Mensch bleiben im Krankenhaus

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ETHIK

In Gesprächen mit Müttern, die mit ihren Kindern Krankenhausaufenthalte absolvierten, hörten wir Sätze wie: „Äußerlichkeiten sind wichtig, wie du dich kleidest, ob du dich schminkst. Das hat einen Einfluss darauf, wie man dich im Krankenhaus behandelt“, oder: „Es macht einen Unterschied, ob der Titel auf der E-Card eingetragen ist oder nicht, man geht mit dir anders um, wenn du einen akademischen Titel hast“, oder: „Manche Eltern haben ganz unverschämte Ansprüche, gerade auch, wenn es um die Kinder geht. Da tut mir manchmal das Personal leid“, oder: „Das Wichtigste sind wohl Wertschätzung und Höflichkeit. Wie man behandelt wird. Wenn du deinerseits dem Personal höflich begegnest und Wertschätzung entgegenbringst, wirst du auch eher höflich behandelt werden.“

Bleiben wir beim Stichwort „Höflichkeit“: Der deutsche Sprachwissenschaftler Harald Weinrich hat die Höflichkeit als die entscheidende Tugend des öffentlichen Lebens beschrieben, als Grundpfeiler von Gesprächskultur und Demokratie. Dabei ist Höflichkeit eine Form der Gesprächsführung, die das Gebot der maximal effizienten Informationsübertragung bremst, mit Konjunktiven, Adjektiven und indirekten Formulierungen arbeitet, sich dem Gegenüber behutsam nähern lässt und nicht allein am „Was“ des Inhalts, sondern auch am „Wie“ des Stils interessiert ist. Höflichkeit im Krankenhaus ist eine ethische Frage, die auch mit den angesprochenen Details zu tun hat. Höflichkeit ist dabei eine Sache des einzelnen Menschen, aber auch eine Frage der Arbeitskultur. Hier kann eine Person das Klima nachträglich beeinflussen. Studien zur Arbeitsplatzzufriedenheit betonen immer wieder die Bedeutung des Betriebsklimas, das nicht zuletzt mit Aspekten des höflichen Umgangstons zu tun hat.

Ethik: das Nachdenken über das Gute

Hier zeichnen sich Aspekte ab, bei denen man an einer kleinen Ethik für ein Krankenhaus bauen könnte. Immer wieder geht es bei solchen Überlegungen um den richtigen Umgang. In einem Interview erzählte eine Krankenschwester, die auf der Intensivstation arbeitet:

„Ein heikles Thema sind auch Alkoholiker und Drogenkranke. Da muss ich mich auch zusammennehmen. Ich sage mir immer vor, jeder Alkoholiker habe einfach auch eine Vorgeschichte und es ist jetzt nicht dem sein Ermessen, dass er das jetzt wollte. Sondern der wird auch anders reingeschlittert sein, aber man tut sich bei Alkoholikern sehr schwer in der Betreuung, weil die teilweise extrem ungehalten sind, und die sind meisten auch im Entzug, aber das ist mehr lindernd als bessermachend. Und wir bekommen recht viele Alkoholiker, auf der internen Seite. Da haben wir schon einigen ein paar Wochen aus dem Leben rausgeholt. Aber du weißt ganz genau, du hackelst da voll rein, und der geht heim oder geht nur von der Intensivstation raus, auf der Station kannst du den auch nicht überwachen, und geht und holt sich sein nächstes Bier. Aber du hast da gearbeitet und die kosten dich viel Kraft. Weil diese Menschen sind multiorgankrank … Da fällt es mir schwer, dass ich da so tu’ wie bei jedem anderen.“

