Nachrichten aus dem Garten Eden

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Sin alles bloß Menschen!, sagte meine Tante und schloss ihren Bericht ab. Dardarnach hatte ich meine Arwait. Iwrijens: die CDU wähle iche niche, wies jetzt in Siehleken Mode is. Trotzdem iche frieher, als der Paschter Kratochwil noch da wor, in de Kerche bin un zun Bibelstundn. War aach wejen mane Schulfreundin, die Feli Adler, die da die Kinner in Relijon underrichtet hat, bisse nach Halberstadt versetzt wurde un for de Katecheden im Krais zuständich wor.

Frollein Adler, kenne ich, klar, erwiderte ich. Scheenes Wiepchen. Jroß un mits so blaue Ooren. De Dochter von Doktor Adler in Alterode.

Iche hawwe de ollen Wiepchen offjehetzt, dasse mer immer richtich wähln. Kannste ratn, welche Partai! Denen zum Dorte! Meine Tante lachte. Wieder ganz hexisch, trotzdem ihre Stimme noch jung war und in ihr schwarzes Haar hatte sie bloß einige weiße Fäden drin. Ihr feines Gesicht war mits einem Mal voller junger Lustigkeit. Un wer was jewählt hat, hawwich rausjekricht. Ich kenne mane Sylkener. Iche waß, wasse vor 45 jemacht ham un was nachhert. Un iche waß, wie se vor 89 jeredt ham un wie nachhert. Un die Sylkener wissen, dass ichs waß, uns paßt ihnen niche. Un es is ihnen niche recht, dass iche saren kann, wer welche Fahne immer als erschter hat nach draußen jehangn. Nu, Fritzchen, kannste den erzähln, dasses aufschreihm, wenn se wolln.

Stunden saß ich bei Tante Hildegard, mampfte den frischen Matzkuchen, dass mir nachhert der Wanst spannte und ich sehr aufrecht nach Hause lief, und ich mits Staunen nachdachte, was meine Tante den Sylkenern alles so mitzuteilen gehabt hatte. Seither gehe ich manichmal bei ihr. Und immer nehme ich die kleine Rotznase mit, die ich mal war, damits die nachholt aus der Zeit, wo sie sich so eine Frau so sehr zur Mutter gewünscht hätte. Stizel, Kartoffelkuchen, hat sie mir auch schon gemacht. Reinewech vernarrt bin ich in meine Tante. Als Kind ist sie mir nicht aufgefallen. Da hatte ich vor allem Tante Ruth vor Augen, die Schwester von meinem Vater, die aber zu weit weg verheiratet war, in Quedlingburch. Tante Hildegard hätte mir schon gutgetan. Und wenn sich Margarete wieder mal nach unser olles Siehleken verirrt, denn kricht sie auch Stizel bei Tante Hildegard vorgesetzt. Soll die Tante ihr noch mal erzählen, was sie mir erzählt hat. Sowieso werde ich Jerard zu ihr führen, wenn er sich denn wirklich in unse Gegend blicken lassen sollte. Den werde ich richtig tief eintunken ins Leben bei uns, wie es sich entwickelte, seit er fortgemacht ist.

Aus der Chronik ist dann doch nichts geworden. Man war eben sehr obenauf in jenen Tagen.

Den Schandarmen, den Astel-Knastel, hatte meine Tante mits keinem Wort erwähnt. War der für sie auch bloß ausführendes Organ, vielleicht sogar nur ein Verrickter? Das Dorf hatte ihm jedenfalls nicht verziehen, dass er mitgeholfen hat, die drei Männer einzusperren. Mag die Friedenstante meinstwegen eine arme, verdrehte Frau gewesen sein und keine Hexe und Anschwärzerin. Doch den Astel-Knastel ließ ich mir nicht nehmen als den ganz persönlichen Feind meiner Kindheit, den Bluthund, der meinen Vater, Hermann und mich hetzte.

