Steinschlag

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7

Im Korridor stapelte Andrea Holzkisten aufeinander, kletterte auf den wackligen Turm und machte sich mit einem Schraubenzieher an der Lampenfassung zu schaffen. Als das Telefon klingelte, verlor sie beinahe das Gleichgewicht.

Es war ihr Vater. Seine Stimme klang aufgekratzt. «Ich muss unbedingt den Tatort sehen!», schrie er ins Telefon.

«Welchen Tatort?»

«Die Tote vom Berg!»

«Du willst dort hinauf? Glaubst du, du schaffst das?»

«Schliesslich habe ich eine Tochter, die Bergführer ist.»

«Bergführerin bitte. Du willst dich von einer Frau führen lassen?»

«Bleibt mir wohl nichts anderes übrig», grummelte er. Dann fügte er in bedeutungsvollem Tonfall bei: «Ich hab da ein paar interessante Dinge herausgefunden.»

«Was denn?»

«Ich kenne den Mann.»

«Ach? Woher denn?»

«Der Name steht heute in der Zeitung. Hast du’s nicht gelesen?»

«Ich war unterwegs mit einem Gast.»

«Eine eigenartige Todesanzeige. Mit einem Gedicht garniert. Tiefsinnig und vieldeutig. Man kann zwischen den Zeilen lesen.»

«Was für ein Gedicht?»

«Goethe. Aber hol dir eine Zeitung, lies selbst.»

«Wie heisst er denn? Und die Frau?»

«Claudia und Werner Baumberger-Lévi. Sagt dir das was?»

Andrea dachte nach. Baumberger war ein Name aus der Gegend. Lévi klang fremd.

«Mach die Augen auf, wenn du das nächste Mal in die Stadt fährst.»

«Ach Robert …» Sie seufzte. «Sprich doch nicht immer in Rätseln.» So war er. Anekdoten, Witze, Anspielungen, Ironie.

«Lévi», sagte er. «Das Zementwerk.»

Nun erinnerte sie sich. Die Fabrik beim Kalksteinbruch hinter der Raststätte. Turmartige Brennöfen und Silos, qualmende Schlote, Förderbänder und Staub.

«Lévi war ein Familienbetrieb. Als sie an die Zementholding verkauften, haben die Lévis irre Geld gemacht. Eine der reichsten Familien der Gegend. Kapitalisten. Betonköpfe. Das ist Claudia Lévi.»

«Und Baumberger?»

«Sozusagen das Gegenteil. Ein alter Kunde.»

«Des Zementwerks?»

«Nein, von mir. Von meiner Firma.»

«Was meinst du damit?»

«Amtsgeheimnis. Verstehst du?»

«Verstehe, Herr Kommissar», sagte Andrea. «Ruf morgen früh an. Wir können zusammen zur Unfallstelle wandern. Was willst du überhaupt dort oben?»

«Es war kein Unfall!», schrie er ins Telefon. «Eine Untersuchung läuft!»

«Und da willst du auch noch mitmischen? Hast du überhaupt Wanderschuhe?»

«Irgendwo auf dem Estrich. Ich hoffe, sie passen mir noch.»

«Fett setzt ja bekanntlich nicht an den Füssen an. Aber bist du auch noch fit? Wir werden über eine Stunde brauchen.»

«Früher musste ich doch auch immer mit …» Seine Stimme stockte. «Ich rufe morgen an.»

Andrea legte den Schraubenzieher weg, mit dem sie während des Gesprächs auf den Schreibtisch getrommelt hatte. Ihre Hand war feucht. «Früher musste ich doch auch immer mit …» Der Satz hatte sie getroffen. Früher. Er hatte die Wanderungen gehasst, er verabscheute die Berge. Doch tat er Mutter den Gefallen. Sie war in Pratt aufgewachsen, hatte sich nie heimisch gefühlt in der Stadt. «Wie eine Bergdohle im Käfig», sagte sie manchmal.