Auf diese Weise ergibt sich eine Reihe von ethischen Fragen, etwa: Wo und wie kann man „delikate Angelegenheiten“ besprechen? Wie kann man einem Patienten, einer Patientin, die stets eine bestimmte und unverwechselbare und mitunter tragische Vorgeschichte haben, gerecht werden? Woher nehmen Menschen mit Verantwortung für die Betreuung, Pflege und Begleitung von Patient/​inn/​en die Kraft, ihren Dienst zu tun? Wie ist mit schwierigen Patient/​inn/​en umzugehen, also mit Patientinnen und Patienten, die wenig Geduld, Kommunikationsfähigkeit und Kooperationsbereitschaft zeigen? Welche Rechte haben Patient/​inn/​en? Welche Rechte hat das Personal in einem Krankenhaus? Gibt es auch so etwas wie „Patient/​inn/​en-Pflichten“? Gibt es hoffnungslose Fälle? Soll die Verweigerung von „Compliance“ Konsequenzen haben? Wie ist mit Menschen umzugehen, deren Lebenssituation so komplex ist, dass die gesundheitlichen Probleme nur die Spitze des Eisbergs an Lasten und Lebensherausforderungen sind? Wann kann ein Mensch guten Gewissens aus einem Krankenhaus entlassen werden?

Ethik ist das Bemühen, systematisch über solche Fragen nachzudenken. Ethik ist das Nachdenken über das Gute; das kann sich auf das gute Leben beziehen, auf den guten Charakter und die gute Person, oder auch auf die gute Handlung, die gute Institution oder die gute Entscheidung. Während wir in der Regel unter Moral „gelebte Normen und Wertüberzeugungen“ verstehen (sodass jede wie auch immer geartete Gesellschaft so etwas wie Moral aufweist), kann man Ethik als systematische Reflexion auf Moral ansehen. Während die deskriptive Ethik Moral beschreibt, denkt die normative Ethik darüber nach, was wir tun sollen oder nicht tun dürfen. Das kann auf „materiale“ Weise (besondere Empfehlungen und Entscheidungen) oder auf „formale“ Weise (Arbeit mit allgemeinen Prinzipien) geschehen.

Bekannte Beispiele für solche allgemeinen Prinzipien, wie sie auch in der medizinischen Ethik zum Einsatz kommen, sind das Nichtschadensprinzip (Vermeidung von unnötigem Leid und Bewahrung vor Schaden), das Autonomieprinzip (Respekt vor der freien Entscheidung, in so vielen Lebensbereichen so umfangreich und so lange wie möglich), Prinzipien der Gerechtigkeit (in seiner ursprünglichsten Form: gleiche Fälle gleich, ungleiche ungleich behandeln) oder Prinzipien der sozialen Zuträglichkeit (Vermeidung unverhältnismäßigen Aufwandes). Selbstbestimmung, Gerechtigkeit und Leidvermeidung sind wichtige Orientierungspunkte im ethischen Nachdenken.

Ethische Handlungen und der Handlungsspielraum

Der Handlungsspielraum wird ethisch neben Prinzipien auch durch Unterscheidungen strukturiert. Es wird etwa mit Blick auf die Pflichten zwischen „starken Pflichten“ (dürfen nicht verletzt werden) und „schwachen“ oder „relativen“ Pflichten (können gegebenenfalls zugunsten höherrangiger Pflichten aufgegeben werden) unterschieden. Unterschieden wird auch zwischen Prinzipien und kasuistischen Regeln, die das Besondere in den Blick nehmen; etwa mit Anhaltspunkten wie: „Je unnötiger ein Eingriff, desto genauere ärztliche Aufklärung ist nötig.“ Das ist nun nicht besonders aufregend, aber als erste Klärung wichtig und möglicherweise hilfreich. Ethisch relevant sind vor allem jene Bereiche, die wir handelnd beeinflussen können. Ethisch relevant ist vor allem das, was wir durch Entscheidungen und handelndes Gestalten prägen können. Ein Beispiel:

„Die Nachtschwester, die etwas nach dreiundzwanzig Uhr auf ihrer Runde hereinschaut, schüttelt den Kopf, als sie mich mit einem Buch in der Hand antrifft. ‚Sie schlafen ja schon wieder nicht‘, sagt sie vorwurfsvoll., Das geht doch einfach nicht. Warum weigern Sie sich denn, ein Schlafmittel zu nehmen?‘ Ich blicke in ihr noch junges Gesicht, in ihre Augen, in denen deutlich die Missbilligung darüber zu lesen ist, dass ich mich nicht, wie jeder andere Patient, in die Krankenhausroutine einordne.“16

