Oliver Twist

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Kapitel 15
Was Oliver auf dem Wege zum Buchhändler begegnete

Olivers Rückkehr wurde beiden Herren immer zweifelhafter, zu Grimwigs Triumph und Brownlows tiefer Betrübnis. Ich hätte nun hier in meinem Prosaepos die kostbarste Veranlassung, die Leser mit vielen weisen Betrachtungen über die offenbare Unklugheit zu unterhalten, seinen Mitmenschen Gutes zu erweisen ohne Aussicht auf irdischen Lohn, oder vielmehr darüber, wie sehr es die Klugheit erfordere, in einem besonders hoffnungslosen Falle einige Liebe und Menschenfreundlichkeit an den Tag zu legen, und sodann dergleichen Schwachheiten für immer abzulegen. Die Vorteile liegen auf der Hand. Hält sich der, dem ihr unter die Arme gegriffen, gut und dient ihm euer geleisteter Beistand zum Wohlergehen, so erhebt er euch bis in den Himmel, ihr werdet sehr geachtete Leute und gelangt in den Ruf, unendlich viel Gutes im Verborgenen zu tun, wovon nur der zwanzigste Teil bekannt werde; zeigt er sich als ein Undankbarer und Nichtswürdiger, so habt ihr euch in die vortreffliche Stellung gebracht, daß man euch nachsagt, ihr hättet euch höchst uneigennützig, mildtätig und dienstfertig erwiesen, wäret nur durch erfahrenen Undank und Verrat menschenfeindlich geworden und man könne euch euer Gelübde nicht verdenken, nie wieder einem Menschenkinde beizuspringen, um nicht durch abermalige Täuschungen verletzt zu werden. Ich kenne eine Menge Personen, welche die angegebene Klugheitsregel befolgt haben, und kann versichern, daß sie in der allgemeinsten und natürlich verdientesten Achtung stehen.

Brownlow gehörte indes zu ihrer Zahl nicht, denn er blieb hartnäckig dabei, Gutes zu tun um des Guten selbst und um der Herzensberuhigung und Freude willen, die es ihm gewährte. Täuschungen raubten ihm sein Vertrauen und seine Milde und seine Menschenfreundlichkeit nicht, und Undankbarkeit von Seiten einzelner führte ihn nicht zu dem Entschluss, sich dafür an der ganzen leidenden Menschheit zu rächen. Ich werde daher die fraglichen vielen weisen Betrachtungen unangestellt lassen, und sollte dieser Grund ungenügend erscheinen, so kann ich noch hinzufügen, daß es obenein gänzlich außer meiner ursprünglichen Absicht liegt.

Im finsteren Gastzimmer einer kläglichen Winkelschenke, gelegen in der schmutzigsten Gasse von Little Saffron Hill, saß bei einem Bierkrug und Branntweinglas ein Mann, in welchem trotz dem herrschenden Halbdunkel kein irgend erfahrener Polizeiagent Bill Sikes verkannt haben würde. Zu seinen Füßen lag sein weißer, rotäugiger Hund, und sei es, daß Bill seine Zeit nicht besser anzuwenden wußte, oder daß er seine üble Laune an irgendeinem Gegenstände auszulassen wünschte, genug, er versetzte dem Tiere einen derben Fußtritt. Dem Hunde mißfiel der offenbare Mutwille dieser Behandlung so sehr, daß er nach seines Herrn Beine schnappte, Bill ergriff wütend das Schüreisen und sein Messer, als die Tür sich auftat und der Hund hinausschoß. Zu einem Streite gehören dem Sprichwort gemäß zwei, und Bill setzte daher den einmal begonnenen sogleich mit dem Eintretenden fort.

»Verdammter Jude, was trittst du zwischen mich und meinen Hund?« schrie er ihm entgegen.

»Ich wußt's ja nicht, mein Lieber, wußt's ja nicht, daß Ihr wolltet dem Hunde zu Leibe,« erwiderte Fagin demütig.

»Spitzbube, hast du den Lärm nicht gehört?«

»So wahr mir Gott gnädig ist, nein, Bill, nicht 'nen einzigen Laut.«

»Ja freilich, du hörst nichts, gar nichts,« entgegnete Sikes höhnisch; »ebenso wie du selbst ein- und ausschleichst, ohne daß man dich hört. Ich wollte nur, daß du jetzt der Hund wärst.«

»Warum denn?« fragte Fagin mit einem gezwungenen Lächeln.