Wenn sie wanderten, trug sie den Rucksack und ging immer mit leichtem Schritt voran, als habe er überhaupt kein Gewicht. Vater keuchte hinterher, Schweissperlen auf der Glatze. «Du trägst den Rucksack, ich die Verantwortung», war einer seiner Sprüche gewesen. Oft blieb er dann irgendwo sitzen, rauchte, ass den Proviant auf und trank die Feldflasche leer, während sie und Mutter einen Gipfel bestiegen. Wenn sie noch leben würde, stellte sich Andrea vor, würde sie bestimmt klettern, sich durch Felswände führen lassen von ihrer Tochter, stolz auf ihre Bergführerin. Sie würden auf dem Gipfel sitzen an der Sonne, die Bergdohlen füttern, sich ohne Worte nahe und glücklich sein.

8

Der Zeitungskiosk am Bahnhof war schon geschlossen. Auf einer Mauer sassen ein paar Burschen, kifften und soffen Bier aus Büchsen. Sie gafften ihr nach, einer liess den Motor seines Mofas aufheulen, drehte eine Runde auf dem Platz. Ein Gockel mit gestutzten Flügeln, der nicht weiss, was fliegen heisst. Pratt war eine enge Welt. «Beyond nowhere», wie man in Amerika sagte.

Beim «Adler» an der Bahnhofstrasse blieb sie stehen. Hier trafen sich die Bergführer am Stammtisch. «Lass dich doch mal am Stamm blicken», hatte Amstad hingeworfen nach der Bergung. Sie hatte es als Einladung verstanden. Es brauchte Überwindung, die Sandsteinstufen hinaufzusteigen und einzutreten. Sie musste sich konzentrieren, alle Widerstände beiseite schieben und nur das Ziel ins Auge fassen wie vor einer schwierigen Kletterstelle.

Zigarettenqualm vernebelte die Gaststube, im Zwielicht erkannte sie Amstad an seiner gebückten Haltung, obwohl er ihr den Rücken zudrehte. Er sass in einer Nische am runden Tisch, zusammen mit Rolf Frick und Paul Gisler von der Kletterschule. Andrea machte die Runde, drückte allen die Hand, setzte sich.

«Schön, dass du kommst», murmelte Amstad. «Ein Bier?»

«Danke. Ein Cola.»

«Ah, keinen Alkohol», warf Frick hin. «Nicht gut für den Sport, was?»

«Nein», stiess Andrea trotzig hervor, wäre am liebsten gleich wieder aufgestanden. Sie glaubte den Neid zu hören in der Stimme des Führers. Neid und Missgunst. Sie hatte sich bei Kletterwettkämpfen einen Namen gemacht, hatte in Kalifornien Big Walls geklettert, von denen diese Männer nur träumen konnten. Sie hatte einen Gast auf die Sila geführt, auf einer Route, welche die beiden Jungen vielleicht noch mit knapper Not schafften. Sport war für die ansässigen Bergführer ein Schimpfwort, sie hielten sich für etwas Edleres als Sportler oder Sporttrainer. Alle drei trugen das Führerabzeichen am Hemd.

«Wie wars denn an der Sila?», hakte Gisler nach, «mit dem Herrn Doktor?»

Es klang, als sei ihm Daniel kein Unbekannter, als kreisten auch über ihn Gerüchte. Natürlich wussten die drei mehr als sie. Nichts blieb verborgen im Ort, der kein richtiges Dorf mehr war, aber auch keine Stadt. Jenseits von Nirgendwo eben. Vielleicht war es doch ein Fehler gewesen, nach Pratt zu ziehen, zu versuchen, in der Heimat ihrer Mutter Fuss zu fassen, als Frau in einem Beruf, in dem die Machos regierten.

«Daniel Meyer ist ein starker Kletterer», sagte sie. «Er hat die Route gekannt.»

«Aber gewiss.» Gisler nahm einen Schluck, wischte sich Bierschaum vom Schnurrbart. «Wir mussten ihn mal herunterholen von dort oben. Hat Mist gebaut und ist beinahe draufgegangen.»

«War ein Freak, frech und völlig unerfahren. Ist eingestiegen zusammen mit einem, den er nicht einmal gekannt hat. Wetterumschlag, Nebel, Steinschlag. Sie kletterten weiter auf die Plattenburg, fanden den Abstieg nicht mehr. Als wir sie holten, schneite es schon. Halb erfroren war der Junge.»

«Es ist keine Kunst, auf einen Berg zu klettern. Kunst ist, wieder heil herunterzukommen», bemerkte Frick.

