Edgar Wallace - Gesammelte Werke

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15.

Die letzten Nebelschwaden waren verschwunden, als Tarling am nächsten Morgen aus dem Fenster seines Schlafzimmers schaute. Die Straßen waren voll von hellem Sonnenschein durchflutet, und eine warme schöne Frühlingsluft stimmte die geduldigen Londoner nach den dichten Winternebeln froh und heiter.

Tarling reckte sich und gähnte. Er freute sich seines Lebens. Dann kleidete er sich an und frühstückte. Ling Chu bediente ihn dabei.

Der Chinese stand in seinem blauseidenen Gewand hinter dem Stuhl seines Herrn, goß Tee ein und legte eine Zeitung auf die eine Seite des Tisches, die Briefe auf die andere. Tarling hatte schweigend gegessen.

»Ling Chu«, sagte er jetzt, »ich werde meinen Namen als Jäger der Menschen verlieren, denn dieser Fall gibt mir größere Rätsel auf als irgendein anderer.«

»Herr«, erwiderte der Chinese, »in allen diesen Fällen kommt ein Augenblick, in dem man fühlt, daß man eine Pause machen und sich auf sich selbst besinnen muß. Ich selbst hatte dieses Gefühl, als ich hinter Wu Fung her war, dem Würger von Hankau. Und doch habe ich ihn eines Tages gefunden, und er schläft jetzt in den Gefilden der Nacht«, setzte er mit philosophischer Ruhe hinzu.

Er benützte den schönen symbolischen Ausdruck, mit dem die Chinesen den Tod bezeichnen.

»Gestern habe ich die kleine junge Frau gefunden«, sagte Tarling nach einer Pause. Er meinte Odette Rider.

»Du magst die kleine junge Frau gefunden haben, aber damit hast du noch nicht den Mörder gefunden«, erwiderte Ling Chu, der an der Seite des Tisches stand und seine Hände respektvoll in den weiten Ärmeln verbarg. »Denn die kleine Frau hat den Mann mit dem weißen Gesicht nicht umgebracht.«

»Woher weißt du denn das?«

»Die kleine junge Frau hat nicht genug Kraft, Herr, auch hat sie nicht genügend Verstand, um einen schnellen Wagen zu fahren.«

»Meinst du damit ein Auto?« fragte Tarling schnell, und Ling Chu nickte.

»Daran habe ich noch gar nicht gedacht. Natürlich, der Mörder Thronton Lynes muß ja auch das Auto zum Hydepark gefahren haben. Aber woher weißt du denn, daß sie das nicht kann?«

»Ich habe mich danach erkundigt«, sagte der Chinese einfach. »Viele Leute in dem großen Geschäft kennen die kleine junge Frau, und sie haben mir alle gesagt, daß sie es nicht kann.«

Tarling dachte eine Weile nach.

»Ja, das stimmt, die kleine junge Frau hat den Mann mit dem weißen Gesicht nicht getötet, denn sie war viele Meilen weit entfernt, als der Mord geschah. Es bleibt aber immer noch die Frage offen, wer es getan hat.«

»Das wird der Jäger der Menschen noch entdecken«, sagte Ling Chu zuversichtlich.

»Wir wollen sehen«, meinte Tarling.

Er kleidete sich an und ging nach Scotland Yard, wo er sich mit Whiteside verabredet hatte. Später wollte er Odette Rider in die Polizeidirektion begleiten. Als Tarling in das Büro trat, besah sich Whiteside gerade einen Gegenstand, der auf einem Stück Papier vor ihm lag und matt glänzte. Es war eine kurze automatische Pistole.

»Hallo!« rief Tarling interessiert. »Ist das die Waffe, mit der Thornton Lyne ermordet wurde?«

»Ja, wir haben sie in dem Nähkorb von Miss Rider gefunden«, erwiderte Whiteside.

»Die Pistole kommt mir so bekannt vor«, sagte Tarling und nahm die Waffe in die Hand. »Ist sie noch geladen?«

»Nein, ich habe alle Patronen und auch das Magazin entfernt.«

»Sie haben wahrscheinlich die Beschreibung der Pistole und ihre Fabriknummer schon allen Waffenschmieden bekanntgegeben?«

Whiteside nickte.

»Es wird zwar nicht viel nützen, denn es ist eine amerikanische Pistole, und wenn sie nicht in England gekauft worden ist, haben wir wenig Aussicht, den Besitzer festzustellen.«

Tarling betrachtete die Waffe von allen Seiten.

