Wann die Zeiten wehen

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Kapitel 11

Jahre waren ins Land gegangen und Niki hatte sich zu einem groß gewachsenen, gut aussehenden jungen Mann gemausert, dessen Gymnasialzeit zu Ende ging. Er war gerne zur Schule gegangen und seine schulischen Leistungen waren, von Mathematik abgesehen, durchwegs gut gewesen.

In seiner Freizeit las er viel und es machte ihm Spaß, Kurzgeschichten zu erfinden und niederzuschreiben. Wenn er aber dann das Ergebnis seiner Bemühungen mit bewunderten literarischen Vorlagen verglich, wurde ihm die eigene Unzulänglichkeit bewusst und seine Versuche landeten regelmäßig im Papierkorb. Alexander und Galina ahnten von dieser Neigung ihres Ältesten nichts. Niki hätte sich auch eher die Zunge abgebissen, als sie ins Vertrauen zu ziehen. Seine ganz persönliche Welt wollte er mit niemandem teilen.

Neben Estnisch und Englisch, die Pflichtfach waren, lernte er in der Schule auch Russisch. Für seinen Vater war es die Sprache seiner Jugend und auch seine Mutter hatte aus beruflichen Gründen Russisch gesprochen. Um ihn mit dieser Sprache vertraut zu machen, unterhielten sich die Eltern öfters auf Russisch mit ihm. Das ging am Anfang holprig, doch er machte gute Fortschritte.

Auch in Nikis Fühlen hatte sich ein Wandel vollzogen. Seine Indifferenz gegenüber den Mitschülerinnen war einem bislang unbekannten Interesse für das weibliche Geschlecht gewichen. Einige seiner Klassenkameradinnen fand er inzwischen sogar hübsch und interessant. Von Freundschaft oder Liebe war aber keine Rede und es wäre ihm nicht eingefallen, mit einer Mitschülerin über andere, als schulische Dinge zu plaudern. Seine Zurückhaltung erklärte sich auch daraus, dass die Mädchen einfach die Klügeren waren. Zwar war der Klassenbeste ein Junge, der sich aber gerade deswegen keiner großen Wertschätzung erfreute. Dann aber kam in breiter Phalanx das schönere Geschlecht, das fleißiger war, den Lehrstoff besser meisterte und sich auch mit den Lehrern besser verstand.

Nikis unbefriedigende Leistungen in Mathematik waren für seinen Vater Anlass zu unnachsichtiger Kritik. Als jemand, der es zu etwas gebracht hatte, glaubte er, dass sich bei angemessenem Fleiß allemal gute Zensuren erzielen ließen. Und das auch in Fächern, die einem weniger lagen. Nikis Lehrerin hatte ihn vor Kurzem zu sich bestellt und auf die unbefriedigenden Leistungen seines Sohnes hingewiesen. Niki und auch seine Mutter mussten sich danach eine harsche Gardinenpredigt anhören. Durch ständigen Ärger werde ihm dafür gedankt, dass er sich für seine Familie abrackere. Galina wäre in schulischen Dingen nicht konsequent genug und würde ihren Sohn zu wenig zur Arbeit anhalten. Alexander konnte sich kaum beruhigen.

Um Nikis Leistungen in Mathematik zu verbessern, hatte die Klassenlehrerin einen Nachhilfeunterricht angeregt. Der Rat der Pädagogin wurde gerne aufgegriffen und bei der Suche nach einer geeigneten Lehrkraft wurde Galina auch bald fündig: In der weiteren Nachbarschaft wohnte eine neunzehnjährige Abiturientin, die sich gerade auf ihr Studium vorbereitete. Ihre Eltern waren vor einiger Zeit aus beruflichen Gründen umgezogen, und weil sie vor dem Abitur die Schule nicht wechseln wollte, hatte sie sich für eine Übergangszeit eine kleine Wohnung gemietet. Sie war an einem Nebenverdienst interessiert und gerne bereit, Niki Nachhilfeunterricht zu geben.

