Bunsenstraße Nr. 3

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Из серии: Lindemanns #16
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Die Kinder erzählten sich Geschichten von vergifteten Gutseln, die der Feind abwerfe, und von Puppen, die explodierten, hebe man sie vom Boden auf. Aber auch in der Erwachsenenwelt gab es erstaunliche Gerüchte. Nicht nur von der hinlänglich bekannten Geheim- und Wunderwaffe, die der eine oder andere schon am Westbahnhof unter Planen versteckt auf Güterwagen entdeckt haben wollte, oder von Messerschmittflugzeugen, die in die feindlichen Bomberverbände hineinflögen und deren Flügel abschnitten, nein, es gab auch spezielle Karlsruher Gerüchte, die ich mit spitzen Ohren verfolgte. So sollten Lampen im nördlichen Hardtwald fächerförmig aufgestellt worden sein, um den Bombern eine nördlichere Lage der Stadt vorzutäuschen. Ich fragte mich, ob denn der Herr Generalluftzeugmeister Milch nicht einmal mit Herrn Metz auf den Speicher gehen sollte, um beim Brandbombenwerfen zuzuschauen. War da nicht zuvor die Stadt taghell mit brennendem Magnesium erleuchtet worden, um den Todesvögeln den Weg zu weisen? Hätte der fixe Herr Milch sich nicht auch mal die übernächste Straße, die Körnerstraße, anschauen können? Schnurgerade waren auf beiden Seiten alle Wohnhäuser verbrannt und gesprengt. Diese Bomber waren nicht in den Hardtwald zu locken, selbst wenn dieser Trick zu Beginn des Krieges erfolgreich gewesen sein soll.

Wir haben über tausend Alarme und etwa einhundert Luftangriffe überlebt, die aus der Bunsenstraße 3. Herr Milch hat auch überlebt. Die Alliierten haben ihn gefangen und zu lebenslanger Haft verurteilt. Auch hier war Herr Milch wieder fix. In sieben Jahren war sein „Lebenslänglich“ schon vorbei!

Unseres Herzens Wonne liegt

in praesepio.

Nein, in der Bunsenstraße lag in Kriegszeiten kein Jesu parvule in einer Krippe. Bruchstückhaft erinnere ich mich an die Christfeste jener Zeit. 1941 und dann alle folgenden Jahre ohne Vater. Dennoch reich beschenkt: 1941 mit einem Pferdewagen von Steiff und einer Eisenbahn von Märklin, die, hatte man das Uhrwerk aufgezogen, tapfer eine Acht fuhr. Neben Gepäck- und Personenwagen besaß sie noch einen Niederbordwagen, auf den ein Panzer geschraubt war. Sicher zur Verstärkung von Vaters Einheit. In Vaters Kriegstagebuch zum 23. November 1941 hingegen ist zu lesen: „Doch wie gerne würde ich die Weihnachtsfreude der Buben erleben; wie sie sich über die Eisenbahn freuen, wie könnte ich mit ihnen spielen. Wie habe ich die Meinen gern!“

Bei genauem Betrachten des Weihnachtsbildes von 1942 können in unseren Händen auch Plastelin-Soldaten entdeckt werden, die im Laufe des Krieges sich zu einer ganzen Kompanie erweitern sollten. Fast hätte ich es vergessen. Natürlich war ein großer Christbaum im Speisezimmer aufgestellt, mit silbernem Lametta und allerhand bunten Kugeln behangen. Bunte Kugeln, das habe ich damals mitbekommen, waren in der Verwandtschaft nicht geschätzt. An den Weihnachtsbaum gehören silberne. Bunte Kugeln, das war vielleicht heidnischer Zierrat.

Die gerade verwitwete Oma und Onkel Walter waren zu Besuch. Der Onkel sollte auch Fotos für unseren Vater im Felde machen. Zu diesem Zweck wurde das Zimmer verdunkelt, der Verschluss der Kamera geöffnet und ein an einem Stecken befestigtes Tütchen, aus dem eine Zündschnur herauslugte, angesteckt. Es tat gleich darauf für den Bruchteil einer Sekunde einen grellen Blitz. Dann war es wieder stockdunkel, und Onkel Walter hatte an der Kamera herumzufummeln, um jetzt den Verschluss zu schließen. Was dabei herauskam, war ein erschrockenes Bibi, wie ich meinen Bruder nannte.

Was in der Busenstraße fehlte, war eine Krippe. Im Elternhaus meiner Mutter gab es ein große, die wir nach den Feiertagen gern bewunderten.