Als er den Handgriff der Pistole näher untersuchte, stieß er plötzlich einen Ausruf aus. Whiteside war auch aufmerksam geworden und entdeckte zwei tiefe Rillen, die quer über den Griff liefen.

»Was ist denn das?« fragte er.

»Es sieht so aus, als ob vor Jahren zwei Geschosse auf den Besitzer dieser Waffe abgefeuert worden wären, die aber nicht ihn, sondern nur den Pistolengriff trafen.«

Whiteside mußte lachen.

»Woher wollen Sie denn das wissen, Mr. Tarling?« fragte er. »Sind das Schlußfolgerungen?«

»Nein, das ist eine Tatsache. Die Pistole gehört nämlich mir!«

16.

»Das ist Ihre Waffe?« fragte Whiteside ungläubig. »Mein lieber Freund, sind Sie nicht ganz bei Sinnen? Wie kann denn das Ihre Pistole sein?«

»Es ist trotzdem meine Pistole«, entgegnete Tarling ruhig. »Ich habe sie gleich erkannt, als ich sie auf dem Schreibtisch liegen sah, aber ich dachte, ich würde mich irren. Diese Kugelspuren beweisen, daß ein Irrtum ausgeschlossen ist. Diese Pistole war mein treuester Freund, ich habe sie sechs Jahre in China mit mir herumgetragen.«

Whiteside war fast atemlos.

»Das würde also bedeuten, daß Thornton Lyne mit Ihrer Pistole ermordet wurde?«

Tarling nickte.

»Es ist erstaunlich, aber es ist zweifellos meine Waffe, und es ist auch dieselbe, die in der Wohnung von Miss Rider gefunden wurde. Ich zweifle auch nicht im mindesten daran, daß der tödliche Schuß aus dieser Pistole abgegeben wurde.«

Ein langes Schweigen trat ein.

»Nun, das wirft meine ganzen Theorien über den Haufen«, erklärte Whiteside und legte die Waffe wieder auf den Tisch.

»Wir stoßen auf immer neue Geheimnisse bei der Bearbeitung dieses Falles. Das ist die zweite unglaubliche Geschichte, die mir heute vorgekommen ist.«

»Die zweite?« fragte Tarling.

Er fragte es ganz gleichgültig, denn seine Gedanken waren noch immer mit dieser Entdeckung beschäftigt, die der ganzen Sache ein anderes Ansehen gab und für ihn recht unangenehm war. Thornton Lyne war mit seiner Pistole ermordet worden!

»Jawohl, die zweite Überraschung«, bestätigte Whiteside.

Mit Gewalt riß sich Tarling von seinen Grübeleien los.

»Können Sie sich hierauf noch besinnen?« fragte Whiteside. Er öffnete einen Geldschrank und nahm ein großes Kuvert heraus, aus dem er ein Telegramm hervorzog.

»Ja, das ist das Telegramm, in dem Odette Rider Lyne gebeten haben soll, in ihre Wohnung zu kommen. Es wurde unter den Papieren des Toten gefunden, als man das Haus durchsuchte.«

»Um es ganz genau zu sagen«, verbesserte Whiteside, »es wurde von Lynes Hausmeister, einem gewissen Cole, gefunden. Der Mann scheint ganz ehrlich zu sein, und es kann nicht der mindeste Verdacht auf ihn fallen. Ich hatte ihn heute morgen hierherbestellt, um ihn noch genauer auszufragen, ob er etwas Näheres darüber wüßte, wo Lyne an dem Abend hingegangen sein könnte. Er wartet im Nebenraum. Ich werde ihn rufen lassen.«

Er klingelte und gab dem uniformierten Polizisten, der hereinkam, einen Auftrag.

Gleich darauf wurde die Tür geöffnet, und der Beamte führte einen gutaussehenden Mann in mittlerem Alter herein, dem man seinen Beruf schon von weitem ansah.

»Berichten Sie Mr. Tarling auch, was Sie mir erzählt haben«, sagte Whiteside.

»Meinen Sie das Telegramm?« fragte Cole. »Ja, ich fürchte, ich habe einen Fehler gemacht, aber ich war durch die schrecklichen Ereignisse so verwirrt und hatte dadurch ein wenig den Kopf verloren.«

»Was ist denn mit dem Telegramm?« fragte Tarling.