Aber manichmal waren auch wirs gewesen, die ihn gehetzt haben:

Morjen wern se uns beackern komm!, hatte Hermann am Sonnabend nach Schickedanzens Weggang gesagt und Agitprop-Truppen aus der Stadt gemeint, FDJler und Genossen, die ihren Sonntag hergaben, um für den Eintritt in die landwirtschaftlichen Genossenschaften zu agitieren, Propaganda dafür zu machen, was heute einfach unter Werbung liefe oder PR. Sie bekamen kein Geld dafür, hatten keinen Nutzen davon, hielten es für ihren gesellschaftlichen Auftrag und glaubten an die Sache (des Sozialismus) so fest wie Paschters seine Familie an Gott. Wie gesagt, bei uns fielen sie nicht massenweise ein wie woanderschert. Da beschränkte sich der Einsatz, weil wir in der Vergesellschaftung schon ziemlich vorangeschritten waren, und der sozialistische Frühling seine Blüten schon trieb, für dessen Einführung der Genosse vom Politbüro, Gerhard Grüneberg, verantwortlich zeichnete. Da wern wer ehmt an Ausfluuch machn!, sagte mein Vater. Offenbar hatte er auch schon über diesen Sonntag nachgedacht, an dem wir als einzigstes Objekt dringender Werbung für das Genossenschaftswesen übrigblieben.

3

Ein Ausflug! Ich dachte an die Schlittenfahrten im Winter, die wir machten, damits die Pfäre nicht steif wurden. Und wir hatten Wandertage von der Schule aus mits unsem Sportlehrer Münz. An die Radausflüge in den Harz knüpfen sich herrliche Erinnerungen. Mein Vater gönnte sich nicht mal jedes Jahr den Ausflug zu Himmelfahrt, zum Herren- oder Männertag, auf einem wunderbar geschmückten Pferdefuhrwerk von Dorf zu Dorf, von Kneipe zu Kneipe.

Auch Margarete konnte mir nicht erklären, warum ausgerechnet Christi Himmelfahrt die Männer so ermunterte, ihre Höfe zu verlassen. Der Herr fuhr gen Himmel, und die Bauern fuhren gen Gernrode und Harzgerode und wie die Orte alle heißen, ins Leinetal, ins Selketal und machten den Tag des Herrn zum Tag der Herren oder Männer und sich in Kneipen ihren kleinen Himmel. Vor dem Krieg war das noch nicht üblich. Vielleicht hings damits zusammen, dass die Kirche nach dem Krieg noch weniger Macht hatte, also dass die Säkularisierung, wie Margarete mits Worten ihres Vaters sprach, zu sehr vorangeschritten war. Den Rückweg mussten die Pfäre allein finden. Maniche Bauern und Handwerker und was sonst an Vertretern gesellschaftlicher Schichten in den Wagen vorhanden waren, fielen beim Hinausklettern wie Getreidesäcke vom Wagen, dass es für die Kinner ein Spaß war, dies mits anzusehen. Ich schätze, für die eigenen Wiepchens weniger.

Hermann und ich sahen den Vorschlag für sinnvoll wie verlockend an und staunten über den Einfall von unsem Vater, der sonst nichts als seinen Hoff im Schättel und wirklich nie zu der Vermutung Anlass gegeben hatte, er besäße eine ganze kleine Wenigkeit Fantasie. Unse Oma sagte zu allem nichts, kochte Eier, Muckefuck, briet Schnitzel. Ich schmierte Bummen, damits es uns unterwegs an nichts fehle und wir nicht einkehren müssten in Wirtschaften. Trotzdem es an Geld nicht mangelte, seit wir durch Schweinemast »freie Spitze« verdienten, wollte mein Vater es nicht wegen der Genossen aus dem Fenster schmeißen.

Mits der Schweinemast verhielt es sich so: Eine Zeit hatte man da Vergünstigungen wegen der schlechten Versorgungslage der Bevölkerung. Man kriegte zusätzlich Kleie gestellt. Für 100 Kilo Fleisch bekam man 600 Marks, was damals viel Geld war, wenn man bedenkt, dass um die Zeit eine Bibliothekshelferin vielleicht 250 Marks im Monat bekam. Wir stiegen voll in das Geschäft mits dem Staat ein. Als das mits der Kleielieferung nicht mehr war, hielten wir uns an die zwei Gaststätten, die oben neben dem Pfarrgehöft und die kleine unten am Barch zum Dorfausgang hin, holten uns von da die Abfälle als Futter. Wir verkauften bis 20 Schweine über dem Soll im Jahr. Man hätte unsen Vater im Ort den »Schweinekönig« heißen können.