Lena, so hieß die junge Dame, war zwar keine Schönheit, doch ihre frische Jugend und vor allem ihr freundliches Wesen machten sie anziehend und beliebt. Jeder mochte sie und auch Galina war von dem entzückenden Geschöpf sehr angetan.

Niki war von seiner Lehrerin bald begeistert und seine anfänglichen Vorbehalte legten sich rasch. Nie hörte er während des Unterrichts ein ungeduldiges Wort, selbst wenn er sich ungeschickt anstellte. Lena hatte seine Art zu Denken rasch erkannt und erklärte ihm die kompliziertesten Dinge so, dass er sie verstand. Die Nachhilfestunden wurden immer interessanter und gerieten für ihn zu einem intellektuellen Vergnügen. Es dauerte nicht lange, bis Niki seine schulischen Defizite ausglich. Nach einiger Zeit wurde er sogar Klassenbester in Mathematik. Seine Lehrerin war vom Ergebnis des Unterrichts begeistert und selbst sein kritischer Vater konnte sich eines Lobs nicht enthalten.

Nikis Verhältnis zu seiner jungen Lehrerin entwickelte sich mit jeder Nachhilfestunde ungezwungener. Der 17-Jährige überragte sie um Haupteslänge, und wenn sie nebeneinander am Schreibtisch saßen, musste sie beim Erklären zu ihm aufblicken. Auch Lena gefiel der Umgang mit ihrem Schüler, der sich wohlerzogen benahm und sie, wie sie sehr wohl bemerkte, bewunderte.

An einem heißen Sommer-Nachmittag erschien Niki wie üblich zum Unterricht. Lena trug ein ausgeschnittenes Chiffonkleid, das um die Taille mit einem Gürtel gerafft war. Sie hatten wie immer Platz genommen und mit der Arbeit begonnen. Doch Niki zeigte sich an diesem Tag abgelenkt und konnte sich kaum auf den behandelten Stoff konzentrieren. Jedes Mal nämlich, wenn sich Lena nach vorne beugte, um in dem vor ihnen liegenden Lehrbuch auf etwas hinzuweisen, klaffte der Ausschnitt ihres Kleides und unter dessen leichten Stoff konnte er ihre nackten Brüste sehen. Und noch etwas erregte ihn: Der Duft ihres Parfüms, der sich mit dem Hauch eines leichten Schweißgeruchs mischte, übte eine so erotisierende Wirkung auf ihn aus, dass es sich in seiner Hose zu regen begann.

Lena bemerkte natürlich bald, dass mit ihrem Schüler etwas nicht stimmte, und als sie fragend innehielt und er in der kurzen Pause erleichtert zurücklehnte, fiel ihr Blick auf seine leichte Flanellhose, die im vorderen Teil ausgebeult nach oben stand.

„Was sehe ich da?“, meinte sie, „jetzt verstehe ich, weshalb du so unaufmerksam bist!“

Niki errötete bis unter die Haarwurzeln. Er sah sich in seinen intimsten Regungen ertappt und blickte verlegen zu Boden.

„Und wie soll es jetzt weitergehen?“

Er zuckte die Achseln.

„Ist es so schlimm?“

Er nickte, ohne aufzusehen.

Sie überlegte und meinte dann: „Wenn das so ist, sollten wir etwas dagegen tun“, stand auf, nahm Niki bei der Hand und führte ihn zu einer geblümten Couch, die an der gegenüberliegenden Wand des Zimmerchens stand.

Kaum hatte er sich neben ihr niedergelassen, zog sie mit einem schnellen Griff seinen Hosenbund nach vorne. Sein Glied stand noch immer aufgerichtet.

„Einmal muss es ja sein“, meinte sie und streifte die Träger ihres Kleides von den Schultern.

Niki verkrampfte, als er ihren nackten Busen sah.

„Komm“, flüsterte sie und versuchte ihn an sich zu ziehen.

Doch er saß wie versteinert und wagte sich nicht zu rühren.

„Komm´ nur“, forderte sie ihn erneut auf und legte seine Hand auf ihre Brust.

Zögernd begann er, ihre Brüste zu streicheln.