»Weil die Regierung, die das Leben solcher Halunken schützt, wie du einer bist, und die nicht halb so viel Mut haben, wie die schlechtesten Hunde, jedermann erlaubt, seinen Hund abzuschlachten, wenn's ihm beliebt – darum!« erwiderte Sikes, sein Messer mit einem sehr bedeutungsvollen Blicke wieder einsteckend.

Der Jude rieb sich die Hände, setzte sich an den Tisch und zwang sich, über die Spaßhaftigkeit seines Freundes zu lachen, jedoch war ihm offenbar dabei nicht besonders wohl zumute.

»Grinse nur, ja grinse nur,« sagte Sikes, ihn mit verächtlichem Trotze anblickend; »über mich sollst du doch nicht lachen, es müßte denn unter der Nachtmütze sein am Galgen. Ich habe die Hand oben, Fagin, und will verdammt sein, wenn ich dir den Daumen nicht aufm Auge halte. Baumele ich, baumelst du auch; also hüte dich vor mir und trag' hübsch Sorge für mich.«

»Schon gut, mein Lieber,« fiel der Jude ein; »ich weiß das alles; Gewinn und Gefahr ist gemeinschaftlich bei uns.«

»Hm!« murrte Sikes, als wenn er dächte, der Gewinn möchte wohl zumeist auf des Juden Seite sein. »Was hast du mir denn aber zu sagen?«

»'s ist alles in den Schmelztiegel gewandert und glücklich wieder heraus – da ist Euer Anteil. Ihr erhaltet eigentlich mehr, als Ihr solltet, mein Lieber; doch da ich weiß, daß Ihr mir schon 'mal wieder sein werdet gefällig, und –«

»Haltet ein mit dem Schwätzen,« unterbrach ihn Sikes ungeduldig. »Wo ist's? Her damit!«

»Ja, ja doch, Bill; gönnt mir nur Zeit. Da ist's,« versetzte Fagin, zog ein altes baumwollenes Taschentuch hervor, knöpfte einen Knoten auf und reichte Sikes ein Päckchen, der es öffnete und die Goldstücke hastig zu zählen anfing.

»Ist das alles?« fragte Sikes.

»Ja, alles.«

»Hast du auch das Päckchen nicht aufgemacht auf dem Wege und ein paar Stück verschluckt? Stell' dich nur nicht beleidigt – hast's ja schon oft getan. Greif' an den Bimbam.«

Fagin klingelte, und es erschien ein anderer Jude, der jünger war, aber nicht weniger abstoßend und spitzbübisch aussah. Sikes wies stumm nach dem leeren Krug hin. Jener Verstand den Wink und ging wieder hinaus, jedoch nicht ohne Fagin vorher einen Blick zugeworfen zu haben, den dieser durch ein kaum bemerkbares Kopfschütteln beantwortete. Sikes hatte sich zufällig gebückt; hätte er den Blick des einen und das Kopfschütteln des andern Juden gewahrt, so möchte er der Meinung gewesen sein, daß ihm diese Pantomimen nichts Gutes bedeuteten.

»Ist niemand hier, Barney?« fragte Fagin den wieder eintretenden Juden.

»Bloß Miß Nancy.«

»Schick' sie herein,« sagte Sikes.

Barney blickte Fagin fragend an, ging und kehrte gleich darauf mit Nancy zurück.

»Du bist auf der Spur, Nancy, nicht wahr, mein Engel?« fragte Bill und reichte ihr ein gefülltes Glas.

»Ja, Bill,« erwiderte die junge Dame, nachdem sie das Glas geleert hatte; »Hab' aber Mühe genug gehabt. Er ist krank gewesen und –«

Nancy bemerkte ein Augenzwinkern Fagins, das eine Warnung vor übergroßer Mitteilsamkeit zu bedeuten schien. Sie brach ab und fing an von anderen Gegenständen zu reden. Nach zehn Minuten bekam Fagin einen Husten, worauf Nancy erklärte, daß es Zeit sei, zu gehen. Sikes sagte, daß er sie eine Strecke begleiten wolle, da er denselben Weg habe. Sie entfernten sich daher miteinander. Der Hund folgte in einiger Entfernung. Fagin sah Sikes durch das Fenster nach, schüttelte die geballte Faust hinter ihm, murmelte eine grimmige Verwünschung, setzte sich mit einem schauerlichen Grinsen wieder an den Tisch und war bald darauf in die Lektüre des Londoner Polizeiblattes vertieft.