»Ich brachte dieses Telegramm einen Tag nach dem Mord zu Mr. Whiteside. Aber ich habe dabei eine falsche Aussage gemacht. Das ist mir früher nie passiert, aber ich sage Ihnen, die polizeilichen Verhöre haben mich verwirrt.«

»Worauf bezog sich denn Ihre falsche Angabe?« fragte Tarling schnell.

»Sehen Sie, Sir«, sagte der Hausmeister und drehte nervös seinen Hut in den Händen, »ich habe damals ausgesagt, daß Mr. Lyne es geöffnet hätte. Aber in Wirklichkeit wurde es erst eine Viertelstunde nach der Abfahrt von Mr. Lyne abgegeben. Ich habe es dann nämlich selbst geöffnet, als ich von dem Mord hörte. Ich dachte aber, ich würde in Unannehmlichkeiten kommen, weil ich mich um Sachen kümmerte, die mich nichts angingen, und so habe ich Mr. Whiteside erzählt, daß Mr. Lyne es selbst aufgemacht habe.«

»Also hat er das Telegramm gar nicht mehr erhalten?« fragte Tarling.

»Nein, Sir.«

Die beiden Detektive sahen sich erstaunt an.

»Was halten Sie davon, Whiteside?«

»Ich wäre glücklich, wenn ich das erklären könnte. Das Telegramm war doch der schwerste Beweis gegen Miss Odette Rider. Diese neue Entdeckung entlastet sie sehr.«

»Aber auf der anderen Seite haben wir jetzt keine Erklärung mehr, warum Lyne an dem Abend in die Wohnung von Miss Rider ging. Sind Sie auch sicher, Cole, daß Mr. Lyne das Telegramm nicht erhalten hat?«

»Durchaus, Sir«, entgegnete Cole. »Ich habe es selbst in Empfang genommen. Als Mr. Lyne fortgefahren war, ging ich zur Haustür, um ein wenig frische Luft zu schöpfen, und stand gerade auf der Treppe, als der Bote es brachte. Wenn Sie genau auf dem Formular nachsehen, werden Sie finden, daß es um neun Uhr zwanzig aufgenommen wurde. Zu dieser Zeit lief es in unserem Postamt ein. Die Postanstalt liegt ungefähr zwei Meilen von uns entfernt, und so war es doch ganz ausgeschlossen, daß es noch in unserer Wohnung ankommen konnte, solange Mr. Lyne zu Hause war. Ich bin auch sehr verwundert, daß Sie diese Tatsache bisher übersehen haben.«

»Da haben Sie recht«, gab Tarling lächelnd zu. »Ich danke Ihnen, Cole. Ihre Aussagen genügen vollkommen.«

Als der Mann gegangen war, setzte er sich Whiteside gegenüber und steckte die Hände in die Taschen.

»Ich kenne mich jetzt überhaupt nicht mehr aus«, sagte er dann. »Ich werde einmal die Situation skizzieren, Whiteside. Der Fall wird jetzt so kompliziert, daß ich schon die einfachsten Dinge vergesse. Am Abend des 14. wurde Thornton Lyne von einer oder mehreren bis jetzt unbekannten Personen ermordet, wahrscheinlich in der Wohnung von Odette Rider, seiner früheren Kassiererin. Eine große Blutlache wurde auf dem Teppich gefunden, die Pistole wurde in der Wohnung entdeckt, auch das Geschoß. Niemand hat gesehen, wie Mr. Lyne in das Haus kam oder wie er es wieder verließ. Am nächsten Morgen wurde er im Hydepark ohne Rock und Weste aufgefunden. Das seidene Nachthemd einer Dame war um seine Brust geschlungen, und zwei Taschentücher von Odette Rider lagen auf der Wunde, auf seiner Brust fand man einen Strauß gelber Narzissen, und in seinem Wagen lagen Rock, Weste und Stiefel. Und dieser Wagen stand etwa hundert Meter von dem Fundort der Leiche entfernt. Habe ich alles richtig gesagt?«

 

Whiteside nickte. »Sie haben alles sehr gut behalten.«

»Bei der Untersuchung des Schlafzimmers, in dem das Verbrechen begangen wurde, wird ein blutiger Daumenabdruck auf der weißen Kommodenschublade gefunden. Ein kleiner Koffer liegt halb gepackt auf dem Bett. Es wird festgestellt, daß er Odette Rider gehört. Später findet sich dann auch die Pistole in dem Nähkorb der jungen Dame, verborgen unter allerhand Stoffen. Die Pistole wird als mein Eigentum erkannt. Zuerst häufen sich die Verdachtsgründe derart, daß man annehmen muß, Miss Rider sei die Mörderin. Die Beschuldigung läßt sich aber nicht aufrechterhalten, denn erstens lag sie bewußtlos in einem Hospital in Ashford, als der Mord begangen wurde, ferner wurde ein Telegramm von Lynes Hausmeister gefunden, das angeblich von ihr aufgegeben sein soll und in dem sie Lyne aufforderte, in ihre Wohnung zu kommen. Dieses Telegramm wurde aber dem Ermordeten nicht persönlich überreicht.«

Tarling erhob sich.