Dennoch, wir kleinen Kinder vermissten sie nicht sonderlich. Erst als ich dann ins Gymnasium kam, Ministrant geworden war und die Gruppenstunden der katholischen Jugend beim Bund Neudeutschland regelmäßig besuchte, bemerkte ich das Defizit. Krippenfiguren zu kaufen, seien sie aus Gips oder gar holzgeschnitzt, daran war überhaupt nicht zu denken. Mutter war in den Nachkriegsjahren froh, wenn sie im Tauschhandel oder, weiß Gott woher, für uns Weihnachtsgeschenke besorgen konnte.

Wieder einmal sollte ich die Erfahrung machen, dass man Defizite am besten kompensiert, indem man selbst aktiv wird. Zu jener Zeit besuchte ich im Gymnasium das „freiwillige Werken“. Mit teilweise primitiven Mitteln und geringen Werkstoffen hatte sich unser Kunstlehrer über die Runden zu retten. Nachdem ein Schnitzmesser, das übrigens noch heute in meinem Werkzeugkasten zu finden ist, auf eigene Kosten angeschafft war, galt es aus Holz Spateln zu schnitzen, die später bei Tonarbeiten behilflich sein sollten. Das war eine lange und zeitraubende Arbeit. Ich freute mich auf den Ton, der nur in kleinen Mengen in einem feuchten Metallkasten sich befand. Wir durften uns alsbald an kleinen Figuren versuchen, die leider, wenn sie fertig waren, wieder in die Kiste mussten. Andere Schüler brauchten auch Ton. In wenigen Fällen durfte man so ein Stück trocknen lassen und mit nach Hause nehmen. An ein Brennenlassen unserer Werke, war nicht zu denken, wenn auch immer wieder uns Hoffnung gemacht wurde.

Es war die Adventszeit gekommen, wir hatten eine junge neue Lehrerin im Werkunterricht bekommen. Die schien mir nicht so eng und sparsam wie ihr Vorgänger, der auch so einen merkwürdigen Dialekt hatte. Der war nicht von hier. Statt dünn sagte er dünne, so gar nicht karlsruherisch.

Der neuen Lehrerin trug ich meinen Wunsch vor, eine Krippe aus Ton formen zu wollen. Das war ein großes Projekt und wie berichtet, obwohl Mutter einen Obolus für die Materialkosten aufbringen musste, blieb die Tonzuteilung beschränkt. So begann ich, eine Madonna mit Kind zu formen, in der Hoffnung, dass diese gebrannt werden könne, was allerdings in der Schule damals nicht möglich war. Ich habe mir viel Mühe gegeben. Meiner jungen Lehrerin hat das wohl gefallen. Sie gab mir den einen oder anderen Ratschlag. Was mich dann verwirrte, war ihr Hinweis, dass die Brüste der Mütter dicker seien, wenn diese kleine Kinder hätten. Ich folgte ihrem Rat und half mit etwas weiterem Ton nach.

So gerne hätte ich es gehabt, wäre meine Madonna gebrannt worden. Und dabei nicht nur einen Schrühbrand, sondern auch einen Glasurbrand bekommen hätte. Schließlich braucht eine Madonna einen blauen Mantel.

Es war zu jener Zeit nicht möglich. Meine Madonna wurde nur getrocknet. Dennoch bekam sie einen blauen Mantel. Ich griff zu meinen Deckfarben. Als alles bunt war, überstrich ich die Farben mit einer Lasur, die ich in unserer Schulwerkstatt vorfand. Die Madonna sah aus wie nach einem Glasurbrand, und die Farbe hat bis heute gehalten. Eine Ersatzlösung aus der Not geboren. Dieses mein Madonnenbild sollte der Anfang einer eigenen Weihnachtskrippe werden.

Zunächst aber stand oder besser saß meine Muttergottes mit ihrem Kinde einsam unter dem Weihnachtsbaum von 1950. Ich erinnere mich, meine Mutter hat sich gefreut.