Oliver befand sich unterdes auf dem Wege zum Buchhändler, ohne zu ahnen, daß er dem lustigen alten Juden so nahe wäre. Er geriet in eine Nebengasse unweit Clerkenwell, bemerkte seinen Irrtum erst, als er sie bereits über die Hälfte durchwandert hatte und hielt es für das beste, um keine Zeit zu verlieren, ihr zu folgen, da sie ihn, wie er meinte, auch an sein Ziel führen müsse. Er trabte munter vorwärts und dachte an sein Glück, und was er darum geben würde, wenn er den armen kleinen Dick daran teilnehmen lassen könnte, als er durch den lauten Ruf: »O mein lieber kleiner Bruder!« aus seinen Träumereien aufgeschreckt wurde. Als er aufblickte, umschlossen ihn schon die Arme eines jungen Mädchens.

»Lassen Sie mich los,« rief Oliver sich sträubend. »Wer sind Sie? Was halten Sie mich an?«

Die einzige Antwort darauf war ein Schwall lauter Klagen von Seiten des jungen Mädchens, das einen kleinen Korb und einen Hausschlüssel in der Hand hatte.

»O gütiger Himmel!« rief das Mädchen aus. »Endlich hab' ich dich gefunden. Ach, Oliver, o du böser Junge, was hab' ich um deinetwillen ausgestanden! Gott sei Dank, daß ich dich endlich gefunden habe!«

Das junge Frauenzimmer brach in eine Tränenflut aus und schien so heftige Krämpfe zu bekommen, daß ein paar mitleidige Frauen einen dastehenden Fleischerburschen fragten, ob er nicht meinte, daß er zu einem Doktor laufen müsse, worauf der Fleischerbursche, der eine sehr große Ruhe, wo nicht ein beträchtliches Phlegma zu besitzen schien, erwiderte, daß seine Meinung nicht dahin ginge.

»Nein, nein, laßt mich nur,« rief jetzt auch das junge Mädchen; »ich fühle mich schon besser. Und nun komm, mein Junge, geh' sogleich mit mir, mein böser kleiner Liebling.«

»Was gibt's denn?« fragte eine der umstehenden Frauen.

»Ach, er ist vor vier Wochen seinen Eltern entlaufen, guten Leuten, die sich redlich von ihrer Hände Arbeit nähren, und hat sich unter Gauner und Landstreicher begeben, daß seine Mutter fast vor Kummer gestorben wäre.«

»O, du kleiner Taugenichts! – Mach', daß du nach Hause kommst, du ungeratener Bengel!« riefen die Weiber.

»Ich bin meinen Eltern nicht entlaufen!« rief Oliver in großer Angst. »Ich habe weder Schwester noch Eltern. Ich bin eine Waise und wohne in Pentonville.«

»Ach du gütiger Himmel, wie trotzig er schon geworden ist!« schluchzte das junge Mädchen.

»Ei, Nancy!« rief Oliver, der jetzt erst ihr Gesicht sah, im höchsten Erstaunen aus.

 

»Sie sehen, er kennt mich,« sagte Nancy. »Helfen Sie mir ihn nach Hause bringen, lieben Leute; seine Eltern und wir alle sterben sonst noch vor Kummer über ihn.«

»Zu allen Teufeln, was ist das hier?« schrie ein aus einem Bierladen hervorstürzender Mann. »Oliver, Satansbrut, komm augenblicklich mit nach Hause zu deiner armen Mutter. Sofort kommst du mit!«

»Ich gehöre nicht zu ihnen. Ich kenne sie nicht, Hilfe, Hilfe!« rief Oliver, indem er sich unter dem festen Griff des Mannes verzweifelt wand.

»Hilfe!« polterte Sikes. »Ich will dir gleich helfen. Was sind das für Bücher? – Ohne Zweifel gestohlen – her damit!«

Er entriß ihm das Päckchen und versetzte ihm damit einen heftigen Schlag auf den Kopf.

»So ist's recht; das wird ihn schon wieder zur Besinnung bringen,« riefen die Weiber.