»Kommen Sie mit, wir wollen zu Cresswell gehen. Diese Sache macht mich noch vollständig verrückt.«

Der hohe Beamte hörte sich die Geschichte, die ihm die beiden vortrugen, ruhig an. Man merkte nicht im mindesten, daß er irgendwie erstaunt war.

»Es hat fast den Anschein, als ob dieser Mord in der Kriminalgeschichte noch berühmt werden wird. Natürlich kann man gegen Miss Rider nicht weiter vorgehen, und es war sehr klug von Ihnen, daß Sie die Verhaftung nicht vornahmen. Trotzdem muß sie aber unter Beobachtung bleiben, da sie offensichtlich den Mörder kennt oder ihn zu kennen glaubt. Sie muß Tag und Nacht bewacht werden – früher oder später werden wir dann den Mann herausfinden, den sie im Verdacht hat.

Es ist besser, daß Whiteside sich das nächstemal mit ihr unterhält«, wandte er sich an Tarling. »Vielleicht kann er mehr aus ihr herausholen. Ich glaube zwar nicht, daß es großen Zweck hat, sie ins Polizeipräsidium zu bringen. Nebenbei, Tarling, alle Rechnungsbücher des Geschäftshauses Lyne sind der bekannten Firma Dashwood & Solomon in St. Mary Axe übergeben worden, damit sie dort geprüft werden. Wenn Sie den Verdacht haben, daß Angestellte die Firma benachteiligt haben und daß diese Diebstähle mit dem Mord etwas zu tun haben sollten, wird Ihnen das Resultat der Untersuchung jedenfalls nützlich sein.«

Tarling nickte.

»Wie lange wird die Prüfung dauern?« fragte er.

»Die Bücherrevisoren haben eine Woche dafür angesetzt. Die Bücher sind heute morgen zu der Firma hingebracht worden. Das erinnert mich übrigens an Ihren Freund, Mr. Milburgh. Er hat der Polizei bereitwilligst alle Auskünfte gegeben, so daß sie sich ein klares Bild von der finanziellen Lage des Geschäfts machen kann.«

Cresswell lehnte sich in seinen Sessel zurück und sah Tarling an.

»Es war also Ihre Waffe, mit der der Mord begangen wurde?« sagte er mit einem kleinen Lächeln. »Das scheint für Sie recht unangenehm zu sein.«

»Ich weiß auch nicht, was ich daraus machen soll«, erwiderte Tarling lachend. »Ich gehe jetzt heim und stelle sofort Nachforschungen an, wie meine Pistole dorthinkommen kann. Ich kann mich noch genau darauf besinnen, daß ich sie vor vierzehn Tagen herausnahm und zu einem Waffenschmied schickte, der sie ölen sollte.«

»Wo verwahren Sie gewöhnlich die Pistole?«

»In einer Kommode bei all den anderen Andenken an Schanghai. Niemand außer Ling Chu hat Zutritt zu meinem Zimmer, und der Chinese ist immer in der Wohnung, wenn ich ausgehe.«

»Sprechen Sie von Ihrem chinesischen Diener?«

»Er ist nicht gerade mein Diener«, sagte Tarling lächelnd. »Er ist einer der besten eingeborenen Detektive und hat schon viele Verbrecher gefangen und überführt. Er ist absolut zuverlässig, und ich kann ihm unter allen Umständen trauen.«

»Mr. Lyne ist also mit Ihrer Pistole ermordet worden?« fragte Cresswell wieder. Es trat eine kleine Pause ein.

»Vermutlich fällt Lynes ganzes Vermögen an die Krone«, fuhr Cresswell fort. »Soviel ich weiß, hinterläßt er keine Verwandten oder Erben.«

»Das stimmt nicht«, sagte Tarling ruhig.

Cresswell sah ihn erstaunt an.

»Hat er doch einen Erben?«

»Er hat einen Vetter«, entgegnete Tarling lächelnd, »der leider nahe genug mit ihm verwandt ist, um sich als Erbe der Lyneschen Millionen legitimieren zu können.«

»Warum leider?« fragte Cresswell.