Hier haben wir es mit Spielräumen zu tun, die handelnd beeinflusst werden können. Ein Buch zu lesen ist eine Handlung; eine Schlaftablette zu nehmen ist eine Handlung; eine Frage zu stellen ist eine Handlung. Unter „Handlungen“ versteht man gemeinhin durch den Menschen herbeigeführte Ereignisse. Handlungen sind Verhaltensweisen, die der willentlichen Kontrolle unterliegen: Man kann sie setzen und man kann sie unterlassen. Auch durch ein Unterlassen kann gehandelt werden. Anders gesagt: Eine Handlung ist eine Form des Verhaltens, über die man sich beraten kann, eine Form des Verhaltens, zu der man aufgefordert werden kann. Von Handlungen sprechen wir in der Regel im Zusammenhang mit dem Verfolgen von Zwecken. Ein Mensch handelt, wenn er damit einen bestimmten Zweck verfolgt, aber auch einen anderen Zweck verfolgen könnte. Diese Wahlmöglichkeit kann man „Handlungsoptionen“ nennen. Es ist ethisch von Interesse, den Blick auf die verfügbaren Handlungsoptionen zu richten. Handle so, dass du immer auch Alternativen hast, zwischen denen du dich entscheiden kannst.

Der Blick auf „Alternativen“ ist von entscheidender Bedeutung, die Schärfung dessen, was der österreichische Dichter Robert Musil den „Möglichkeitssinn“ genannt hat, den Sinn für das, was möglich wäre und anders sein könnte. Wenn wir die Frage stellen: „Was könnte man besser machen?“, zielt das auf den Möglichkeitssinn ab. Es verwundert nicht, dass der englische Dirigent Benjamin Zander ein bekanntes Buch über Führungsethik (geschrieben von ihm und der Psychotherapeutin Rosamund Zander) „Die Kunst der Möglichkeit“ genannt hat.17 Es verlangt die Kunst der Möglichkeit, wenn ein Solist vor der Aufführung von Schuberts „Winterreise“ seinen Auftritt wegen Liebeskummers absagen möchte – der Dirigent sah dabei die einmalige Chance, ein gefühlstiefes Konzert mit einem Solisten in der rechten Stimmung zur Aufführung zu bringen! Denn schließlich geht es in Schuberts „Winterreise“ um existenziellen Schmerz und enttäuschte Liebe. Führen bedeutet Möglichkeiten zu sehen, das gilt auch für das Führen eines Krankenhauses. Der Blick auf Handlungsspielräume, Handlungsalternativen und Handlungsoptionen ist ethisch relevant. Ein Arzt nannte in einem von uns geführten Interview Beispiele für verbesserungsfähige Aspekte:

„Es gibt gewisse Dinge, wo Verbesserungsbedarf wäre, denke ich z. B. an XY [ein kleineres Gemeindespital], wo man in einer Notfallaufnahme sitzt und vielleicht 20 wartende Patienten da sind und manche schon seit zwei Stunden warten … dass da eine Drucksituation auf den jeweiligen Arzt kommt und die Erwartung von den Patienten ist, dass sie gleich drangenommen werden … da gibt es Patienten, die sehr ungeduldig werden und an der Türe klopfen, obwohl es klar eine Reihung gibt … je nachdem, wie schwerwiegend das Problem ist … und dass ältere Patienten kommen, die langsamer sind, schlechter hören … da ist es zu Problemen mit den Ärzten gekommen, da war ein junger Arzt, der sich aufgeregt hat über das Kommen der Patientin, obwohl sie nichts hat … und größere Probleme entstehen auch im Nachtdienst, wo einfach der Stresslevel relativ hoch ist und der Arzt an seine Grenzen kommt von seinen Dienstzeiten, dass es zu Überforderungen kommt, die eventuell auf den Patienten übertragen werden … was nicht sein soll, sich aber nicht vermeiden lässt teilweise … [wenn] ein Patient sehr wehleidig tut … und es kommt nichts raus, da ist die Geduld des Arztes … da kann es schon zu einem gespannten Verhältnis kommen, auch in der Untersuchungsmodalität. Oder auf der Chirurgie … man muss untersuchen und die Patienten kommen nicht entgegen beziehungsweise in Nachtdiensten, was immer ein großes Thema ist, wenn jemand betrunken ist oder unter Drogeneinfluss da ist und sich gar nicht behandeln lassen will … der Arzt ist auch unter Stress, will den behandeln und es ist nicht möglich …“