„Du machst das wie ein richtiger Liebhaber“, ermutigte sie ihn, dann zog sie den Unerfahrenen über sich und half ihm dorthin zu kommen, wo sie ihn haben wollte.

Niki stürzte von einer Empfindung in die andere. Der Schreibtisch, die Stühle, der Schrank, ja das ganze Zimmerchen schienen sich zu drehen, als er den ersten Rausch der Sinne erlebte.

Er hatte das erste Mal eine Frau geliebt und — wie ihm Lena versicherte — hatte sich als echter Liebhaber gezeigt. Ein unbändiges Gefühl erfasste ihn. Er fühlte sich als gestandener Mann, und in seiner Hochstimmung glaubte er, dass sich an diesem wundervollen Zustand nie etwas ändern würde.

Während der folgenden Tage war Niki in Gedanken ständig bei Lena und voller Ungeduld fieberte er dem nächsten Nachhilfeunterricht entgegen.

Lena empfing ihn wie gewohnt und wollte ohne Umschweife mit dem Unterricht beginnen. Doch damit klappte es nicht mehr wie früher. Er konnte seine Hände nicht im Zaum halten und in seiner Hose begann es sich sofort wieder zu regen. Lena versuchte es zwar noch eine Weile mit Mathematik, doch es war vergebliche Liebesmüh’. Auch sie war abgelenkt und hatte nicht die Kraft, seinem Drängen zu widerstehen. Wieder landeten sie auf der geblümten Couch und diesmal war er der Aktive, der ihre Hilfe nicht mehr in Anspruch nehmen musste.

Am Morgen des folgenden Tages läutete es im Hause Bisdorff. Lena stand vor der Tür. Verlegen teilte sie Galina mit, dass sie Nikis Unterricht nicht mehr fortführen könne. Ihre Mutter sei erkrankt und bedürfe der Pflege; sie müsse deshalb umgehend abreisen. Sie bedauere diese Entscheidung, denn die Arbeit mit Niki habe ihr viel Freude bereitet. Galina fiel aus allen Wolken, doch Lenas Weggang war nicht zu ändern. Bekümmert wünschte sie ihr Glück und Erfolg für das weitere Leben.

Als Niki von Lenas Abreise erfuhr, brach der Himmel über ihn zusammen und er konnte das Gehörte nicht glauben. Seine Geliebte würde ihn verlassen, ohne sich auch nur von ihm zu verabschieden. Warum nur? Er liebte sie doch und hätte sie geheiratet! Der kleine Altersunterschied zwischen ihnen hätte doch nichts bedeutet. Verstört machte er sich auf den Weg zu ihr, doch er fand die Wohnungstür verschlossen. Lena war nicht mehr da und seine erste große Liebe ging bereits zu Ende, bevor sie richtig begonnen hatte. In seinem Kummer und seiner grenzenlosen Enttäuschung war er kaum ansprechbar.

Um seinen Schmerz zu betäuben, wandte er sich wieder verstärkt seinen alten Hobbys zu. Für seine Insektensammlung fing er auf den umliegenden Feldern und Wiesen Schmetterlinge und Käfer. Auf den seiner Heimatstadt vorgelagerten Inseln stellte er dem Segelfalter nach und auf dem deutschen Friedhof machte er spätabends Jagd auf Nachtfalter. Seine Sammlung war inzwischen auf über 2.000 Exponate angewachsen. Nicht nur seine Klassenkameraden, sondern auch viele Erwachsene kamen, um seine Schätze zu bewundern. Daneben pflückte und trocknete er Beeren für seine Kanarienvögel und Dompfaffen, die er in einer riesigen Voliere hielt. Doch sein Schmerz wurde nur notdürftig übertüncht. Er konnte einfach nicht einsehen, dass Gefühl und Verstand unterschiedliche Dinge sind, die sehr oft unterschiedliche Wege gehen.

 

Kapitel 12

Schon vor seinem Abitur, das er mit einer ordentlichen Note bestand, war sich Niki auch über seinen späteren Beruf klar geworden: Er wollte Medizin studieren und Arzt werden. Die Gebrechen der Menschen zu heilen und den Kranken in ihrer körperlichen und seelischen Not beizustehen, empfand er als seine persönliche Berufung.