Sonntag, nachdem wir das Vieh versorgt, die Milchkannen weggebracht hatten, schirrte Hermann unsen Alwin an und unse Lotte oder die Juste, kann ich mich heute nicht mehr erinnern, wer von unsen drei Pfären damals dabei war. Wurde immer schön abgewechselt. Und Nixe kam auch mit, unser Foxterrier. Die musste immer mit. Unse Oma überließen wir dem Feind. Auf keinen Fall wollte sie am Ausflug teilnehmen mits ihren verwickelten Beinen, trotzdem wir mächtig zuredeten. Wenns ane Kutsche noch wär wie vorem Kriech, sagte sie, das däte miche eher jefalln. Aber die Kutsche schon lange ausrangiert, stand verdreckt in der Scheune. Ich hockte mich zu Hermann auf die Schoßkelle. Er hielt die Zügel. Der Vater auf einem Bänkchen hinter uns. Durch die Kastanienallee ging es, hinter der rechter Hand das Gut war, rechts runger ins Unterdorf. Schon sahk man die mächtige Burg Wiepstein. Abwärts rollten wir, zogen die Bremse an bis nach Arnrode ins Einetal hinein. Grad war die Mukeräne hineingeflossen, sodass die Eine fetter wurde, und bis Aserschlehm würden sich noch einige Rinnsale in sie ergießen wie der Saubach und Wippelsbach. Wir aber fuhren bachaufwärts. Weiter oben in Stangerode dann das Flüsschen Leine. Vorbei ging es an der Schule, am ehemaligen Gut, dem zweiten, das Arnrode hatte, jetzt Maschinen-Traktoren-Station. MTS. Vorher hieß es noch Maschinen-Ausleih-Station. MAS. Dort konnten sich die Bauern für billiges Geld Maschinen mitsamt Menschen, die sie bedienten, ausleihen. Heute gibt es so was wieder, nur dass man ehmt teures Geld hinblättern muss. Nachhert wurde die MTS ganz der LPG zugeschlagen, während sie vorher noch Einzelbauern Hilfe leistete. Und mits der weiteren Vergesellschaftung hatte sie mal die, mal jene Organisationsform. So kam es, dass die Schlosser mal Arbeiter waren, mal LPG-Mitglieder, also Bauern. Trotzdem sie in ein und derselben Werkstatt arbeiteten, gehörten sie zu bis sechs unterschiedlichen Betrieben im Laufe der Jahre. Zum Ende wurden sie wieder der LPG als Reparaturbasis zugeschlagen. Das war das Allervernünftigste.

Die Arnröder Kirche grüßte uns, von einem berühmten Baumeister namens Schinkel erbaut und von der Familie Baron v. Knigge einstmals gesponsert, wie man heute so sagt, dem das Schloss und sicher mal das Unterschlosß gehört hatte. Ein Verwandter von dem Benimm-Knigge. Die Kirche noch in Vorwendezeiten schön restauriert, als dem letzten Kulturminister Hoffmann Kunde von dem schlechten Zustand wurde. Der nämlich ein Schinkelanhänger. Nachhert soll der ehemalige Elektriker sich als Computerexperte sein Geld verdient haben. Jemand hörte, er hätte, am Computer sitzend, einen schnellen, schönen Tod gehabt. Friede seiner Asche. Also seids ihr mal in der Gegend, könnts euch die Kirche gerne ansehen und an die Knigges und vielleicht auch an den letzten Elektriker-Kulturminister denken, der weniger bekannt ist als der Vater von unsem Gregor dem Kleinen oder Gregor dem Redefertigen, der wo uns Ostdeutsche zu einigem Ansehen im Bundestag und in dem großen Deutschland verholfen hat. Der Vater Gysi ja woll auch mal Kulturminister gewesen, hat man mir wenigstens gesagt.

 

Meine Augen verharrten Blicke lang am Zeltdach-Turm der Schinkel-Kirche. Runde Bogen mits kräftigen Mauern. Unterhalb des Wiepstein ließ sich ehmt nur Wuchtiges denken, trotzdem der Schinkel auch ganz anderes gebaut hat, wie ich inzwischen mits eigenen Augen gesehen habe. Die Fahrt durch das Einetal dauerte fort. Alwin und Lotte trabten aus Arnrode heraus, in den Harz hinein, nach Alterode, Stangerode, Ulzigerode, alles, sagte ich schon, unse jetzige Großgemeinde. Damals aber lagen die Orte so auseinander, dass man sich die nie als eins hätte denken können.