»Weil ich dieser Erbe bin«, antwortete Tarling.

17.

Tarling verließ die Polizeidirektion und ging an dem sonnenbeschienenen Themseufer entlang. Er war aufgeregt und sagte sich selbst, daß die Aufklärung dieses Falles über seine Kräfte hinausginge. Der hohe Polizeibeamte hatte ihn merkwürdig angesehen, als er erfuhr, daß der alleinige Erbe des großen Vermögens der Detektiv war, der diesen Mord aufklären wollte. Obendrein hatte man seinen Revolver in dem Zimmer gefunden, in dem der Mord begangen wurde.

Er mußte über dieses Zusammentreffen lächeln. Nun war einmal die Reihe an ihm, ungerechterweise in Verdacht zu kommen, und er mußte plötzlich daran denken, wie viele Menschen er wohl schon während seiner Laufbahn fälschlich verdächtigt hatte.

Er stieg die Treppe zu seiner Wohnung hinauf und fand Ling Chu damit beschäftigt, Silber zu putzen. Ling Chu war eigentlich ein Diebsfänger und in seiner Art ein großer Detektiv, er hatte aber nebenbei auch die Aufgabe übernommen, sich um das persönliche Wohlbefinden Tarlings zu kümmern. Tarling sprach kein Wort, sondern ging geradenwegs in sein Zimmer und öffnete eine Kommode. In einer besonderen Schublade lagen seine weißen Tropenanzüge, tadellos sauber und peinlich geglättet. Sein Tropenhelm hing an einem Haken und daneben seine lederne Revolvertasche. Er nahm sie herunter und sah, daß die Tasche leer war. Er hatte es auch gar nicht anders erwartet.

»Ling Chu«, sagte er ruhig.

»Ich höre dich, Lieh Jen«, sagte der Chinese und legte Löffel und Putzzeug beiseite.

»Wo ist mein Revolver?«

»Er ist fort, Lieh Jen.«

»Seit wann ist er fort?«

»Seit vier Tagen«, sagte Ling Chu gelassen.

»Wer hat ihn fortgenommen?«

»Ich vermisse ihn seit vier Tagen.«

Eine Pause trat ein, dann nickte Tarling langsam.

»Es ist gut, Ling Chu. Wir wollen nicht mehr darüber sprechen.«

Trotz seiner äußeren Ruhe war er sehr bestürzt.

War es möglich, daß jemand in der Abwesenheit Ling Chus in den Raum gekommen war? Sie waren doch nur einmal zusammen ausgegangen, an jenem Abend, als er zum erstenmal Odette Rider besuchte und Ling Chu hinter ihm herging.

Ling Chu selbst –?

Er verwarf diesen Gedanken sofort als vollständig sinnlos und absurd. Welches Interesse sollte denn Ling Chu an dem Tod Lynes haben, den er nur einmal gesehen hatte, als Thornton Lyne ihn zu sich gerufen hatte.

Es war ein unmöglicher Verdacht, aber trotzdem kam er nicht davon los. Schließlich schickte er Ling Chu mit einer gleichgültigen Nachricht nach Scotland Yard. Er war entschlossen, selbst dieser unwahrscheinlichen Theorie nachzugehen und sie soweit als möglich zu prüfen.

Tarlings Wohnung bestand aus vier Zimmern und einer Küche. Sein Schlafzimmer stand in Verbindung mit dem Eß- und Wohnzimmer. Außerdem war noch ein Raum vorhanden, in dem er seine Kisten und Koffer aufbewahrte. Hier hatte er auch seinen Revolver verwahrt. Das vierte Zimmer bewohnte Ling Chu.

Tarling wartete, bis der Chinese das Haus verlassen hatte, dann stand er auf und begann seine Nachforschungen.

Ling Chus Zimmer war nicht groß, aber peinlich und gewissenhaft saubergehalten. Außer einem Bett, einem Tisch, einem Stuhl und einem einfachen schwarz angestrichenen Kasten unter dem Bett befanden sich keine Möbel in dem Raum. Den gescheuerten Fußboden bedeckte eine schöne chinesische Matte. Der einzige Schmuck des Zimmers bestand in einer kleinen roten Vase, die auf dem Kamin stand.

Tarling ging zu der äußeren Wohnungstür und schloß sie ab, bevor er seine Nachforschungen fortführte. Wenn überhaupt etwas zu finden war, was das Geheimnis des gestohlenen Revolvers aufklären konnte, so mußte er es in der schwarzen Kiste entdecken.