Das ethisch geprägte Berufsbild eines Arztes erschien ihm so hochstehend und erhaben, dass er die Wahl eines anderen Berufes gar nicht in Betracht zog.

Kapitel 13

Auch in Estland war nach der Machtergreifung der Nationalsozialisten in Deutschland eine Jugendorganisation gegründet worden, die sich an dem Vorbild der Hitlerjugend orientierte. Ihre Mitglieder trugen zwar keine braunen, sondern grüne Hemden, die ideologische Ausrichtung war aber die gleiche. Durch Disziplin und sportliche Ertüchtigung sollten sich die baltendeutschen Jugendlichen, ähnlich wie ihre Altersgenossen in Deutschland, auf ein martialisch geprägtes Leben vorbereiten. Auf gut organisierten Fahrten und an romantisch lodernden Lagerfeuern suchte man die jungen Menschen von der nationalsozialistischen Ideologie und ihren rassistischen Vorurteilen zu begeistern.

Auch in Nikis Klasse hatten sich viele Mitschüler dieser Jugendorganisation angeschlossen. Die Saat der Nazi-Agitatoren war auf fruchtbaren Boden gefallen. Die meisten hatten sich weltanschaulich bereits so festgelegt, dass es wenig Sinn machte, mit ihnen über Politik zu diskutieren. Nach ihrer Überzeugung beruhten die gegenwärtigen Probleme Europas auf dem Unrecht des Versailler Vertrages und den Verbrechen der Juden. Nur Hitler und die Nationalsozialisten wären Willens und in der Lage, die politischen und wirtschaftlichen Schwierigkeiten des Kontinents zu lösen. Wenn es zum Krieg käme, trügen Franzosen und Engländer die Hauptschuld, die bereits durch die Versklavung der Menschen in ihren Kolonialreichen eine große moralische Schuld auf sich geladen hätten.

Niki erschien dieses Denken zu vordergründig und banal. Keiner dieser Gutgläubigen wusste doch, was letztlich die Ziele der Machthaber in Berlin waren. Dem Volk und selbst unbedarften Parteigenossen wurde doch nur mitgeteilt, was die politische Führung für opportun hielt.

Viele Mitschüler entrüsteten sich über Nikis kritisches Denken und warfen ihm vor, die Probleme der Zeit nicht erkennen zu wollen. Doch er beharrte auf seinem Standpunkt und lehnte es weiterhin ab, der am Nationalsozialismus orientierten Jugendbewegung beizutreten. Auch die propagandistisch aufgezogene Erntehilfe für die deutsch-baltischen Großgrundbesitzer sah er als politische Bauernfängerei und lehnte es deshalb ab, bei den propagierten gemeinsamen Erntearbeiten mitzumachen. Dabei konnte ihn auch der Vorwurf, dass er sich damit außerhalb der baltendeutschen Solidargemeinschaft stelle, nicht umstimmen.

In seiner kritischen Haltung sah er sich zusätzlich bestärkt, als die wenigen jüdischen Schüler seiner Klasse, ein Jahr vor dem Abitur, die deutsche Schule verlassen mussten. Nie hatte es Probleme wegen ihres Glaubens oder ihrer Rasse gegeben. Auch der mit ihm befreundete Sohn einer russischen Kantonistenfamilie hatte sich unter den Verfemten befunden.

Kapitel 14

Wie immer versuchte ein großer, mächtiger und schön geschmückter Christbaum weihnachtliche Stimmung im Hause Bisdorff zu verbreiten. Doch diesmal war Nikis Festtagslaune nicht die beste und selbst das wertvolle Angelzeug, das ihm der Vater für sein gutes Abiturzeugnis geschenkt hatte, konnte daran nichts ändern. Der Grund für die schlechte Laune war seine Einberufung zum estnischen Militärdienst, den er mit Beginn des anstehenden Jahres anzutreten hatte. Den schulischen Zwängen würde also bald der militärische Drill folgen.