 

Hier wird man sich fragen: Welche Handlungsmöglichkeiten gibt es? Wie können die Rahmenbedingungen für das Handeln verändert werden? Offensichtlich findet das Handeln in einem Krankenhaus im Rahmen von Strukturen statt, die die Menschlichkeit im Handeln fördern oder erschweren können. „Druck“ in Form von Zeit-, Leistungs- oder Kostendruck erschwert das freie Atmen und schränkt die Handlungsspielräume empfindlich ein.

Im Zweifelsfall für die Freiheit!

Hier gilt es, Oasen der Freiheit zu sichern. Der bekannte amerikanische Philosoph John Rawls hat in seiner 1971 erschienenen „Theorie der Gerechtigkeit“ die berühmte Frage gestellt: Wenn alle Mitglieder einer Gesellschaft unter einem Schleier des Nichtwissens zusammenkommen würden, auf welche Gesellschaft würde man sich einigen? „Schleier des Nichtwissens“ („veil of ignorance“) bedeutet, dass man nichts über die eigenen physischen und psychischen Eigenschaften weiß, dass man nicht weiß, in welche Familie, Kultur und Epoche man hineingeboren wird. Wenn dies so ist – nach welchen Prinzipien würden wir unsere Gesellschaft aufbauen? Rawls gibt interessanterweise den Hinweis, dass wir uns zuerst darauf einigen würden, jedem Mitglied der Gesellschaft ein größtmögliches Bündel an Freiheiten zu geben. Hier geht es also auch um Handlungsspielräume!

Wir könnten diese Frage auch für ein Krankenhaus stellen: Auf welche Art von Krankenhaus würden wir uns einigen, wenn alle, die mit einem und in einem Krankenhaus zu tun haben, unter einem Schleier des Nichtwissens zusammenkämen? Ich weiß also nicht, ob ich Chefärztin oder Vater eines kranken Kindes, Reinigungskraft oder Verwaltungsangestellte, Pfleger oder Krankenschwester, Patient/​inn/​en-Anwalt oder Versicherungsvertreter, Koch oder Turnusärztin bin. Was wäre mir wichtig? Die Frage ist fruchtbar, gerade wenn man sie mit Blick auf eine konkrete Abteilung oder ein konkretes Krankenhaus stellt. Allein die Frage kann schon etwas bewirken.

Was die Antwort angeht, gibt es sicherlich gute Gründe, in eine ähnliche Richtung zu gehen wie Rawls: ein größtmögliches Bündel an Freiheiten für jede einzelne Person. Anders gesagt: im Zweifelsfall für die Freiheit. Wieder anders gesagt: Achte bei der Rollengestaltung und der Gestaltung der Rahmenbedingungen darauf, dass die betreffende Person über Spielräume und Wahlmöglichkeiten verfügt, soweit das mit Blick auf das Gemeinwohl und die Ordnung des Ganzen möglich ist. Hier wird man sich also fragen können: Was bedeutet Spielraum im Reinigungsdienst? Etwa Mitbestimmung bei der Wahl der Reinigungsgeräte, Chemikalien, Arbeitszeiten, Prioritäten und Abfolgen? Was bedeutet Spielraum für Eltern, deren Kind stationär aufgenommen wird? Etwa die Freiheit, auch über Nacht beim Kind zu bleiben? All diese Fragen haben mit dem Handeln zu tun.