Sie war gut verschlossen, und es dauerte zehn Minuten, bis er einen Schlüssel fand, der zu den beiden Schlössern paßte.

Der Kasten enthielt nicht viel. Ling Chu hatte keine große Garderobe, seine Kleider nahmen kaum die Hälfte des Platzes ein. Tarling hob äußerst vorsichtig die Anzüge, die seidenen Tücher, die Schuhe und alle die vielen kleinen Toilettengegenstände heraus, die der Chinese brauchte. Er kam bald zu der unteren Abteilung, wo er zwei unverschlossene Lackkästen fand.

Der erste enthielt Nähmaterial, der zweite ein kleines Bündel, das sauber in chinesisches Papier eingepackt und mit einem Band zugeschnürt war. Tarling löste den Knoten, öffnete das Päckchen und sah zu seinem Erstaunen eine Menge von Zeitungsausschnitten vor sich. Hauptsächlich waren es Ausschnitte aus chinesischen Blättern, aber einige stammten auch aus einer englischen Zeitung, die in Schanghai erschien.

Er dachte zuerst, daß es Berichte über Fälle seien, an denen Ling Chu beteiligt war. Und obwohl er sich darüber wunderte, daß ein Chinese sich die Mühe machte, diese Andenken zu sammeln, besonders die Zeitungsausschnitte in englischer Sprache, dachte er doch nicht daran, daß diese Papiere irgendeine Bedeutung haben könnten. Aber er wollte irgendeinen Anhaltspunkt finden, er wußte selbst nicht welchen, der ihm eine ausreichende Erklärung für das Verschwinden seiner Pistole geben könnte.

Er sah zuerst oberflächlich die englischen Ausschnitte durch, aber plötzlich wurde sein Interesse wach.

›Gestern abend gab es einen Aufruhr in Ho Hans Teehaus. Ein englischer Besucher brachte dem Tanzmädchen, der kleinen Narzisse, wie sie von den Fremden genannt wird, anscheinend ein zu großes Interesse entgegen.‹

Die kleine Narzisse! Tarling ließ den Zeitungsausschnitt sinken und suchte sich an die Einzelheiten zu erinnern. Er kannte Schanghai und seine geheimnisvolle Unterwelt gut, und auch Ho Hans Teehaus war ihm vertraut, das in Wirklichkeit eine Opiumhöhle war. Kurz vor seiner Abreise hatte er das herausgefunden, und das Lokal war geschlossen worden. Er konnte sich noch gut auf das hübsche Tanzmädchen besinnen. Er hatte sich niemals näher mit ihr befaßt, denn wenn er dieses Lokal aufsuchen mußte, hatte er gewöhnlich wichtigere Dinge zu erledigen, als sich um das hübsche kleine Tanzmädchen zu kümmern.

An alles erinnerte er sich plötzlich wieder. Im englischen Klub hatte er gehört, wie sich die Herren über die Vorzüge, Grazie und Schönheit dieser kleinen Chinesin unterhielten. Als sie zum erstenmal auftrat, erregten ihre Tänze großes Aufsehen unter den jungen Engländern.

Der nächste Ausschnitt war auch der englischen Zeitung entnommen.

›Ein trauriger Vorfall ereignete sich heute morgen. Ein junges chinesisches Mädchen, O Ling, die Schwester des Polizeiinspektors Ling Chu, wurde sterbend in dem Hinterhof von Ho Hans Teehaus aufgefunden. Das Mädchen war dort als Tänzerin angestellt, sehr gegen den Willen ihres Bruders. Sie war die indirekte Veranlassung zu einem recht unangenehmen Auftritt, über den wir vorige Woche berichtet haben. Man nimmt an, daß diese tragische Tat einer der Selbstmorde war, um das Gesicht zu retten, wie sie unter den eingeborenen Frauen in diesem Lande leider sehr häufig vorkommen.‹

Tarling pfiff vor sich hin.

Die kleine Narzisse! Sie war also die Schwester Ling Chus gewesen! Er kannte die Chinesen ein wenig, kannte ihre unendliche Geduld und ihren Haß, der niemals vergibt. Der ermordete Thornton Lyne hatte nicht nur die Tänzerin tödlich beleidigt, sondern auch ihre ganze Familie! In China beleidigt man nicht nur den einzelnen, sondern eine Gesamtheit. Und dieses Mädchen hatte in dem Bewußtsein der Schande, die auf ihren Bruder fiel, den einzigen Ausweg gewählt, der ihr als Chinesin übrigblieb.