Und es wurde wieder Advent. Es sollte wieder eine Überraschung an Weihnachten geben. So bin ich mit meinem Bruder übereingekommen, dass wir gemeinsam uns einem Krippenbau widmen wollten. Da Mutter und Oma, die meist zu Weihnachten uns besuchte, überrascht werden sollten, musste dies heimlich geschehen, was nicht leicht war. Mutter war selten außer Haus. Die beste Gelegenheit war, wenn sie ins Theater ging. Tante Anna hatte ihr ein Abonnement fürs Staatstheater geschenkt. Die Termine waren uns bekannt. Kaum war Mutter außer Haus, begann in der Küche ein geschäftiges Treiben. Unter dem Balkon hatten wir heimlich das Material versteckt, aus dem unsre Krippenlandschaft gebaut werden sollte. Die Möglichkeiten waren bescheiden. Unser Bauwerk musste sich danach ausrichten. Wir hatten ein Bodenbrett und Sackleinen, aus der wir eine Höhle formen wollten. Hierzu sollte das Leinen mit heißem Knochenleim getränkt und beim Erkalten geformt werden. Auf unserer Bodenplatte befestigten wir einige Stützen, über die das Sackleinen gezogen wurde. Aus der Drogerie in der Uhlandstraße hatte ich für unser Taschengeld eine Platte Knochenleim gekauft, die im Wasser aufquellen sollte und erhitzt werden musste. Dass hierfür kein mütterliches Kochgerät infrage kam, war klar. Eine alte Konservenbüchse, auf die Gasflamme gestellt, tat es auch. Nach zwei bis drei Theaterbesuchen unsrer Mutter waren wir recht gut vorangekommen. Unser schwierigstes Problem bei unserer heimlichen Arbeit war der entsetzliche Gestank, den heißer Knochenleim verbreitet. Wir kannten etwa die Zeit, zu der der Theaterwagen an der Haltestelle Hübschstraße ankam. Zuvor musste nicht nur unser Bauwerk unter dem Balkon wieder verschwunden, sondern auch Küchentür und Fenster zum Lüften aufgerissen sein. Die kalte Winterluft hat dafür gesorgt, dass unsere so sensible Mutter von unserem Treiben nie etwas gemerkt hat.

Entstanden war eine Felsenhöhle, in deren Verlängerung sich ein Vordach anschloss. Das war aus Zweigen geschnitten, die unsere zahlreichen Fliederbüsche und Bäume hatten opfern müssen. Die Muttergottes sollte nicht einsam mit ihrem Kinde unter dem Dach sitzen, da gehörte der heilige Joseph, Hirten und möglichst eine Vertretung der Heiligen Drei Könige dazu, vom Viehzeug ganz abgesehen. In der Schule konnte ich mir weiteren Ton besorgen, und so machte ich mich ans Werk, diese Figuren zu schaffen. Das geschah natürlich wieder in aller Heimlichkeit, wieder in der oben geschilderten Methode. So richtig zufrieden war ich mit meiner Arbeit nicht. Das schnelle und heimliche Treiben hat man meinen Figuren angemerkt. Mein Versuch, mit zwei kleinen Glühbirnchen aus einer Taschenlampe dem Ganzen etwas Glanz zu geben, verhielt sich auch in Grenzen. Dennoch, unsere Krippe war ein besinnlicher Ort.

Anders verhielt es sich zu jener Zeit in unserer Heimatkirche. Ein Leuchten wie die Sonne matris in gremio fand sich in regis curia; sprich in unserem vom Bombenhagel sich wieder schrittweise erholenden „Bonifaz“. Zur Weihnachtszeit hatte der Messner dort eine große Krippe aufgebaut. Das heilige Geschehen war eindrucksvoll und wurde von sehr vielen bestaunt. Überhaupt waren die Kirchen nach dem Kriege brechend voll. Drei Kapläne unter der Leitung des Geistlichen Rates Dr. Dold hielten an den Sonntagen sechs Messen. In den Weihnachtsmessen standen die Menschen dicht gedrängt bis zur Kommunionbank. Was war geschehen, dass sich unsere Kirche so füllte? Es lag sicher nicht allein an den vielen Flüchtlingen, mit denen wir unsere Wohnungen teilen mussten. Auch die in ihre Stadtwohnung zurückgekehrten konnten das Bild nicht erklären. War es die Dankbarkeit derjenigen, die der Krieg verschont hatte? Oder wollten plötzlich sich alle wieder als gute Christen zeigen, die niemals etwas mit den Nazis oder der Wehrmacht zu tun hatten? Da war es vielleicht schon einmal gut, sich beim Stadtpfarrer Dold sehen zu lassen, der von den Nazis eingesperrt und von Reinhold Frank verteidigt worden war. Oder war es die Furcht, die unter der Bevölkerung grassierte, in amerikanische Internierungslager gesperrt zu werden, wo man gedemütigt und gefoltert wurde, wie im damaligen Bestseller von Salomon zu lesen war? Ich konnte in meinem Alter das alles nicht beurteilen. Die Ansichten der Erwachsenen flogen mir so um den Kopf. Ich sah nur die vielen Menschen in der Kirche, die mich hingegen gar nicht bedrängen konnten. Ich hatte meinen Platz – als Ministrant am Altar. Und als Sankt Bonifatius wieder aufgebaut war, war an Weihnachten Platz für sechzig Altardiener in dulci jubilo.