»Sollt's auch meinen,« rief der Mann, gab Oliver noch ein paar Schläge auf den Kopf und packte ihn beim Kragen. »Komm, du kleiner Taugenichts! Hier, Tyras, paß auf ihn auf! Paß auf!«

Noch geschwächt von seiner Krankheit, betäubt durch die Schläge und das Überraschende des ganzen Vorgangs, in Schrecken gesetzt durch das Knurren des Hundes und die Brutalität des baumstarken Mannes, und überwältigt durch den Beifall, den die Umstehenden seinen Angreifern gaben – was konnte das geängstete Kind tun? Es war dunkel geworden, die Gasse sah an sich selbst schon verdächtig aus, Hilfe war nirgends zu erblicken, Widerstand nutzlos. Ohne recht zu wissen, wie ihm geschah, fühlte sich Oliver durch ein Labyrinth von engen Straßen geschleppt, und sein jeweiliges Rufen verhallte um so mehr, da er so schnell fortgerissen wurde, daß er keinen Augenblick zu Atem kommen konnte; doch würde es auch von niemand beobachtet worden sein.

Die Gaslampen waren angezündet; Frau Bedwin erwartete mit herzpochender Ungeduld, daß die Haustür sich auftun sollte; die Magd war zwanzigmal die Straße hinuntergelaufen, um nach Oliver auszusehen; die beiden alten Herren saßen beharrlich im Dunkeln neben der zwischen ihnen liegenden Uhr.

Kapitel 16
Was sich mit dem entführten Oliver begab

Die engen Straßen und Gäßchen mündeten endlich auf einen weiten offenen Platz, um den rings Stallungen standen zum Zeichen, daß hier ein Viehmarkt war. Sikes verlangsamte seinen Schritt, als sie diese Gegend erreichten, da das Mädchen völlig außerstande war, den Laufschritt, den sie bisher angeschlagen hatten, länger auszuhalten. Sich an Oliver wendend, befahl er ihm barsch, Nancys Hand zu fassen.

»Hörst du nicht?« brummte Sikes, als Oliver zögerte und sich umsah.

Sie befanden sich in einem finsteren, ganz abgelegenen Stadtteil, und Oliver sah nur zu gut ein, daß Widerstand nutzlos war. Er streckte seine Hand aus, die Nancy fest mit der ihrigen umklammerte.

Der Abend war dunkel und feucht; die Lichter in den Läden konnten kaum gegen den Nebel ankämpfen, der immer dichter wurde und die Straßen und Häuser in ein undurchdringliches Grau hüllte. Sie hatten Smithfield erreicht, als tiefe Glockenschläge die Stunde verkündeten. Sikes und Nancy standen bei den ersten Schlägen still und wandten sich nach der Richtung um, aus welcher die Töne erschallten.

»Acht Uhr, Bill,« sagte Nancy, als die Glocke aufhörte zu schlagen.

»Ich habe selbst Ohren,« erwiderte Sikes mürrisch.

»Ich möchte wohl wissen, ob sie es schlagen hören können?« fuhr Nancy fort.

»Natürlich können sie's,« sagte Sikes. »Es war um Bartholmäi, als ich in Dobes1 gesteckt wurde, und auf dem ganzen Markt schnarrte keine Pfennigtrompete, die ich nicht gehört hätte. Nachdem ich für die Nacht eingeschlossen war, machte der Lärm und das Getöse draußen das vermaledeite alte Gefängnis so still und einsam, daß ich mir den Kopf hätte einrennen mögen an den Basteln2

»Die armen Kerls! Ach, Bill, was sie für schmucke junge Leute sind!«

»Ja, ja, so sprecht ihr Weibsbilder alle!« erwiderte Sikes in einem Anflug von Eifersucht. »Schmucke junge Leute! Doch sie sind so gut wie tot, also mag's gleichviel sein.«

Er faßte den Knaben wieder fester und trieb zur Eile an.