Andrea trank ihr Cola lustlos, hörte stumm zu, wie die Führer alte Geschichten auftischten. Anekdoten, in denen sie stets die Helden waren, besonnen und mutig. Helfer und Retter, Könige der Berge. Fehler machten nur die andern. Sie schwatzten, bloss Amstad saugte stumm an einem Stumpen. Einmal schnippte er die Asche in den Aschenbecher, beugte sich zu Andrea: «Wir müssen nochmals hinauf zusammen.»

«Warum?»

«Es gibt einen Augenschein. Mit dem Untersuchungsrichter.»

«Und da muss ich mit?»

«Als Zeugin. Du und ich waren zuerst am Unfallort.»

Er sagte Unfallort, nicht Tatort. Nahm einen Schluck Bier, blickte ins Glas und sagte mit seiner belegten Stimme: «Der Mann wird auch dabei sein.»

«Werner Baumberger?»

Amstad schaute sie an, sein Auge zwinkerte. «Du weisst, wie er heisst?»

«Stand heute in der Zeitung.»

«Er wird auch dabei sein.»

«Wann?»

«Ich geb dir Bescheid. Sicher erst nach der Beerdigung.» Er fuhr mit der Hand an die Schläfe, als wolle er sein nervöses Auge besänftigen. Dann leerte er sein Glas, stellte es hart auf den Tisch, stand auf. «Ich muss morgen früh weg.» Er legte einen Geldschein hin. «Ich übernehme das. Tschau zusammen.» Drehte sich um und ging.

Als er draussen war, sagte Gisler halblaut: «Er muss heim wegen seiner Alten. Bettsockenappell. Sie hat ihn im Griff.»

9

Kurz darauf erhoben sich die beiden Bergführer, entschuldigten sich mit einem Kletterkurs am kommenden Tag. Das Wetter sei gut, man wolle in die Höhe. «Du auch?»

«Nur eine Wanderung.»

«Was man nicht alles macht, um zu überleben in unserem Beruf.» Frick gab ihr die Hand, Gisler nickte ihr zu.

Andrea winkte der Kellnerin, bezahlte mit Amstads Note, fragte nach Zeitungen. Sie steckten in der Rücklehne einer Bank beim Eingang, um Holzklammern gerollt. Andrea zog den Anzeiger aus der Stadt heraus. Dabei bemerkte sie, wie ihr ein Gast, der einsam am Fenster sass, mit dem Blick folgte. Nebst vier Männern, die Karten spielten, war er der Einzige im Lokal. Sie setzte sich wieder an den runden Tisch, bestellte einen Espresso, blätterte durch die Zeitung und fand die Todesanzeige.

«Claudia Baumberger-Lévi, tragisch verunglückt in ihren geliebten Bergen.» Darunter das Gedicht.

KENNST DU DEN BERG UND SEINEN WOLKENSTEG?

DAS MAULTIER SUCHT IM NEBEL SEINEN WEG;

IN HÖHLEN WOHNT DER DRACHEN ALTE BRUT;

ES STÜRZT DER FELS UND ÜBER IHN DIE FLUT!

KENNST DU IHN WOHL?

DAHIN! DAHIN

GEHT UNSER WEG! O VATER, LASS UNS ZIEHN!

JOHANN WOLFGANG GOETHE

 

Andrea las das Gedicht mehrmals, sah zwischen den Zeilen den Berg, in Wolken und Nebel gehüllt, den Weg über dem Abgrund, den stürzenden Fels und das Wasser des Bachs. Es war das Bild der Runse, wo sie Claudia Baumberger gefunden hatten. Das trotzige Kind, das gegen den Willen seines Vaters dort hinauf gestiegen war, wo ein Drache lauerte. Die Lévis seien eine der reichsten Familien der Gegend, hatte Robert gesagt. Doch die Todesanzeige war nur vom Ehemann der Toten unterzeichnet und von einer Jeanette Baumberger, vielleicht einer Tochter.

«Entschuldigen Sie … darf ich mich zu Ihnen setzen?» Der Einsame stand an ihrem Tisch, sah sie mit verlegenem Lächeln an. Sie hatte keine Lust auf ein Gespräch, eine flüchtige Bekanntschaft. Doch seine verträumten Augen, der blonde Dreitagebart, die hohe Stirn mit Ansatz zur Glatze erinnerten sie an Joe Cocker auf dem Umschlag einer CD.