 

Als die Amis gekommen sind

Wer sich in der Karlsruher Geschichte auskennt, wird widersprechen müssen. Zunächst kamen überhaupt keine Amis. Französisches Militär stand vor der Stadt.

Wie schon berichtet, war die Bunsenstraße glimpflich über den Krieg gekommen. Das Haus von Frisör Nuber war die einzige Ruine in unserer Straße. In anderen Gegenden der Fächerstadt sah das ganz anders aus. Überhaupt: Von einem Fächer war kaum mehr etwas zu erkennen. Der war zu einem einzigen Trümmerhaufen zusammengebombt.

Neue Ängste krochen durch die Straße. Liszts Prelude, im Radio den „Meldungen von der Ostfront“ vorangestellt, war immer seltener zu hören. Das Heroische schien in sich zusammenzufallen. Gesprochen wurde über den Kriegsverlauf nicht mehr, auch nicht beim Frisör Nuber, der jetzt ins Haus kam und dort die Haare schnitt, um sich ein paar Mark zu verdienen. Vergangen war die Zeit, in der die große Politik in seinem Herrensalon gemacht worden war.

Jetzt hieß es, bald würden die Franzosen Karlsruhe besetzen und nicht nur plündern, sondern auch die Frauen schänden. Besonders schlimm würden es die Marokkaner treiben. Solche Gerüchte machten auch vor unseren Kinderohren nicht Halt.

Die letzten Kräfte wurden mobilisiert, die Stadt zu verteidigen. Frau Schröder aus dem zweiten Stock, eine zarte, wenig sportliche Gestalt, wurde mit eigenem Spaten, den es zu kennzeichnen galt, täglich an die Stadtgrenze zitiert, um einen Panzergraben auszuheben. Grässliches wusste sie an den Abenden zu berichten. Sie erzählte von gefangenen russischen Frauen, die ebenfalls zum Schanzen gezwungen worden waren. Schreiend seien diese zwischen den Gräben umhergerannt, wenn feindliche Tiefflieger versuchten, die Frauen zu töten. Frau Schröder meinte, diese Russinnen hätten nichts mehr zu verlieren, deshalb würden sie so reagieren. Wer kannte schon die Angst dieser Frauen, die selbst ihre Befreiung fürchten mussten?

Wer irgendwie konnte, flüchtete aus der Stadt. Wir waren die Ersten, die das Haus in der Bunsenstraße verließen. Meine Mutter zog mit uns zunächst in ihr Vaterhaus zu ihrem Bruder in den Mannheimer Stadtteil Seckenheim. Der Ort war im Unterschied zur Mannheimer Kernstadt nicht zerbombt. Die Idylle am Neckarhochgestade war noch erhalten geblieben.

Und eben dorthin sollten die Amerikaner kommen, die gemeinhin als nicht so gefährlich wie die Russen oder die Franzosen galten. Bis die allerdings kamen, sollte noch viel Wasser den Neckar hinunterfließen.

Seckenheim war damals noch fast ländlich, obwohl es mitten in dem dicht besiedelten Rhein-Neckar-Raum liegt. Die Not hatte manchen Rückgriff auf Altes mit sich gebracht. Längst verwaiste Schweinekoben waren wieder besiedelt, Hasen- und Geflügelställe aus Brettern und Draht zusammengenagelt worden. Enten und Gänse watschelten morgens zum Neckar und kehrten abends ordentlich in langen Reihen in die heimatlichen Ställe zurück. Bewundernd stellte ich fest, dass jedes Tier am Abend auch seinen richtigen Stall wieder fand. Für mich war das eine neue Welt, nahezu eine Idylle mitten im Krieg. Auch das Essen war hier besser. „Selbstversorger“ stand auf den Lebensmittelkarten dieser fast autarken Menschen.

Nach wenigen Wochen zogen wir innerhalb des Stadtteils zu unserer Oma, der Mutter unseres Vaters. Die hatte eine neuzeitliche Wohnung, sogar mit Dampfheizung und genügend Platz für uns drei. Dafür aber gab es leider keine Gänse, Schweine oder Hasen. Hier war es wieder städtisch.

Für die nächsten ereignisreichen Monate sollte das unsere Bleibe sein. Die Wohnung in der Bunsenstraße blieb verwaist. Bevor die Franzosen in die Weststadt einrückten, ließen die Hausbewohner das obligate Führerbild verschwinden, ein markiger Holzschnitt über Vaters Schreibtisch. Breschs durchforsteten auch ihre und Vaters Bibliothek. Bald war der Herr Professor mit einer ungewöhnlichen Arbeit beschäftigt. An einer versteckten Stelle im Garten hob er eine Grube aus, die eine bestimmte Sorte von Büchern aufnahm, die offensichtlich den Franzosen nicht in die Hände fallen sollten. Breschs fürchteten für einen solchen Fall die Verwüstung der Wohnungen.