»Noch einen Augenblick,« sagte das Mädchen; »ich würde nicht vorbeilaufen, wenn Ihr's wär't, der zum Galgen herausgeführt würde, wenn's wieder acht schlägt. Ich würde auf und nieder travallen, bis ich niedersänke, und wenn fußhoher Schnee läge, und ich hätte kein warmes Tuch, mich einzuhüllen.«

»Das sollte mir wohl viel helfen,« bemerkte der nichtsentimentale Sikes. »Könntest du mir nicht ä Kulm3 und ä zwanzig Ellen Kabot4 'neinpraktizieren, so möcht'st du fünfzig Meilen laufen oder ganz zu Hause bleiben, es wäre mir alles nichts nütze. Vorwärts, steh' hier nicht länger und paternelle5 nicht!«

Das Mädchen brach in ein Gelächter aus, ergriff Olivers Hand, und sie eilten weiter. Oliver fühlte, daß ihre Finger zitterten, und als sie an einer Gaslampe vorüberkamen, sah er, daß ihr Gesicht totenblaß war.

Sie lenkten nach einer halben Stunde in eine enge, schmutzige Gasse ein, die fast ganz von Trödlern bewohnt zu sein schien, und standen vor einem verschlossenen Laden still. Das Haus schien unbewohnt zu sein und sah halb verfallen aus. Über der Tür war eine Tafel angenagelt, auf welcher zu lesen war, daß das Haus zu vermieten sei; sie schien jedoch dort schon jahrelang befestigt gewesen zu sein.

Nancy bückte sich, und Oliver hörte den Ton einer Glocke. Sie gingen auf die entgegengesetzte Seite der Straße und stellten sich unter eine Laterne. Ein Geräusch ließ sich hören, als ob ein Fenster vorsichtig in die Höhe geschoben würde, und gleich darauf öffnete sich geräuschlos die Tür. Mr. Sikes packte den erschrockenen Knaben jetzt ohne Umstände beim Kragen, und im nächsten Augenblick befanden sich alle drei im Innern des Hauses. Hier war es stockfinster. Sie warteten, bis die Person, die sie eingelassen hatte, die Tür wieder verschlossen und mit einer Sicherheitskette verwahrt hatte.

»Ist jemand hier?« fragte Sikes.

»Nein,« erwiderte eine Stimme, die Oliver bekannt vorkam.

»Ist der Alte hier?« fragte der Dieb.

»Ja,« antwortete die Stimme, »und er wird sicher sehr erfreut sein, Sie zu sehen.«

»Machen Sie Licht,« versetzte Sikes, »oder wir brechen uns den Hals oder treten auf den Hund. Nehmen Sie Ihre Beine in acht, wenn Sie es tun.«

»Bleiben Sie einen Augenblick stehen; ich werde Licht bringen,« erwiderte die Stimme. Man hörte, wie sich der Sprecher entfernte, und eine Minute später erschien die Gestalt John Dawkins', genannt der »gepfefferte Baldowerer«. Der junge Herr gab nur durch ein spöttisches Grinsen kund, daß er Oliver wiedererkannt habe, und bat die Besucher, ihm eine Anzahl Stufen hinunterzufolgen. Sie gingen durch eine leere Küche und traten in ein niedriges, dumpfiges Gemach ein. Ein lautes Gelächter schallte ihnen entgegen. Charley Bates wälzte sich im eigentlichen Sinne vor Vergnügen über den gar zu kostbaren Spaß auf dem Boden, riß sodann Jack Dawkins das Licht aus der Hand, hielt es Oliver dicht vor das Gesicht und beschaute ihn von allen Seiten, während ihm Fagin scherzhafterweise tiefe Verbeugungen machte und der Baldowerer, der von ernsterem Wesen war und sich nicht leicht der Heiterkeit überließ, wenn es Geschäfte zu verrichten galt, sorgfältig seine Taschen durchsuchte.

»Ich freue mich unendlich, Sie so wohl zu sehen, mein Lieber,« sagte der Jude. »Der Gepfefferte soll Ihnen geben einen andern Anzug, damit Sie den sonntäglichen nicht verderben gleich. Warum schrieben Sie's nicht, daß Sie kommen wollten – wir hätten dann treffen können noch bessere Vorbereitungen – aber Sie sollen dennoch etwas Warmes bekommen zum Abendbrot.«

Jetzt lächelte sogar der Baldowerer; da er jedoch in diesem Augenblicke die Fünfpfundnote hervorzog, so ist es zweifelhaft, ob der Witz Fagins oder die erfreuliche Entdeckung seine Heiterkeit erregte.