Von seinen bereits früher eingezogenen Klassenkameraden wusste er, was ihn erwartete. Im Gegensatz zu ihm, der sich für den einfachen Wehrdienst entschieden hatte, besuchten sie jedoch durchwegs die Offiziers-Aspirantenschule. Nach Abschluss ihrer Ausbildung waren sie Reserveoffiziere, während er den wenig prestigeträchtigen Status eines einfachen Soldaten haben würde. Doch dafür war seine Ausbildung kürzer und an einer militärischen Karriere war er ohnehin nicht interessiert. Abgesehen davon fragte er sich generell nach dem Sinn des estnischen Militärdienstes. Im Falle einer kriegerischen Auseinandersetzung würde das kleine Estland ohnehin in kürzester Zeit vom Gegner überrannt werden.

Wie er in den nächsten Monaten dann feststellen konnte, war der Wehrdienst doch nicht so belastend, wie ursprünglich befürchtet. Drill und Schleifereien hielten sich in Grenzen.

Im Hinblick auf sein angestrebtes Medizinstudium stellte er am Ende der Grundausbildung einen Antrag auf Übernahme in den militärischen Sanitätsdienst. Ein solcher Wechsel erwies sich jedoch als nicht einfach. Nur die jeweils Besten einer Einheit konnten nämlich über ihren künftigen Einsatzbereich frei entscheiden. Für die Beurteilung der Soldaten war das Ergebnis eines abschließenden Schießwettbewerbs von maßgeblicher Bedeutung. Niki war ein guter Schütze und hatte bereits zwei interne Wettbewerbe gewonnen. Seine Chancen standen also nicht schlecht. Doch als es jetzt darauf ankam, versagte er in seiner Paradedisziplin Stehendschießen und fiel in der Wertung zurück. Die Versetzung in den Sanitätsdienst konnte er damit vergessen.

Über die Verwendung der Rekruten wurde kurze Zeit später in Tallinn entschieden. Auf dem Appellplatz eines Kasernengeländes wurden den im Karree angetretenen Soldaten ihre künftige Waffengattung und ihr Einsatzort mitgeteilt. Auf Niki wartete eine besondere Überraschung: Ein junger Leutnant informierte ihn darüber, dass er dem Wachbataillon des Präsidenten der Republik zugeteilt worden wäre.

„Ich würde gerne im Sanitätsdienst eingesetzt werden“, wagte Niki zu bemerken.

Der Offizier blickte ungehalten. „Sonderwünsche gibt es nicht“, erklärte er streng, „Sie sind groß gewachsen und Abiturient. Für den Wachdienst des Präsidenten werden intelligente junge Männer benötigt. Sie sind dort an der richtigen Stelle.“

Am folgenden Tage meldete sich Niki auf dem Domberg zum Dienstantritt. Im dunklen Vorraum eines älteren Gebäudes der Stadt Tallinn saß ein mürrischer Unteroffizier an seinem Schreibtisch, der Niki beim Eintreten gar nicht zu Wort kommen ließ. Ohne ein Wort zu verlieren, deutete er auf einen vor dem Schreibtisch stehenden Stuhl und vertiefte sich weiter in die vor ihm liegende Akte. Er war wohl die Ordonnanz vom Dienst.

Das ungemütliche Schweigen dauerte fast eine Stunde, bis endlich ein Feldwebel den Raum betrat. „Kommen Sie“, winkte er Niki und geleitete ihn in einen großen Raum, durch dessen Fenster gleißendes Sonnenlicht fiel. An den Wänden des Zimmers hingen Landkarten und an der Frontseite stand eine Tafel, auf der Papiere und Zettel befestigt waren. Zur Mitte hin saß ein beleibter Hauptmann, neben dem ein junger Leutnant Platz genommen hatte. Davon etwas abgesetzt hatte sich der Feldwebel niedergelassen, der ihn hereingeführt hatte.

„Wie ist Ihr Name?“, begann der Hauptmann kurz angebunden.

„Nikolaus Bisdorff.“

„Ach ja, Sie sind das“, meinte der Offizier. „Wie ich höre, haben Sie bereits einen Antrag auf Versetzung gestellt.“

„Ja, gewiss“, bestätigte Niki überrascht. Zumindest war sein Wunsch weitergeleitet worden.