Im Krieg scheint vieles anders zu kommen denn erwartet. Als es dann soweit war und ganz Karlsruhe von französischen Truppen eingenommen worden war, durchsuchte ein französischer Offizier mit seinen Soldaten die Bunsenstraße 3. Schreckensbleich gewahrte Herr Bresch, dass er bei seiner Säuberungsaktion unserer Wohnung vergessen hatte, das Bild meines uniformierten Vaters ebenfalls in der Gartengrube zu versenken. Zielsicher marschierte der Franzose auf das Bild zu, hängte es von der Wand und betrachtete den jungen Offizier nachdenklich. „Mort en Russie“, entfuhr es ängstlich unserem Herrn Professor. Ruhig hängte der französische Offizier das Soldatenbild wieder an seinen Platz. Nichts Weiteres geschah, kein Raub, keine Verwüstung, keine Vergewaltigung.

Zurück nach Mannheim: Auch hier waren die letzten Männer zum Volkssturm, oder, wie mein Onkel Karl, zumindest noch zur Feuerwehr rekrutiert worden. Am Tage handelte mein guter Onkel mit Baustoffen, und in der Nacht galt es fast regelmäßig, in irgendwelche Mannheimer Stadtteile zu rasen, die in Flammen standen. Eines Morgens kam er zurück mit nur noch vier Fingern an der rechten Hand. Er konnte einige Tage über diesen Vorfall nicht sprechen, bis er dann doch berichtete: Beim Absprung von einem Löschzug sei er mit dem Ehering an einem Eisenhaken hängen geblieben und habe sich den Finger abgerissen. Die Luftangriffe auf die Bevölkerung hörten in diesen Tagen fast nicht mehr auf. Wer irgendwie konnte, verkroch sich in ein Kellerloch.

Bei der Familie meines Onkels Karl war das anders. Man hatte vorgesorgt. Schon 1943 grub sich die Familie in die Erde ihres Gartens ein: Sie baute einen Bunker, direkt an der Gestademauer zum Neckar in der Hoffnung, damit die Bombardierungen zu überstehen. Einen solchen Bau hatte noch kein Vorfahre in den fünf Generationen ihrer Firmengeschichte als Bauleute errichtet. Mag sein, die Pfälzer hatten jahrhundertlange Erfahrung, Hab und Gut vor einfallenden Soldaten zu verbergen. Aber ein Bunker aus Stahlbeton: Das war neu in der Familiengeschichte.

Ich kann mich sowohl an die Bauarbeiten als auch an die Benutzung dieses letzten Bauwerkes meines Großvaters, Thomas Herdt, erinnern. Ausgeschachtet haben es hauptsächlich die Frauen. Die jungen Männer waren im Krieg. Wahrscheinlich ohne einen genehmigten Plan wurde in die Erde ein u-förmiges Gebilde gegossen, mit einem schmalen Einstieg, dahinter im rechten Winkel ein Gang mit Gasschleuse. Danach folgte wieder ein rechtwinkliger Knick zum Schutzraum. Schon 1944 hatten meine Mutter, mein Bruder und ich anlässlich eines Besuches den Sinn dieser Anlage erfahren müssen. Schnell mussten wir bei einem Tagesangriff in diese Betonhöhle absteigen. Obwohl ich aus Karlsruhe schon viel Erfahrung mit Luftangriffen hatte, war mir dieser Bunker recht unheimlich. Seit meinem letzten Besuch war auf das steinerne U ein großer Erdhügel geschüttet worden, aus dem ein Rohr herausragte, ähnlich der Hutze eines Schiffes. Unter diesem Hügel sollten wir den Angriff überleben. Dessen Schutzraum war keineswegs so „gemütlich“ wie unser Karlsruher Luftschutzkeller. Alle Einwohner der Herdt’schen Häuser saßen dichtgedrängt auf Bänken den feuchten Wänden entlang. Der Raum war so klein, dass sich die Knie der Gegenübersitzenden fast berührten. Wenn dann beim ersten Bombenhagel das Licht ausging, verspürte ich große Beklemmung in dieser Röhre.