«Darf ich?», fragte der Doppelgänger des Machos aus Sheffield, setzte sich ihr gegenüber. «Darf ich Sie zu einem Glas Wein einladen?»

«Danke, ich wollte gleich gehen.»

«Schade. Was lesen Sie da?» Er griff nach der Zeitung. «Todesanzeigen?»

«Geht Sie nichts an.» Andrea riss die Seite mit der Todesanzeige heraus, faltete sie, stand auf.

«Sie sind hart», sagte er.

Der Hieb sass. Bin ich hart? Versteinert wie die Sila? Die Burgfrau, die alle Freier in den Abgrund gestossen hatte, wie die Sage erzählte, und dafür büssen musste?

«Hart oder sehr traurig», hörte sie den Mann sagen, dessen Stimme so rau und sanft klang wie jene des Sängers.

Er sei geschäftlich in der Gegend, Ingenieur, sagte er.

Sie fragte nicht. Wollte nicht wissen, wer er war, woher er kam, wohin er ging. Sie erzählte von Bergen und Wüsten, von Kalifornien, wo er sich auskannte. Sequoia Park, Death Valley, Yosemite, Tuolumne Meadows.

Er hörte ihr zu, bis die Kellnerin begann, Stühle auf die Tische zu stellen. Er begleitete sie durch die leeren Strassen bis zu ihrem Block.

Nachts träumte sie von einem Felsturm, der wie eine Flamme im Abendlicht loderte. «The Morning Glory Spire» in der City of Rocks in Idaho. Sie wollte den himmelhohen Turm aus rötlichem Granit erklettern. Band sich ans Seil, reichte ihrem Gast das andere Ende.

«Du bist hart», flüsterte er. Sie kletterte, wollte ihm rufen, ihr zu folgen, doch erinnerte sie sich nicht mehr an seinen Namen.

Als sie erwachte, schien die Sonne auf den Balkon. Die Storen waren heruntergedreht, sodass das Licht nur gedämpft ins Zimmer fiel. Das Telefon klingelte.

10

«Hast du vergessen, was wir abgemacht haben», fragte Robert, Vorwurf in der Stimme.

Andrea hielt mit der einen Hand den Hörer fest, rieb sich mit der andern Schorf aus den Augen. Das Tageslicht blendete sie. «Was haben wir abgemacht?»

«Auf den Berg zu steigen. Weisst du, wie spät es ist? Ich habe schon zwei Mal angerufen.»

«Zwei Mal? Ich habe geschlafen.»

«Ich dachte, der Bergführer erhebt sich früh?»

«Die Bergführerin darf länger schlafen», sagte sie. «Dafür klettert sie schneller.»

«Dann mach mal schnell.»

«Bin unterwegs.»

Den Kaffee trank sie in der Raststätte. Robert wartete vor dem Haus, er trug Wanderschuhe aus Wildleder und einen Filzhut mit Abzeichen am Band. Die graue Windjacke spannte sich über seinem Bauch. Mit der Metallspitze seines Spazierstocks stocherte er Unkraut aus den Ritzen zwischen den Granitplatten. Er schob es mit der Schuhspitze beiseite, trat ans Gartentor, schaute auf seine Uhr: «Besser zu spät als nie.»

Sie liess den Motor laufen.

«Steig ein.»

Auf der Autobahn machte er sie auf das Zementwerk beim Steinbruch aufmerksam, flache Werkhallen mit staubigen Fenstern, überragt von runden Materialsilos und Brennöfen mit trichterartigen Beschickungsanlagen. Auf einem Schuppen eine Tafel: «Lévi AG – Zementholding».

«Vor Jahren führten wir hier eine Untersuchung wegen Staubfiltern. Ich musste einen Schichtführer verhaften und einvernehmen. Den Lévis hat man kein Haar gekrümmt, die waren zu mächtig.»

«Was weisst du über Claudia?»

«Sie ist wohl in Ungnade gefallen bei der Familie. Der alte Lévi hat die Todesanzeige nicht unterschrieben.»

«‹Dahin! Dahin geht unser Weg. O Vater, lass uns ziehn!› So heisst es in dem Gedicht. Ist das eine Anspielung?»

«Ich denke schon.»