Klassischerweise werden Handlungen in ethischer Absicht eingeteilt in solche, die geboten sind, in verbotene, in ethisch indifferente Handlungen und in Werke der Übergebühr. Ethisch indifferente Handlungen sind solche, bei denen es keinen ethischen Unterschied macht, ob sie gesetzt oder unterlassen werden; „Werke der Übergebühr“ (manchmal „supererogatorische Akte“ genannt) sind lobenswerte Handlungen, die man aber nicht verlangen kann. Ein klassisches Beispiel wäre etwa das Spenden, zum Beispiel für die Klinikclowns: eine schöne Handlung, aber man kann Menschen schwerlich dazu verpflichten.

Es gibt nun, wenn man eine „kleine Ethik“ für ein bestimmtes Krankenhaus entwickeln kann, eine wichtige Frage: Wo verläuft die Grenze zwischen „Pflichten“ und „Werken der Übergebühr“? Wenn diese Grenze nicht klar ist, kann es zu Missverständnissen und empfindlichen Abstimmungsschwierigkeiten kommen. Haben Patient/​inn/​en das Recht darauf, dass die Nachtschwester mit ihnen plaudert? Ist es ein Werk der Übergebühr, wenn das Krankenhaus auf der Kinderchirurgie den Kindern Spielzeug anbietet? Ist es supererogatorisch, dass die Kinderkrankenschwester sich auch bei wichtigen Dingen der Kinderwelt (Harry Potter, Fluch der Karibik, Bob der Baumeister, Caillou, Thomas Lokomotive …) auskennt? Es ist lohnenswert, sich auch über solche Fragen Gedanken zu machen und sich auszutauschen, weil sich hier die Wahrnehmung innerhalb einer Abteilung oder auch die Wahrnehmung von Patient/​inn/​en und deren Angehörigen auf der einen Seite und die Wahrnehmung des Personals auf der anderen Seite deutlich unterscheiden können.

Der Umgang mit dem Schicksalhaften

Neben dem Handeln gibt es freilich auch einen Bereich, der gerade im Umgang mit Krankheit und Leid eine wichtige Rolle spielt: der Umgang mit dem Schicksalhaften; das Annehmen von Einschränkungen, die Akzeptanz des Unverfügbaren und Nichtmanipulierbaren. Ethik wird sich auch um einen guten Umgang mit dem Schicksalhaften bemühen müssen. Ethische Fragen hängen stets mit Fragen des guten Lebens im Allgemeinen zusammen. Dass es hier einen Bedarf gibt, über Endlichkeit und Grenzen nachzudenken, liegt auf der Hand. Der Umgang mit Schicksalhaftem hat auch mit der Weise, wie wir sprechen, zu tun. Einstellungen können sich auch in der verwendeten Sprache ausdrücken. Der bereits zitierte krebskranke Journalist Tiziano Terzani, der sein Leben lang mit Sprache gearbeitet hat, denkt über diesen Aspekt mit Blick auf die Krebserkrankung nach: „Die Sprache, die diese Krankheit umgibt, ist ja eindeutig eine Kriegssprache, die ich selbst auch anfangs benutzt hatte. Der Tumor ist ein ‚Feind‘, den es zu ‚bekämpfen‘ gilt, die Therapie eine ‚Waffe‘, jede Phase der Behandlung eine ‚Schlacht‘. Die Krankheit wird stets als etwas Äußerliches gesehen, das in uns eindringt und uns Ärger macht und deswegen vernichtet werden muss, eliminiert, vertrieben. Bereits nach einigen Wochen des Umgangs mit der Krebserkrankung begann mir diese Einstellung zu missfallen … Durch das erzwungene Zusammensein sah ich den Tumor immer mehr als inneren ‚Besucher‘, der zunehmend ein Teil von mir wurde … Anstatt auf diesen Krebs in all seinen Inkarnationen loszugehen, war mir eher danach, mit ihm zu reden, mich mit ihm anzufreunden.“18

Die Bilder, die wir für Krankheiten verwenden („Strafe“, „Kriegsgegner“, „Feind“, „Herausforderung“, „Störung“, „Verlust“, „Prüfung“, „Flucht“ etc.) lassen tief blicken. Es ist nicht unwichtig, sich zu fragen, wie wir uns sprachlich an Krankheiten annähern. Es ist auch interessant zu fragen, welche subjektiven „Krankheitstheorien“ wir verfolgen.19 Die Frage, wie wir über etwas und auch mit jemandem sprechen, ist eine ethische Frage. Diesen Handlungsspielraum der Sprache und der Einstellung haben wir auch im Umgang mit Schicksalhaftem.