Wir waren, wie schon berichtet, in den letzten Tagen vor dem Zusammenbruch zu meiner Oma gezogen, wo die Sicherheitsmaßnahmen kärglicher waren. Als alleinige Bewohner des Hauses – die Eigentümer waren in Richtung Osten geflüchtet – standen uns nahezu alle Kellerräume zur Verfügung. Unsere Kinderbetten wurden in einen Keller geschafft. Abend für Abend zogen Edwin und ich uns in diesen Kellerraum zurück. Das alltägliche Abendgebet „ ...Vater, lass die Augen Dein über meinem Bette sein“ umschloss für uns einen sehr realistischen Wunsch. Ich werde noch darüber berichten müssen. Zunächst war das Leben im Keller ganz gemütlich: zumindest ein anderes Leben. Hier konnte ich mit meinem Bruder ungestört quatschen. Die Bombenangriffe hatten nachgelassen. Die Detonationen blieben. Die Erwachsenen sprachen von Flakbeschuss, der jetzt einsetze. Hatten wir die Bomben erst heulen, dann krachen hören, war das beim Flakbeschuss anders. Es krachte zweimal! Zuerst beim Abschuss, dann die tödliche Ruhe, darauf der Einschlag. Die Ziele lagen hinter uns. Die Granaten flogen in hohem Bogen über unser Haus. Manchmal durften wir uns das ansehen. Der Krieg hat seine Ästhetik, und nicht immer wird über seinen grausamen Zweck nachgedacht. Das Flakfeuer wurde durch Leuchtmunition eröffnet. Da flogen am Himmel kometenähnliche Geschosse. Im Formationsflug zerkratzten manche von ihnen das Firmament. Dazwischen strahlten die Sterne. Auf der Erde hatten sie in dieser nachtdunklen Zeit keine Konkurrenz. Nach diesem Leuchtspektakel mussten wir wieder in die Keller; jetzt wurde es ernst. Jetzt ritten die tödlichen Granaten durch den Nachthimmel.

Die Tage plätscherten eher ruhig vor sich hin, bis sich schlagartig eine geschäftige Hektik unter den Erwachsenen ausbreitete. Wodurch diese Unruhe ausgelöst worden war, blieb mir rätselhaft. Sicher nicht von einer Radiomeldung oder einer Zeitung, falls es diese überhaupt noch regelmäßig gab. Vielleicht war es ein Anschlag am alten Seckenheimer Rathaus an den Planken. Ein Gerücht von unermesslichen Gütern aller Art, die zu ergattern seien, strich durch die Straßen. Bald tauchten Beweisstücke auf. Kannen voll Speiseöl, Säcke mit Mehl gefüllt, eine Kiste voll Schuhabsätzen und weiß Gott noch was alles. Der Mannheimer Verschiebebahnhof, eine riesige Anlage nur wenige Kilometer vom Stadtteil Seckenheim entfernt, stünde voll Versorgungszügen, die ihr Ziel, so hieß es, nicht mehr erreichen könnten. Der Inhalt sei für die Mannheimer Bevölkerung freigegeben.

Es ist heute wahrscheinlich schwer vorstellbar, wie unter der allgemeinen Apathie und Schicksalsergebenheit der Bevölkerung jetzt eine Gier für wenige Tage sich breit machte. Die in der Stadt zurückgebliebenen Alten und Frauen suchten nach allem, was Räder hatte. Ein Fahrrad war schon etwas, ein Leiterwagen oder gar ein zweirädriger Karren waren viel. Es soll aber auch Bauern gegeben haben, die ihre Kühe – die Pferde waren schon längst vom Militär verbraucht – vor einen Erntewagen gespannt haben und zum Güterbahnhof zogen. Wir Kinder durften nicht mit. Es sei zu gefährlich. Ich erinnere mich nur, dass Mutter mit einem Fahrrad, weiß Gott, woher sie es hatte, mehrfach nach Beute auszog und meiner Oma, die sich zu alt für diese Jagd fühlte und wohl noch nie auf einem Fahrrad gesessen hatte, die unglaubhaftesten Sachen erzählte. Sie mussten aber wahr sein, meine Mutter hatte schließlich Beweisstücke von ihren Touren mitgebracht.