»Holla, was ist das?« rief Sikes, und trat auf den Juden zu, als derselbe die Banknote hinnahm. »Diese ist mein, Fagin!«

»Nein, nein, mein Lieber,« entgegnete der Jude. »Mein, Bill, mein; Ihr sollt die Bücher haben.«

»Bekomm' ich und Nancy sie nicht,« sagte Sikes, mit entschlossener Miene den Hut aufsetzend, »so bring' ich den Buben wieder zurück.«

Der Jude fuhr empor und Oliver gleichfalls, obgleich aus einem ganz anderen Grunde; er hoffte, der Streit würde damit enden, daß man ihn wieder nach Pentonville zurückbrächte. Allein Sikes entriß dem Juden unter Schelten und Drohen die Banknote, faltete sie kaltblütig zusammen und knüpfte sie in den Zipfel seines Halstuchs.

»'s ist für unsere Mühe und noch nicht halb genug,« sagte er. »Behaltet Ihr die Bücher, wenn Ihr gern lest, und wo nicht, schlagt sie los!«

»Es sind prächtige Bücher; nicht wahr, Oliver?« fiel Charley Bates ein, als er die klägliche Miene gewahrte, mit der Oliver zu seinen Peinigern emporblickte.

»Sie gehören dem alten Herrn,« sagte Oliver händeringend, »dem lieben, guten alten Herrn, der mich in sein Haus nahm und mich pflegen ließ, als ich todkrank lag. O bitte, schicken Sie sie zurück, schicken Sie ihm die Bücher und das Geld zurück! Behalten Sie mich hier mein Leben lang, aber bitte, bitte, schicken Sie sie nur zurück. Er wird glauben, daß ich sie gestohlen hätte – und die alte Dame und alle, die so freundlich gegen mich waren, werden es denken. O, haben Sie Erbarmen und schicken Sie die Bücher und das Geld zurück!«

Oliver fiel vor dem Juden auf die Knie nieder und hob flehend und ganz in Verzweiflung die Hände zu ihm empor.

»Der Bube hat recht,« sagte Fagin, listig umherblickend und die buschigen Augenbrauen zusammenkneifend. »Du hast recht, Oliver, hast ganz recht; sie werden allerdings glauben, daß du sie gestohlen hast. Ha, ha, ha!« kicherte er und rieb sich die Hände; »es hätte sich ganz unmöglich treffen können besser, und wenn wir noch so gut gewählt hätten die Zeit.«

»Versteht sich,« fiel Sikes ein; »ich wußt's gleich im selbigen Augenblick, als ich ihn durch Clerkenwall mit den Büchern unterm Arme daherkommen sah. 's ist nun alles gut. Es müssen schwachköpfige Betbrüder sein – hätten ihn sonst gar nicht zu sich genommen; und sie werden auch keine Nachfrage anstellen, aus Furcht, daß sie ihn anklagen müßten und ihn gerumpelt6 zu sehen. Wir haben ihn jetzt fest genug.«

Oliver hatte unterdes bald Sikes, bald Fagin angesehen, als wenn er ganz betäubt wäre und kaum verstände, was gesprochen wurde; allein bei Bills letzten Worten sprang er plötzlich empor und stürzte unter einem Geschrei nach Hilfe aus der Tür hinaus, daß die nackten Wände des Hauses davon wiederhallten.

»Halt' den Hund zurück, Bill,« schrie Nancy, eilte vor die Tür und verschloß sie, als der Jude mit seinen beiden Zöglingen Oliver nachgestürzt war; »halt' den Hund zurück; er reißt ihn in Stücke!«

»Ist ihm gerade recht!« rief Sikes und suchte sich von dem Mädchen loszumachen. »Laß mich los, oder ich renn' dir den Kopf gegen die Wand!«

»Ist mir alles gleichviel, Bill, ist mir alles gleichviel,« schrie das Mädchen, sich heftig gegen ihn sträubend; »er soll nicht von dem Hunde zerrissen werden, und wenn es mein Tod ist!«

»So!« tobte Sikes; »sollst nicht lange warten auf deinen Tod, wenn du nicht im Augenblick ablässest!«

Er schleuderte sie in die fernste Ecke des Gemachs, gerade als der Jude, Jack und Charley den Flüchtling wieder hereinschleppten.

»Was gibt's hier?« fragte Fagin.

»Ich glaube, die Dirne ist toll geworden,« erwiderte Sikes in Wut.

