Ich schwieg.

»Felix, sag was.«

»Keiner weiß, wie die Zukunft genau aussieht«, brachte ich heraus. »Können wir uns nicht erstmal hier einleben? Wo wir leben wollen, können wir doch sowieso nur teilweise selbst entscheiden. Das hängt von so vielem ab. Warum lassen wir das nicht auf uns zukommen?«

»Wir sind einfach zu verschieden. Ich will das nicht mehr.«

So ging es weiter, vielleicht eine Stunde, vielleicht zwei. In Beziehungen gibt es viele Schlüsselmomente, einige stellen sich erst im Nachhinein als solche heraus, aber andere fühlen sich an wie ein Showdown. In diesem Gespräch ging es um alles. Und es schien nicht alles verloren, denn die Gravitation zwischen uns hatte nie nachgelassen. Wir drehten uns im Kreis, hörten uns das Lebensmodell des Gegenüber an, behaupteten zu verstehen, widerlegten einander dennoch mit immer neuen Beispielen, die mit »weißt du noch, als« anfingen und mit »ja, aber« demontiert wurden. So wie sie wohl mit sich haderte, tat ich es auch, kannte ihre Antworten, wollte sie jedoch nicht hören. Ich wollte mit ihr zusammen sein, aber diese Frage nach der konkreten Schrittfolge im Leben kam mir blödsinnig vor. Gleichzeitig war ich wahrscheinlich selbst zu blöd, sie zu verstehen. Ihren Wunsch nach der Stabilität, die ihr vorschwebte, konnte ich nachvollziehen, aber nicht begreifen. Vielleicht würden wir irgendwann genau sagen können, wie lange wir hier bleiben, wie es weitergeht.

Irgendwann weinten wir, dann lachten wir, dann sprachen wir über ihre Eltern, über meine, über ihre Geschwister, über meine, über die Heimat und die Ferne und waren ganz vom Thema abgekommen.

 

»Du fehlst mir«, sagte ich.

»Du fehlst mir auch«, sagte sie.

»Wann kommst du wieder nachhause?«, fragte ich, als sich Lenas Stimmlage nach den nostalgischen Gesprächsinhalten ins Ernste, Desillusionierte kehrte. Jetzt schwieg sie.

Ich hörte nur ihr Ausatmen, wie sie es öfter von mir gehört haben musste, und spürte, wie quälend diese Reaktion sein kann.

Noch quälender war ihr anhaltendes Schweigen. »Mach’s gut«, flüsterte Lena schließlich durch die Telefonleitung in mein Ohr.

In Tokio, wo wir gemeinsam angekommen waren, sollte ich’s gut machen, allein? Das klang nach einem letzten schlechten Witz.

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