Absoluter Höhepunkt war eine Kiste mit über 100 Eiern, die auf ihren Gepäckträger geklemmt war. Das waren Schätze, die der Bürger schon lange nicht mehr gesehen hatte. Für meine Mutter war es sehr schwer, an diese Waren zu kommen. Sie stolperte zwischen den Schotterbetten der Geleise entlang, hoch über ihr standen die Güterwagen. Ohne eine Leiter, ohne fremde Hilfe war es ihr kaum möglich, in einen solchen Wagen zu kommen. Ein Gerücht jagte das andere. „Zehn Gleise weiter gibt es Trockenmilch“, das bedeutete unter Puffern durchkriechen, an Bombentrichtern vorbei, um den Wagen zu finden, in dem die Trockenmilch gelagert sein sollte. Rücksichtslose Männer stießen die Frauen zurück. Hatte Mutter irgendein brauchbares Gut erwischt, tauchte die Frage auf, wie es zu verpacken, wie es zu transportieren sei. Mit einem Zentnersack voll Mehl konnte sie nichts anfangen. Sie konnte diesen nicht zum Fahrrad schleppen und schon gar nicht auf diesem transportieren. Rücksichtslose schnitten die Säcke auf, schütteten die Hälfte des Mehls aus und lösten auf ihre Weise das Problem. In den Güterwagen fanden sich auch große Kannen, gefüllt mit Speiseöl. Wer ein Fuhrwerk mit Kühen besaß, konnte sich an diesen schweren Kannen reichlich bedienen. Das Öl bedeutete ein Vermögen, mit dem sich noch lange handeln ließ. Wir besaßen keine Kühe und kein Fuhrwerk. Mutter musste ihre Transporte auf die Fähigkeiten ihres geliehenen Rades beschränken.

 

Drei oder vier Mal war sie in diesen Tagen zum Rangierbahnhof gefahren, bis sie verstört nach Hause kam und sich weigerte, nochmals hinauszugehen. Zwei Polen – Fremdarbeiter wie sie damals hießen – seien beim Plündern erwischt worden. Für sie seien die Güter des Rangierbahnhofs nicht bestimmt gewesen. Sofort hätten Uniformierte die Polen aufgegriffen. Diese hätten sich unter einer Eisenbahnbrücke an die Wand knien müssen und seien vor aller Augen erschossen worden. Ermordet in den Tagen, in denen jeder den Einmarsch der Amerikaner erwartete und keiner mehr auf Führers Wunderwaffe hoffte.

Lebensgefährlich wurde es auch für Edwin und mich. Seit Tagen war kaum mehr Geschützfeuer zu hören gewesen, und noch selten bedrohte uns ein Tiefflieger mit seinen Bordkanonen. Die ersten lauen Apriltage waren gekommen, und Edwin und ich sammelten am Hochufer des Neckars Löwenzahn für einen befreundeten Hasen, der im Stall eines Nachbarn lebte. Wir hatten schon einen Arm voll saftiger Pflanzen gesammelt, als plötzlich neben uns Gewehrkugeln einschlugen. Amerikanische Scharfschützen von jenseits des Neckars zielten auf uns Kinder. Edwin und ich rasten das Neckargestade hoch, während die Kugeln rechts und links von uns einschlugen. Keine hat uns getroffen. Der Krieg war sich auch für den Kindermord nicht zu schade.

Vielleicht hat dieses Ereignis den Ausschlag gegeben, bei Mutter und Oma den Gedanken an Flucht aufkommen zu lassen. Raus aus der Stadt! Es müsse klüger sein, sich im Odenwald zu verkriechen. Die Idee war nicht originell. Manche waren schon geflüchtet, und auch bei Tante Elise und Onkel Karl schien der Plan virulent. Ein Freund meines Vaters hatte eine Frau vom Lande geheiratet, die war schon aus Karlsruhe zu ihren Eltern nach Adersbach im Odenwald geflüchtet. Meine Mutter meinte, dort auch Unterschlupf finden zu können, wo immer dieses Adersbach auch liegen möge. Irgendwohin flüchten, wo keine Soldaten sind, wo nicht auf Kinder oder Polen geschossen wird.

Von ihrem Bruder Karl lieh sich Mutter einen Kastenwagen. Ein schwergängiges, vierrädriges Gefährt, mit dem ich schon zwei Jahre zuvor schlechte Erfahrungen gemacht hatte, worüber ich noch berichten sollte: Ein Sommerbesuch bei Onkel Karl war mir nicht gut bekommen und ich beschloss damals auszureißen, wobei ich dachte, dass es nützlich sein könnte, einen Wagen bei sich zu haben. Mein Versuch abzuhauen endete jämmerlich. Kaum hatte ich mit Mühe den Wagen auf dem Kopfsteinpflaster des Innenhofes von Onkel Karls Anwesen ins Rollen gebracht, bewegte der sich auf dem leicht abschüssigen Gelände nicht gerade so, wie ich es wünschte. Mein verzweifelter Versuch, den Wagen in Richtung Freiheit zu lenken, endete sehr schmerzhaft. Mein rechter Daumen wurde zwischen die eiserne Deichsel und einen sandsteinernen Torpfosten eingeklemmt. Der vorhandene Schub quetschte den Daumennagel so, dass er abgenommen werden musste.