„Was haben Sie gegen den Dienst im Wachbataillon? Sie haben dort ja noch gar nicht angefangen!“, forschte der Hauptmann brummig und beugte sich auf seinem Stuhl vor.

„Ich möchte Medizin studieren und könnte ... “

„Als estnischer Staatsbürger leisten Sie hier Ihren Militärdienst ab“, unterbrach ihn der Offizier grob, „wo kämen wir hin, wenn jeder nach seinem Gusto einsetzt werden möchte. Im Moment brauchen wir Leute für das Wachbataillon und keine Sanitäter!“

Niki erschrak über die Ungehaltenheit des Offiziers.

„Möchten Sie sich vielleicht dem Dienst im Wachbataillon entziehen?“, mischte sich der Leutnant ins Gespräch. „Normalerweise ist es für jeden Soldaten eine Auszeichnung, in dieser Eliteeinheit Dienst zu tun. Dass Sie sich dieser Aufgabe nicht mit Freude stellen, erscheint seltsam!“

Das Gespräch wurde mit jedem Satz unangenehmer.

„Ich bin mir dieser Ehre durchaus bewusst, Herr Leutnant“, versicherte Niki.

„Nun, dann ist ja alles in Ordnung“, grummelte der Hauptmann, schien aber von Nikis Worten wenig überzeugt.

„Wir werden dafür sorgen, dass Herrn Bisdorff der Dienst im Wachbataillon nicht langweilig wird“, meinte der Leutnant süffisant lächelnd, beugte sich zu dem Feldwebel und flüsterte ihm einige Sätze ins Ohr.

Kapitel 15

Das Wachbataillon des Präsidenten der Republik rekrutierte sich vorwiegend aus jungen Esten, die in aller Regel bäuerlichen Familien entstammten. Aber es gab auch Ausnahmen. Neben Niki zählten ein ebenfalls deutschstämmiger Abiturient, Alfons Geisheimer, sowie ein eingebürgerter Russe, Boris Storoschenko, zu dessen Mitgliedern. Storoschenko hatte wie Niki die deutsche Schule in Pernau besucht und war danach bei einem jüdischen Uhrmacher in die Lehre gegangen.

Die beiden deutschen Abiturienten und auch Storoschenko wurden allgemein als die Elite der Wachmannschaft angesehen. Es war aber nicht nur die höhere Schulbildung, die sie aus dem Kreis ihrer Kameraden heraushob. Geisheimer besaß eine künstlerische Ader und das Talent, Wohnungen kunstvoll herzurichten und auszustatten. Die von ihm verschönerten Räume erstrahlten danach in einem bislang unbekannten Glanz. Storoschenko hatte das handwerkliche Können Uhren wieder instand zu setzen. Wurden keine Ersatzteile benötigt, erfolgten die Arbeiten kostenlos. Das Können der beiden sprach sich herum und es dauerte nicht lange, bis nicht nur die Leitung des Wachbataillons von ihrem Können profitieren wollte.

Nikis Qualitäten lagen dagegen mehr auf verbalem Gebiet. Sein Hang, zu allem etwas sagen zu wollen, trübte aber schon bald sein Verhältnis zu den Vorgesetzten. Dagegen war er bei seinen Kameraden beliebt und avancierte bald zu deren Wortführer.

Der Dienst im Wachbataillon unterschied sich wohltuend vom Kommissleben der estnischen Armee. Die Verpflegung der Wachsoldaten war qualitativ besser und neben den täglichen Essensrationen gab es Bohnenkaffee und Weizenbrot.

Wegen ihrer Repräsentationspflichten wurde auf das Erscheinungsbild der Wachsoldaten besonderen Wert gelegt. So verzichtete man darauf, ihnen die Köpfe kahl zu scheren und ihre aus gutem Tuch gefertigten Uniformen hoben sich vorteilhaft vom Rest der estnischen Armee ab, die das russische Vorbild nicht verleugnen konnte. Während die Beine der Wachsoldaten in weichen Stiefeln steckten, war das Schuhwerk der gemeinen Soldaten so grob und steif, dass deren Träger oft hineinpinkelten, um es etwas geschmeidiger zu machen.