»Nein, ich bin nicht toll,« rief Nancy blaß und atemlos dazwischen; »nein, Fagin, glaubt's nicht!«

»Dann sei ruhig – willst du wohl?« sagte der Jude mit drohender Gebärde.

»Das will ich auch nicht!« erwiderte Nancy mehr schreiend, als redend. »Was willst du nun?«

Mr. Fagin war mit den Sitten und Gebräuchen der Spezies von Menschenkindern hinlänglich bekannt, welcher Miß Nancy angehörte, um sich ziemlich überzeugt zu fühlen, daß es einigermaßen gefährlich sein würde, die Unterhaltung mit ihr für den Augenblick fortzusetzen. Er wendete sich daher, um die Aufmerksamkeit der Gesellschaft abzulenken, zu Oliver.

»Du wolltest also fortlaufen, mein Lieber?« sagte er, einen Knotenstock aufhebend, der am Kamine lag; »wolltest rufen die Polizei – nicht wahr, mein Schatz? Ich will dich von der Krankheit kurieren, lieber Engel!«

Er hatte bei diesen Worten Oliver beim Arme gefaßt, versetzte ihm einen Schlag über den Rücken und hob den Knotenstock wieder empor, als Nancy auf ihn zustürzte, ihm den Stock aus der Hand riß und in das Feuer schleuderte.

 

»Ich leid's nimmermehr, Fagin!« schrie sie. »Ihr habt den Knaben, und was wollt Ihr mehr? Laßt ihn – laßt ihn zufrieden, oder ich tue etwas an Euch, das mich vor meiner Zeit an den Galgen bringt!« Sie stampfte bei dieser Drohung heftig mit den Füßen und blickte mit verbissenen Lippen, geballten Fäusten und blaß vor Zorn und Wut abwechselnd den Juden und Sikes an.

»Ah, Nancy!« sagte der Jude nach einer kurzen verlegenen Pause beschwichtigend; »du – du übertriffst dich wirklich heute Abend selbst – ha, ha, ha! – spielst ganz prachtvoll deine Rolle, liebes Kind!«

»So!« entgegnete Nancy; »nehmt Euch nur in acht, daß ich sie nicht zu gut für Euch spiele. Ich sag' es Euch vorher, Ihr werdet Euch sehr schlecht dabei stehen!«

Es gibt wenige Männer, die sich nicht gern enthielten, ein in Wut geratenes und obenein von nichtsachtender Verzweiflung beseeltes Frauenzimmer noch mehr zu reizen. Der Jude sah ein, daß es ihm nichts helfen könne, sich noch länger zu stellen, als wenn er Nancys Zorn für bloß erkünstelt hielte, fuhr unwillkürlich einige Schritte zurück und blickte halb zitternd, halb verzagend nach Sikes. Dieser mochte glauben, sein persönliches Ansehen fordere es, Nancy baldigst wieder zur Vernunft zu bringen, und begann daher seine Operationen mit zahlreichen und kräftigen Drohungen und Verwünschungen, wobei er den Beweis lieferte, daß er es in diesem Genre in der Tat zur Meisterschaft gebracht hatte. Als sie keinen sichtbaren Eindruck machten, ging er zu noch überzeugenderen Argumenten über. »Was soll das bedeuten, Dirne?« tobte er unter Hinzufügung einer Verwünschung, die die Blindheit so gewöhnlich als die Masern machen würde, wenn der Himmel sie nur halb mal so oft wahr machte, als man sie auf Erden hört. »Was willst du damit bezwecken? Weißt du, zum Geier, wer du bist – was du bist?«

»O ja, ja; ich weiß es nur zu gut!« erwiderte Nancy unter krampfhaftem Lachen, dabei den Kopf hin- und herwiegend, um gleichgültig zu erscheinen, was ihr jedoch schlecht gelang.

»Dann sei ruhig, oder ich werde dich auf 'ne lange Zeit zum Stillschweigen bringen.«

Sie lachte abermals, blickte flüchtig nach Sikes, wendete das Gesicht ab und biß sich die Lippen blutig.