Eben dieser Bollerwagen, beladen mit meinen schlechten Erfahrungen, sollte uns jetzt auf einer neuen Flucht begleiten. Zwei Jahre zuvor wollte ich vor den Erwachsenen davonlaufen, jetzt flohen wir vor den heranrückenden Amerikanern.

Mutter packte Bettdecken, warme Kleider, Brot und die letzten Konserven auf diesen Wagen. Ich sehe ihn noch vor mir: kräftige, rote Holzräder mit Eisenreifen beschlagen, die Radnaben mit Nabelfett vom Schwein geschmiert und durch den Gebrauch schwarz geworden. Über die grün gestrichenen Seitenteile quollen die weißen Bettdecken.

So ausgerüstet, sollte dann die Flucht an einem Morgen in

der Karwoche beginnen. Meine Mutter betrachtete nochmals

das schwerfällige Gefährt, kalkulierte die Marschfähigkeit meines sechsjährigen Bruders, setzte die meinige vielleicht mit der meiner Großmutter gleich und beschloss, das Haus nicht zu verlassen. Alles wurde wieder ausgepackt, und wir harrten der

kommenden Dinge.

Eines war sicher: Es konnte nicht mehr lange dauern bis zum Einmarsch der Amerikaner. Zuvor muss ich aber noch berichten, was sich im Hause meines Onkels Karl tat, wo man offensichtlich die Gedanken an Flucht auch verworfen hatte. Der Pfälzer hat seine jahrhundertealte Erfahrung mit einmarschierenden Soldatenhorden! Er weiß, wie man sich verhält, „wenn der Franzmann kommt“ und der Ami, so glaubten sie, wird es auch nicht anders machen. Aus den Häusern musste für diesen Fall alles Wertvolle verschwinden. Zwar wurden die Mädchen nicht mehr in den „Franzosenschlupf“ gesteckt – eine fensterlose, winzige Kammer, vor deren Eingang man einen schweren Schrank schob –, gebaut oder reaktiviert hingegen wurden im Hause meines Onkels mehrere Verließe und Schächte, wo die Habseligkeiten verborgen werden konnten. Unter einer Treppe im Kohlenkeller entstand eine neue Wand, hinter der man das meiste Weißzeug eingemauert hat. Der Putz wurde mit Kohlenstaub abgerieben. Die Wand durfte nicht als neu erkannt werden. Ängstlich hatte man diese abgeklopft, ob man nicht doch allzu leicht hören könne, dass sich hinter ihr ein Hohlraum befand. In große, glasurgebrannte Tontöpfe war das Silberbesteck neben anderem, in Ölpapier eingehüllt, verschwunden. Diese wurden in zwei Gruben im Garten versenkt. Nachdem sie ganz mit Erde bedeckt waren, wurde Salat darüber gepflanzt. Dieses eifrige Treiben war für uns Kinder sehr spannend zu verfolgen. Und dieses Tun galt auch noch als streng geheim. Wir hatten ein Geheimnis mit den Erwachsenen. Außerdem nahmen wir an ihrer Welt voll von Gerüchten und Befürchtungen teil.

So kam der Kardienstag. Der Frühling lag in der Luft, und es bewegte sich nichts. Ich weiß noch nicht einmal, wie die Frauen uns versorgten. Ob sie noch einkaufen konnten, ob sie von Resten, von Vorräten lebten, überhaupt, was es zu essen und trinken gab. Die Zeit schien stehen geblieben. Die Dinge des Lebens waren erstarrt. Eine bleischwere Ruhe lag über der Vorstadt. Der Tod hatte aufgehört zu mähen, konnte aber jede Stunde wieder aufs Heftigste zuschlagen.

Drei versprengte deutsche Soldaten mit Fahrrädern standen unversehens vor unserem Haus. Junge Kerle. Meine Mutter strich ihnen noch ein paar Brote. Das ärgerte mich, weil ich die Vorstellung hatte, nichts darf in dieser Zeit verschenkt werden. Wir werden sonst Hunger leiden müssen. Die drei erzählten vom Feind, der von Schrießheim aus an den Neckar käme und dort übersetzen werde. Dass der Feind nicht mit Fahrrädern kommen würde, ahnte ich, wie er dann wirklich kam, konnte ich mir nicht vorstellen. Bis dorthin sollte es aber noch dauern. Zunächst schulterten unsere Soldaten ihre Gewehre und schwangen sich auf ihre Fahrräder. Mögen sie ihre letzten Tage bei der deutschen Wehrmacht überlebt haben?

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