Doch wo Licht ist, gibt es auch Schatten. Schlimm war nur, dass dieser Schatten im Wachbataillon vor allem auf Niki zu fallen schien. Von Anfang an hatten ihn die Ausbilder besonders ins Auge gefasst. Wurde ihm der Wunsch, in den Sanitätsdienst versetzt zu werden, hier übel genommen?

Wegen seiner Repräsentationsaufgaben unterstand das Wachbataillon einem strengen Reglement. Regelmäßiger Exerzierdienst und penible Befolgung formaler Vorschriften gehörten zum täglichen Dienstablauf. Niki empfand diesen Drill, sowie das ständige Tadeln und Korrigieren der Vorgesetzten, als Schikane und persönliche Demütigung. Während seine Kameraden den Dienstablauf als unvermeidliches Übel hinnahmen, lehnte er sich dagegen auf. Vor allem ein massiger Feldwebel mit Halbglatze und fleischiger Nase, aus der sein fehlender Haarbesatz zu sprießen schien, hatte es auf ihn abgesehen. Seine kleinen, wasserblauen Augen, der wulstige Mund und sein ausgeprägtes Kinn machten ihn zum Urbild eines Schleifers.

„Bei jedem Appell zähle ich bis zehn“, drohte er seinen Dienstbefohlenen, „dann seid ihr angetreten. Und zwar in einem Zustand, an dem es nichts auszusetzen gibt. Das gilt auch für die Klugscheißer unter euch“, dabei musterte er Niki, Geisheimer und Storoschenko mit missfälligem Blick.

 

Nikis großes Problem war sein angeborener Mangel an Akkuratesse, der sich auch im Zustand seiner Dienstkleidung niederschlug. Normalerweise handelte es dabei um kein schwerwiegendes Vergehen, doch beim Wachbataillon war das anders. Auf den perfekten Sitz der Uniform und den Zustand der Ausrüstungsgegenstände wurde größter Wert gelegt. Wegen seiner bekannten Nachlässigkeit wurde Niki stets mit besonderer Akribie gemustert. Selbst wenn er sich intensiv um sein Erscheinungsbild gekümmert hatte, fanden die Ausbilder an ihm noch immer etwas auszusetzen. Sei es, dass ein Kragenknopf nicht geschlossen war, der Uniformrock klaffte oder sonst eine Lappalie. Manchmal schien ihm, als ob es bei diesen kritischen Musterungen nicht mit rechten Dingen zuginge.

„Bisdorff, treten Sie vor! Ihr rechter Stiefelschaft sitzt nicht“, kritisierte ihn eines Tages sein berüchtigter Ausbilder.

In der Tat hatte es Niki nach der vorangegangenen Ruhepause nicht geschafft, seine Stiefel auf die Schnelle vorschriftsmäßig anzuziehen. „Das stimmt, Herr Feldwebel. Ich erlaube mir darauf hinzuweisen, dass auch der Linke nicht sitzt“, korrigierte ihn Niki.

Die Angetretenen lachten.

„Ruhe“, schnaubte der Ausbilder und wandte sich wieder an Niki: „Sie haben es nötig, noch Witze über den unkorrekten Sitz Ihrer Stiefel zu machen. Ihr widerborstiges Verhalten missfällt mir schon lange. Heute Abend nach Dienstschluss werde ich Ihnen zeigen, wie Dienstvorschriften zu beachten sind. Es wäre ja gelacht, wenn es mit dem Sitz Ihrer Stiefel nicht klappen würde.“

Nicht weit von der Stadt Tallinn entfernt, liegt der berühmte Ülemiste-See. Über die Entstehung dieses geschichtsträchtigen Gewässers wird im estnischen Nationalepos Kalevipoeg berichtet. König Kalev war in grauer Vorzeit verstorben. Für dessen Grablege schleppte seine Ehefrau Linda große Steine auf den Domberg in Tallinn. Als ihr dabei ein Stein entglitt, weinte sie ob dieses Missgeschicks so herzzerreißend, dass aus der Flut ihrer Tränen der Ülemiste-See entstand.