 

Aber welcher Art mochte die Kränkung gewesen sein? Tarling suchte in den chinesischen Zeitungsausschnitten und fand auch verschiedene Erzählungen in blumenreicher Sprache. Alle stimmten darin überein, daß ein Engländer, ein Tourist, diesem Mädchen öffentlich den Hof gemacht habe. Das war allerdings vom Standpunkt eines Europäers aus keine große Beleidigung. Ein Chinese war dazwischengetreten, dann hatte es einen allgemeinen Aufruhr gegeben.

Tarling las alle Zeitungsausschnitte von Anfang bis Ende durch, legte sie dann wieder sorgsam in den Umschlag zurück und steckte diesen in den Lackkasten. Er packte alles wieder so vorsichtig wie möglich ein, legte es genauso hin, wie er es herausgenommen hatte, verschloß den schwarzen Kasten und stellte ihn unter das Bett. Er versuchte sich ein Bild der ganzen Vorgänge zu machen. Ling Chu hatte Thornton Lyne gesehen und ihm Rache geschworen. Tarlings Revolver zu entwenden war eine leichte Sache. Aber warum hatte er die Waffe am Tatort zurückgelassen, wenn er Lyne ermordete? Das sah Ling Chu nicht ähnlich, so konnte nur ein Laie handeln.

Und wie mochte es ihm gelungen sein, Thornton Lyne in die Wohnung zu locken? Wie konnte er wissen – plötzlich kam Tarling ein Gedanke.

Noch kurz vor dem Mord hatte Ling Chu mit ihm über die Unterredung in dem Privatbüro Lynes gesprochen. Er hatte damals die Situation klar erkannt. Ling Chu wußte, daß Thornton Lyne in Odette verliebt war und sie haben wollte. Es wäre nicht weiter verwunderlich gewesen, wenn er die Kenntnisse zu seinem eigenen Vorteil ausgenutzt hätte.

Aber das Telegramm, das Lyne in die Wohnung bringen sollte, war englisch abgefaßt, und Ling Chu verstand doch diese Sprache kaum. Hier kam Tarling wieder auf den toten Punkt. Obwohl er diesem Chinesen sein eigenes Leben anvertrauen konnte, war er sich vollkommen darüber klar, daß er ihm nicht alles offenbarte, was er wußte. Es war leicht möglich, daß Ling Chu die englische Sprache genausogut beherrschte wie seine Muttersprache und die andern hauptsächlichen Dialekte von China.

»Ich gebe es auf«, sagte Tarling verzweifelt zu sich selbst.

Er war unentschlossen, ob er auf die Rückkehr seines Assistenten warten und ihm das Verbrechen auf den Kopf zusagen oder ob er die Sache einige Tage ruhig gehen lassen und erst Odette Rider besuchen sollte. Er entschied sich für das letztere, hinterließ eine kurze Notiz für Ling Chu und war eine Viertelstunde später schon in dem kleinen Hotel angekommen.

Odette Rider wartete auf ihn. Sie sah blaß und müde aus, als ob sie in der vergangenen Nacht wenig geschlafen hätte, aber sie grüßte ihn mit dem freundlichen Lächeln, das er an ihr kannte.

»Ich kann Ihnen die angenehme Nachricht bringen, daß Sie nicht nach Scotland Yard gehen müssen und Ihnen das Verhör dort erspart bleibt«, sagte er lachend. Er las in ihren Augen, wie sehr sie sich über diese Mitteilung freute.

»Sind Sie heute morgen spazierengegangen?« fragte er in aller Unschuld. Aber über diese Frage mußte sie lachen.

»Sie wissen doch ganz genau, daß ich nicht ausgegangen bin, ebenso wissen Sie, daß drei Detektive von Scotland Yard das Hotel bewachen. Die Leute würden mir doch unweigerlich auf dem Fuß folgen, wenn ich das Hotel verließe und einen Spaziergang machte.«

»Woher haben Sie denn das erfahren?« fragte er, ohne die Tatsache zu leugnen.

»Weil ich ausgegangen bin«, sagte sie naiv und lachte wieder. »Sie sind wirklich nicht so schlau, wie ich annahm. Ich erwartete eben, als ich Ihnen sagte, ich sei nicht ausgegangen, daß Sie mir genau erzählten, wohin ich gegangen sei und was ich eingekauft hätte.«

»Wenn Sie es unbedingt wissen wollen – Sie haben grüne Seide, sechs Taschentücher und eine Zahnbürste gekauft«, erwiderte Tarling prompt.