Die fünf Fragen der Ethik

Man kann auch sagen, Ethik denkt systematisch über fünf Fragen nach:

 Was ist ein guter Mensch? (Was macht einen guten Charakter aus?)

 Welche Handlungen beziehungsweise Handlungstypen sind gut?

 Was ist ein in einem ethischen Sinn gutes Leben?

 Was ist eine „gute Institution“?

 Was ist eine „gute Entscheidung“?

Wir werden uns im nächsten Abschnitt auch mit der „guten Institution“ und im letzten Abschnitt auch mit der „guten Entscheidung“ beschäftigen. An dieser Stelle ist der Hinweis wichtig, dass bei aller Betonung der Bedeutung von Prinzipien die handelnde und leidende Person nicht umhin kommt, sich als ganzer Mensch in eine Situation einzubringen. Mit anderen Worten: Unseren Charakter tragen wir stets mit uns, den nehmen wir überallhin mit, und gerade im Krankenhaus, wo viele Menschen unter erschwerten Bedingungen auf beengtem Raum Tag und Nacht miteinander verbringen müssen, zeigen sich charakterliche Herausforderungen. Eine Mitarbeiterin auf einer Intensivstation erläuterte in einem Interview:

„Der Kontakt ist extrem nah, ich bin mehr als über den gesunden Abstand beim Patienten … durch die ganzen Kabeln, die ich gleich am Anfang kontrollieren muss, das ist alles im Intimbereich vom Patienten … das ist ständiger Körperkontakt, da ist extreme Nähe da … das ist auch generell ein Thema, dass man zumindest ein bisschen die Privatsphäre wahrt, wobei man gleich beim Temperatursonden-Checken, die liegt in der Leiste … da ist der erste Blick unter die Decke … ich mach es oft mit Schmäh, das ist gleich einmal ein Abchecken, was ist das für eine Persönlichkeit, wie kann ich mit dem reden, wie komme ich zu ihm durch? … Wir haben alles, vom Magister bis zum … eigentlich kommt man schon zum Reden: ,Wo wohnen Sie?‘, etc. Das gefällt ihnen, wenn sie etwas von sich selbst erzählen können. Vielleicht hat man gemeinsame Sachen, beruflich und so.“

Hier zeigen sich Aspekte wie „Humor“, „Gespür für den Menschen“, „Gesprächsfähigkeit“ (soziale und emotionale Intelligenz, Empathiefähigkeit). Humor ist die Fähigkeit, mit Unvollkommenem umzugehen, und auch die Fähigkeit, den Druck aus einer Situation zu nehmen, indem ein „Ventil“ gefunden wird. Das sind Fragen der Persönlichkeit und des persönlichen Wachstums: Du nimmst deine Persönlichkeit mit. Das Überleben hängt mitunter von Kleinigkeiten ab. Der Kardiologe Thomas Meinertz erinnert sich an eine am Bett einer jungen Frau durchwachten Nacht, die wiederholt defibrilliert werden musste. Hatte der Arzt die Kraft, wach zu bleiben? „Mir war völlig klar, eine einzige Unaufmerksamkeit, ein kurzzeitiges Einschlafen meinerseits, ein technisches Versagen des Defibrillators – und alles wäre zu Ende gewesen.“20 Wieder sehen wir die Bedeutung von „Details“ und „Persönlichkeit“, was Gegenstand von kleinen Ethiken ist. Details und Persönlichkeit machen „Alltag“ aus – und um eine „Ethik des Alltags“ soll es uns gehen.

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