Doch für derartige mythologische Reminiszenzen blieb Niki an diesem Abend wenig Zeit. In der Nähe des Sees befand sich nämlich ein Trainingsgelände der estnischen Armee, das sich für die vorgesehene disziplinarische Maßregelung bestens eignete. Hierher hatte der Feldwebel sein Opfer samt Marschgepäck bestellt. Wegen der fortgeschrittenen Tageszeit war der Übungsbetrieb bereits eingestellt worden und das Gelände war leer. In unregelmäßigen Abständen hatte man dort Erdwälle aufgeworfen und dazwischen Gräben gezogen. Wegen der ständigen Beanspruchung und vorangegangener Regenfälle hatte sich der Boden in ein klebriges Sand- und Lehmgemisch verwandelt.

Kaum hatte Niki den Tornister abgelegt und sich vor einem der Hindernisse postiert, prasselten auch schon die Kommandos des Ausbilders auf ihn nieder. Niki folgte dem Befehls-Stakkato, bis er nicht mehr konnte und reglos am Boden liegen blieb.

Im Nu stand sein Peiniger über ihm. „Habe ich Ihnen befohlen liegen zu bleiben? Was ist los? Machen Sie sofort weiter!“

„Schluss, ich kann nicht mehr“, keuchte Niki.

„Was?“, gab sich der Feldwebel erstaunt, „Sie wollen nicht mehr? Ihr renitentes Verhalten ist Befehlsverweigerung! Dafür kommen Sie in den Knast!“

„Ich melde mich freiwillig“, stieß Niki heftig atmend hervor.

„Das können Sie haben! Wegen grober Aufsässigkeit werden Sie nicht eine, sondern zwei Wochen einsitzen. Inzwischen haben Sie sich genug ausgeruht. Vorwärts! Ich habe noch einiges mit Ihnen vor!“

Als der Ausbilder nach zwei Stunden von ihm abließ, zitterte Niki am ganzen Körper. Er war so erschöpft, dass er seinen Peiniger nicht einmal mehr zu hassen vermochte. Gesicht, Haare, Hände und seine Montur waren mit einer zähen Schlammschicht bedeckt. Mühsam schleppte er sich zu einem nahen Bach und säuberte sich so gut es ging, bevor er sich wieder auf den Weg zu seiner Kaserne machte.

Das Militärgefängnis in Tallinn befand sich im Seitentrakt einer abseits gelegenen Kaserne und wurde offensichtlich wenig genutzt. Als sich Niki dort zum Strafvollzug einfand, war er der einzige Insasse. Wegen der Schwere seines Vergehens sollte er während der ersten drei Tage bei Wasser und Brot darben. Doch die Gefängniswärter, von denen er einige kannte, steckten ihm das eine oder andere Essbare zu, sodass von einem verschärften Strafvollzug keine Rede war. Im Gegenteil, im Vergleich zu den Widrigkeiten seines Wachdienstes, empfand er das Gefängnisleben als geradezu angenehm. Ohne jede Dienstpflicht hatte er endlich Muße ein Buch zu lesen, einige längst fällige Briefe zu schreiben und auch über seine gegenwärtige Situation nachzudenken. Während der vergangenen Wochen war sein Privatleben zu einem Nichts verkümmert. Natürlich wäre er gerne öfters ausgegangen, und hätte auf einem der vielen Sommerfeste in der Gegend um Tallinn, die eine oder andere Mädchenbekanntschaft gemacht. Doch der strenge Dienst mit seinen vielen unnötigen Obliegenheiten hatte das verhindert. Einige Male hatte er seine Eltern in Pernau besucht. Sie waren über seinen psychischen Zustand betroffen gewesen, doch er hatte nicht geklagt. Was hätte es auch gebracht? Sein Gefängnisaufenthalt ging dann früher als erwartet zu Ende. Schon nach neun Tagen wurde ihm der Rest der Strafe wegen guter Führung erlassen.

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