»Du bist mir die Rechte, dich auf die menschenfreundliche und honette Seite zu legen!« fuhr er verächtlich fort. »Der Bursch' würde 'ne saubere Freundin an dir haben, wozu du dich aufwirfst!«

»Und beim allmächtigen Gott, ich bin es!« rief sie mit leidenschaftlicher Heftigkeit; »und ich wollte lieber, daß ich auf der Straße tot niedergefallen oder in das Gefängnis geworfen wäre, statt derer, denen wir so nahe waren, als daß ich mich dazu hergegeben hätte, ihn hierher zu bringen. Er ist von heut Abend an ein Dieb, ein Lügner, ein Mörder, ein Teufel und alles, was nur schlecht und verworfen heißen mag; – ist das nicht genug für den alten Halunken – muß er ihn obenein schlagen?«

»Hört, Bill,« fiel der Jude dringend und nach dem mit gespanntem Ohr zuhörenden Knaben hindeutend ein; »wir müssen freundliche Worte gebrauchen, freundliche Worte, Bill.«

»Freundliche Worte!« schrie das in seiner Wut schrecklich aussehende Mädchen; »freundliche Worte, Ihr Schuft! Ja, die verdient Ihr auch von mir! Ich habe gestohlen für Euch, als ich noch nicht halb so alt war wie dies Kind hier, und bin in demselben Geschäft und demselben Dienst seit zwölf Jahren gewesen; wißt Ihr das nicht? Sprecht, wißt Ihr es nicht?«

»Ja, ja doch,« erwiderte der Jude besänftigend; »du hast ja aber auch davon dein Brot.«

»Freilich, ich habe mein Bettelbrot davon,« schrie sie immer heftiger, »und die kalten, nassen, schmutzigen Straßen sind meine Wohnung; und Ihr seid der ruchlose Mann, der mich Tag und Nacht hinaustreibt und mich Tag und Nacht hinaustreiben wird, bis ich im Grabe liege.«

»Ich füge dir ein Leid zu,« versetzte der Jude, durch diese Vorwürfe gereizt, »ein Leid, das schlimmer ist als das, von dem du sprichst, wenn du noch ein Wort sagst.«

Nancy erwiderte nichts mehr, zerraufte aber in einem Übermaß von Leidenschaft ihr Haar, stürzte auf Fagin zu, und auf seinem Gesichte würden ohne Zweifel sichtliche Spuren ihrer Rache zurückgeblieben sein, hätte nicht Sikes eben noch zur rechten Zeit ihre Arme festgehalten. Sie bemühte sich vergeblich, sich von ihm loszureißen, und sank in Ohnmacht. »Es ist nun alles wieder in Ordnung,« bemerkte Sikes, sie in eine Ecke tragend. »Sie besitzt außerordentliche Körperkräfte, wenn sie sich in diesem Zustand befindet.« Der Jude wischte sich die Stirn und lächelte, und sowohl er, wie Sikes und die Knaben schienen den ganzen Vorfall als einen gewöhnlichen, im Geschäft häufig vorkommenden zu betrachten.

»Es ist doch das Schlimmste, mit Weibern zu tun zu haben,« bemerkte der Jude, den Stock wieder beiseite stellend; »aber sie sind schlauer als wir, und wir können ohne sie nicht fertig werden. Charley, bringe Oliver zu Bett.«

»Nicht wahr, Fagin, er soll morgen seine besten Kleider nicht tragen?« fragte Charley Bates grinsend, und der Jude verneinte, Charleys liebliches Grinsen erwidernd. Master Bates schien sich seines Auftrags höchlich zu freuen, führte Oliver in das anstoßende Gemach, in welchem einige Betten der Art standen, wie er sie bereits kennen gelernt, und zog mit unbezwinglichem Gelächter die alten Kleidungsstücke hervor, die sich Oliver so gefreut hatte, ablegen zu dürfen, und die Fagin auf die erste Spur seines Aufenthaltes bei Mr. Brownlow gebracht hatten.

»Zieh' die Sonntägischen aus,« sagte Charley, »ich will sie Fagin zum Aufheben geben. Welch' ein prächtiger Spaß!«

Der arme Oliver gehorchte widerstrebend und wurde darauf von Charley im Dunkeln gelassen und eingeschlossen. Master Bates' Gelächter und die Stimme Betsys, die nach einiger Zeit erschien und ihre Freundin zum Bewußtsein zurückzurufen sich bemühte, wären gar wohl geeignet gewesen, ihn unter anderen Umständen wach zu erhalten; allein er war erschöpft und unwohl und schlief daher bald ein.

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