«Ist Jeanette Baumberger ihre Tochter?»

«Sieht so aus.»

«Und wer ist der Drache mit seiner Brut, wie es im Gedicht heisst?»

«Den werden wir fangen.»

Robert war auf der Jagd. Wie früher, als er noch im Dienst war. Hatte er Witterung aufgenommen, dann veränderte sich sein Wesen. Er lief ziellos durchs Haus, rauchte die Zigaretten nur noch zur Hälfte, liess sie irgendwo liegen, sodass sie Löcher in Tischtücher und Fenstersimse brannten. Auch jetzt griff er nach der Packung. «Darf ich?»

«Wenn du es nicht lassen kannst.»

Er klappte den Aschenbecher aus dem Armaturenbrett. «Hast du einen Freund, der raucht?»

«Es gibt keinen Freund. Es war ein Gast.»

«Jedenfalls ein Mann.»

«Warum?»

Er griff sich einen Stummel. «Diese Marke rauchen Männer.»

«Was du nicht sagst …»

«Das sagt die Werbung. Zudem sieht man bei Frauen meist Spuren von Lippenstift am Filter.»

«Weil sich alle Frauen vor dem Rauchen schminken, nicht wahr. Wenigstens in Kriminalfilmen.»

«Die meisten. Das sagt die Statistik.»

«Gut beobachtet, Herr Kommissar.»

«Fünfunddreissig Jahre Polizist. Da hat man das Auge.» Robert drückte seine Zigarette nach wenigen Zügen in den Aschenbecher. Seine Hand zitterte.

Als sie sich der Ausfahrt Pratt näherten, bemerkte er: «Da wohnst du nun also. Ist ja eigentlich ganz schön hier.» Sonnenlicht lag auf den Weinbergen rund um die Ortschaft, die sich wie ein Fächer über die Ebene am Fuss der Berge ausbreitete. Die Häuser schienen aus der Klus hervorzuquellen, durch die sich der Fluss zwängte. Er hatte das Delta aufgeschüttet, auf dem die Siedlung gewachsen war. Eine Kirche und einige Bürgerhäuser mit schweren Mauern und schmalen Fenstern bildeten den Kern, rundum wucherten Einfamilienhäuser und Wohnblocks. Händler, die am alten Handels- und Pilgerweg von Norden nach Süden reich geworden waren, hatten Pratt gegründet. Ihre Nachkommen wohnten noch immer hier, handelten und bauten, bestimmten die Politik und zogen die Fäden.

Nach dem Tunnel, der durch die Felsbarriere neben der Klus führte, versank Robert in Schweigen. Er erinnerte sich wohl, wie oft sie in dieses Tal gefahren waren in seinem alten Volvo, er mürrisch am Steuer, die Mutter heiter wie immer, wenn es bergwärts ging.

Als sie auf die Bergstrasse abbogen, fragte Andrea: «Was weisst du eigentlich von Werner Baumberger? Ein Kunde, hast du gesagt …»

«Er war in eine Untersuchung verwickelt. Doch verlief alles im Sand.» Er liess die Scheibe niederfahren, kühlte seine Hand im Fahrtwind. «Claudia Lévi war seine zweite Frau.»

«Eine Untersuchung?»

«Ich habe schon zu viel geplaudert. Behalte es für dich, ich könnte sonst Schwierigkeiten bekommen.»

Sie trat auf die Bremse, wich einem Betonmischer aus, der ihnen in scharfem Tempo entgegenkam. «Arsch!», schrie sie.

«Offenbar bauen sie da oben», bemerkte Robert.

«Du wirst das Dorf nicht wieder erkennen. Ferienhäuser, Heimatstil in Beton, eine neue Schule mit Turnhalle. Die Kapelle ist renoviert. Es ist jetzt schick, dort zu heiraten.»

Sie erinnerte sich eine Sekunde an den Fremden, der anders war als die Männer, die sie bisher gekannt hatte, schlank und sportlich, aber ohne die Muskelpakete der Kletterer. Ein sanfter, zärtlicher Mensch, so schien es. Ingenieur, irgendwer von irgendwo. Er erschien ihr wie aus dem Film eines andern Lebens, in dem es keine Felsen gab, keine Kletterrouten und Schwierigkeitsgrade.