»Ich hätte Sie also doch besser kennen sollen«, sagte sie, »Sie haben diese Spione aufgestellt?«

»Wie man es nimmt«, antwortete er vergnügt. »Ich habe nur eben mit dem Empfangschef unten in der Halle gesprochen, der hat mir allerhand erzählt. Ist er Ihnen etwa bei Ihren Einkäufen gefolgt?«

»Nein, ich habe niemanden gesehen«, gestand sie ihm ein, »obgleich ich mich sehr sorgsam umgesehen habe. Sagen Sie mir aber jetzt bitte, was Sie mit mir anfangen wollen?«

Statt jeder Antwort nahm Tarling einen flachen, länglichen Kasten aus der Tasche. Sie schaute ihm verwundert zu, als er den Deckel öffnete, und sah eine Porzellanschale, die mit einer dünnen Schicht schwarzer Farbe bedeckt war, und zwei weiße Karten. Seine Hand zitterte, als er sie auf den Tisch legte, und sie verstand plötzlich die Bedeutung.

»Wollen Sie meine Fingerabdrücke nehmen?«

»Es tut mir leid, daß ich Sie darum bitten muß – aber –«

»Zeigen Sie mir nur, wie ich es machen muß«, unterbrach sie ihn, und er gab ihr die Anleitung.

Er fühlte sich nicht ganz wohl dabei – er kam sich wie ein Verräter vor. Vielleicht hatte sie seine Gedanken erkannt, denn sie lachte, als sie ihre schmutzigen Finger wieder reinigte.

»Pflicht ist Pflicht«, sagte sie etwas spöttisch. »Aber sagen Sie mir bitte, wollen Sie mich die ganze Zeit beobachten lassen?«

»Nur noch eine kleine Weile«, erwiderte Tarling ernst. »So lange, bis wir die Informationen haben, die wir brauchen.«

Er ließ den Kasten wieder in seine Tasche gleiten.

»Wollen Sie uns denn wirklich nicht Aufschluß geben? Meiner Meinung nach begehen Sie einen großen Fehler. Aber schließlich bin ich ja nicht von Ihren Angaben abhängig. Ich werde wahrscheinlich alles herausbringen, ohne daß Sie nur ein Wort sagen. Es hängt nur davon ab –«

»Wovon?« fragte sie neugierig, als er zögerte.

»Von dem, was andere mir erzählen.«

»Andere? Welche anderen meinen Sie denn?«

Sie sah ihm gerade ins Gesicht.

»Es war einmal ein berühmter Politiker, der den Ausspruch prägte: ›Warte ab und sieh zu‹«, entgegnete Tarling. »Ich möchte Sie bitten, diesem Rat zu folgen. Nun will ich Ihnen etwas sagen, Miss Rider«, fuhr er fort. »Morgen werde ich die Beobachter entfernen, aber ich ersuche Sie dringend, noch eine Weile hier im Hotel zu bleiben. Es ist ganz klar, daß Sie nicht in Ihre Wohnung zurückkehren können.«

Odette zitterte. »Sprechen Sie bitte nicht darüber«, bat sie leise. »Aber ist es denn notwendig, daß ich hierbleibe?«

»Ich wüßte auch noch eine andere Lösung«, sagte er langsam und sah sie scharf an. »Sie können auch zu Ihrer Mutter nach Hertford gehen.«

Sie blickte schnell auf. »Das ist ganz unmöglich.«

Er schwieg einen Augenblick.

»Warum schenken Sie mir Ihr Vertrauen nicht, Miss Rider? Ich würde es nicht mißbrauchen. Warum erzählen Sie mir denn nichts von Ihrem Vater?«

»Von meinem Vater?« Sie schaute ihn verwirrt an.

Er nickte.

»Aber ich habe doch keinen Vater mehr.«

»Haben Sie –« Es wurde ihm schwer, die Worte zu finden, und er vermutete, daß sie wußte, was er fragen wollte. »Haben Sie einen Verehrer?«

»Wie meinen Sie das?« fragte sie. Er merkte an dem Ton ihrer Stimme, daß sie unwillig war.

»Ich meine damit, wie Sie zu Mr. Milburgh stehen, was bedeutet er Ihnen?«

Sie sah ihn verwirrt und bestürzt an.

»Nichts!« sagte sie heiser. »Nichts! Nichts!«

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