Hinter einer Krete tauchte das Dorf auf, von der Sonne geschwärzte Fachwerkhäuser, die sich um den Glockenturm der Kapelle scharten. An der Strasse terrassenförmig angelegte Feriensiedlungen, darüber am kahlen Hang Villen auf Betonstelzen mit Terrassen, Erkern und Türmchen.

«Hier haben Spekulanten gewütet», rief Robert aus, «Betonköpfe.»

«Vom Zementwerk?»

«Gewiss haben die dran verdient. Wo Beton ist, da ist Lévi.»

«Das Dorf wäre ausgestorben ohne die Neubauten.» Andrea erklärte ihm, dass auch die Alpstrasse notwendig gewesen sei. Ohne Zufahrt wäre die Alpwirtschaft nicht mehr rentabel.

«So können die Bergführer ihre Gäste bequem zu den Felsen kutschieren, gell? Ist auch Baumberger mit dem Wagen bis zur Alp gefahren?»

«Nein. Private bekommen keine Bewilligung. Er musste den ganzen Weg bis ins Dorf zurücklaufen, um Hilfe zu holen. Hatte nicht mal ein Handy dabei.»

«Ich bin sicher, er hat eines.»

«Warum meinst du?»

«Leute wie er haben eines.»

«Kann man das feststellen?»

«Nur wenn er eine registrierte Nummer hat.»

11

Kühe standen bei den Alphütten, glotzten herüber, als sie ausstiegen. Der Senn liess sich nicht blicken. Andrea erklärte den Weg, der von der Alp anstieg, am Fuss der Schuttkegel unter den Wänden der Plattenburg gegen Westen abbog, dann mehrere Rinnen und Runsen querte, bis er durch eine Schlucht in eine Scharte führte. Dort begann der gesicherte Klettersteig über den Grat auf den höchsten Gipfel der Bergkette, die Hohe Platte. Baumberger hatte in der «Alpenrose» erzählt, sie hätten in der Scharte umgekehrt wegen des Wetters, der Unfall sei im Abstieg geschehen.

«Er hatte doch bestimmt den Wetterbericht gehört und gewusst, dass es regnen würde.»

«Die Wirtin berichtete, er und seine Frau hätten ein paar Tage zuvor den Gipfel schon einmal bestiegen.»

«Das könnte man überprüfen. Mutter hat immer von den Gipfelbüchern erzählt, wo man sich einschreibt.»

Andrea wunderte sich, dass sie nicht selber auf diesen Gedanken gekommen war. Sie war kein Fahnder wie Robert. Und doch spürte sie, dass auch sie so etwas wie Witterung genommen hatte. Werner Baumberger, ein alter Kunde der Polizei. Claudia Lévi, die verstossene Tochter der Betonkönige. Zweite Ehe, eine Tochter. Zwei Mal kurz hintereinander unternehmen sie dieselbe Wanderung. Ein stilles Paar, das kaum miteinander spricht. Ein Stein, der fällt. Ein Rätsel. Die Spur führte wie eine Kletterroute zu einer Schlüsselstelle, die zu überwinden schwierig erscheint. Man sieht da einen Griff, dort einen Tritt, doch sie passen nicht zusammen. Man versucht, höher zu kommen, scheitert, packt wieder an und wieder. Man kann nicht loslassen, bis man die richtige Kombination entdeckt, den Schlüssel, um die Stelle zu schaffen. Andrea wollte das Rätsel lösen, wie Claudia Baumberger zu Tode gekommen war, wer den Stein auf sie geschleudert hatte und warum. Ein Zufall der Natur oder die Absicht eines Menschen.

In Gedanken versunken erreichte sie den Fuss der Geröllhalde, wo der Weg nach Westen abbog. Hoch über ihr ragte die Sila auf, in eigenartig fahles Licht gehüllt. Aufziehende Zirren hatten sich vor die Sonne geschoben und filterten ihre Strahlen. Alle Konturen erschienen verwischt, Licht und Schatten verschmolzen, und der Felspfeiler sah aus, als ob er mit der Wand verwachsen wäre. Sie hörte Stimmen, leises Klirren in der Höhe. Eine Seilschaft kletterte in den gelben Überhängen links der klassischen Westwand. Sie hatte die Route mit Stef geklettert, «on sight», also alle Stellen im ersten Anlauf in freier Kletterei. Ein Erfolg, der selbst ausländischen Kletterzeitschriften eine Notiz wert war. Sie hatte die Seilschaft geführt, Stef war gefolgt, hatte gesichert. Schon damals hatte sie grösseren Ehrgeiz als er entwickelt, war stärker geklettert, und schliesslich war ihre Beziehung daran zerbrochen.

Andrea war zu schnell gestiegen. Sie sah ihren Vater weit unten auftauchen. Ohne Hut und leicht schwankend stapfte er den Weg bergan. Er blieb stehen, stützte sich auf seinen Stock und schien schwer zu atmen. Sie winkte, und er hob den Stock, versuchte ein paar Schritte, setzte sich auf eine Steinplatte und liess seinen Kopf hängen.

Sie eilte zurück, fand ihn keuchend und am Ende seiner Kraft. Schweiss rann über seine Stirn und seine Schläfen, in seinen Mundwinkeln hatte sich Speichel gesammelt. Leise schimpfte er vor sich hin. Sie kauerte sich neben ihn, legte ihren Arm um seinen breiten Rücken. «Quäl dich nicht, Robert. Wenn es nicht geht, kehren wir um.»

«Ich rauche zu viel, ich fresse zu viel, ich saufe zu viel.» Sein Körper begann zu beben, er schluchzte auf, verbarg sein Gesicht in den Händen. Sie kniete neben ihm auf dem kalten Stein und wusste nicht, was sie sagen oder tun sollte. Es war, als breche die Einsamkeit und Not aus ihm heraus, die sich seit dem Tod der Mutter angestaut hatte. Vielleicht war es die Landschaft, die ihn erinnerte, sein schwerer Körper, der ihm zu schaffen machte, vielleicht hatte es mit Ning zu tun, dem lächelnden Engel aus einer andern Welt, der auf unergründlichen Wegen zu ihm gefunden hatte.

 

Sie stand auf, blickte zum Berg, sah die zwei farbigen Punkte in der überhängenden Wand und wünschte sich, dort zu sein, zu klettern. Sie fuhr ihrem Vater über den Rücken, spürte seine Spannung wiederkehren. Er richtete sich auf, lächelte, hob seine Brille von der Nase und putzte sie mit einem Taschentuch, bevor er sich schnäuzte.

«Der Mensch wird alt», murmelte er, «dagegen hilft kein Kraut.» Er rappelte sich hoch. «Ich schaffe das nicht mit dem Atem. Weiss der Teufel, was mit mir ist.» Er drückte beide Hände aufs Brustbein. «Ein Schmerz, hier irgendwo. Herz, Lunge. Weiss der Teufel. Oder der liebe Gott.»

Als sie zur Alp kamen, sah Andrea, dass der Zaun um den Parkplatz an einer Stelle niedergerissen war. Kühe umstanden den Jeep, auf einer Seite war der Schriftzug «Rock’n’ Ice» von ihren Hörnern verschrammt. Die Kühe blickten sie dumm und beinahe schuldbewusst an. Sie trieb sie zu den Alphütten hinüber, stiess eine Tür auf. «Ist jemand da?», rief sie in den dunklen Raum, der nach Käse und kalter Asche roch, doch zeigte sich niemand.

Ihr Vater stand beim Zaun, betrachtete einen Pfahl, der am Boden lag. «Den hat jemand absichtlich herausgezogen.»

«Glaubst du?»

«Dazu brauchts zwei Hände. Ich glaube nicht, dass das eine Kuh mit ihren Hufen fertig gebracht hätte.»

«Und warum sollte jemand den Pfahl herausziehen?»

Ihr Vater zeigte auf die zerkratzte Seitentür des Jeeps. «Kann sein, dass es jemanden stört, wenn eine Frau Bergführer spielt. Oder jemand mag keine Polizisten auf der Alp. Es ist eine Botschaft. Irgendwann wirst du sie verstehen.»

Das Wetter hatte umgeschlagen. Die Zirren bedeckten den Himmel vollständig, die Sonne schwamm als bleiche Scheibe im milchigen Licht, umkränzt von einem regenbogenfarbenen Hof.

«Ist vielleicht besser, dass wir umgekehrt sind», sagte Andrea. «Bald wird es regnen.»

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