-rode, -leben, -stedt übrigens die häufigsten Namensendungen hier in der Gegend. Sylken fällt völlig heraus. Fragt man uns, wo wir herkommen, möchten wir gar nicht antworten. Müssen wir es doch, lässt man uns den Namen noch fünfmal sagen und hat ihn doch nicht verstanden. Seit der Einheit allerdings ist Besserung eingetreten. Sylt wie die Insel, sage ich. Aber Sylken mits K.

Unser Vater schlummerte im Heu, das wir für den Fall aufgeladen hatten, wir würden unterwegs müde. Und nicht viel später übergab Hermann mir die Zügel und legte sich ebenfalls hinein. Die beiden konnten was wechkulpen, schlafratzen. So heiligten wir Luthers vom Dorf ungene einmal den Sonntag, den siebenten Tag durch Ruhe, wie es Paschter Kratochwils dringende Empfehlung war.

Sonst hatten die Bauern, ausgenommen mein Großonkel Ernst, dem Luther oben auf dem Barch, mits Feiertagsheiligung wenig im Sinn. Wir fanden, selbst am siebenten Tag schrie nicht nur das liebe Vieh nach uns, auch die Felder warteten. Das Unkraut ließ der Herr an seinem Tag wie an jedem anderen neben Getreide, Kartoffeln, Rüben und so weiter herwachsen. Die Sylkener Glocken läuteten sonntags zwar zur Freude aller ins Land hinein, doch mits keiner Folgerung außer für paar olle Wiepchens, ein paar Ganztreue, wie Margarete in der Sprache ihrer Eltern sagte, und Vorkonfirmanden und Konfirmanden, denen Paschter Kratochwil ohne mehrmaligen Gottesdienstbesuch die Konfirmation verweigerte, und Kinder, die wegen die bunten Abreißbildchen kamen. Als Mahnung wurde das Feiertagsläuten bei uns weniger ernst genommen als das alltägliche Läuten. Zwelewe, mittags wirds, sagten uns die Glocken. Abend wird’s, sagten sie uns, wenn sie um sechse läuteten, im Winter um fünf. So hatte unser Tag durch die Glocken seine Einteilung.

Wir zuckelten in den Harz hinauf. Nach Arnrode kam Alterode. Mir vom Ansehen am liebsten, noch lieber als unser Siehleken. Die Ziegelhöfe auf bergigem Gelände so eng ineinander verschachtelt und mittendrin die Kirche mits ihrem Fachwerkturm. Jedes Dorf zum Hineingucken und Überlegen, wie es sich darin wohnen lässt. Grad die kleinen so sehr heimelig in ihrer Abgeschiedenheit von der Welt.

Ein ganzes Stück weit waren wir gekommen, als das Feiertagsgeläut einsetzte, das Vorläuten, das Hauptläuten, nachert das Schlussläuten. Den ganzen Vormittag würde das so gehen wegen der Betreuung mehrerer Gemeinden durch einen Paschter, der ja nicht gleichzeitig überall sein konnte, warum die Gottesdienste zu unterschiedlichen Zeiten begannen. Mits nichts im Wagen als dem schlafenden Vater und Bruder, den herrlichen Geruch von Heu in der Nase, an fernerem Ort, aber alles Heimat. Das für uns der Harz vom Südosten hinauf bis zum Brocken, Rosstrappe, Hexentanzplatz. Hermanns- und Baumannshöhle und so weiter. Der Nordwesten vom Harz für mich damals wegen der Teilung nicht in meinen Gedanken. Es war mir danach, diesen Sonntag besonderst zu machen. Wohl auch in Gedanken an Margarete, die den Vormittag die Orgel traktierte, erst in Arnrode, dann in Sylken, da für die Erwachsenen und nachhert für die Kinder. Einhändig hatte sie angefangen, spielte inzwischen zweihändig und lernte von einem städtischen Organisten, mits ihren Füßen auf den Pendalen herumzuwandern. Bei dem Zehn-Uhr-Läuten tauchte ein Kirchlein an der Straße auf. Ich entschloss mich zu einer sehr eigenwilligen Handlung, die dem Fritzchen von vor einer Woche gar nicht ähnlich sah. Als ob ich mutiger wurde, seitdem ich wuste, ist kein Jerard, der alles für mich regelt. Ich lenkte unse Jäule auf den Kirchvorplatz. Brrr!, schrie ich, zog die Zügel an. Auf der Stelle standen Alwin und Lotte oder Juste. Sie würden stehen bleiben eine Stunde, zwei, solange sie im Geschirr waren, den Wagen hinter sich hatten. Ich befestigte die Zügel, sprang den Wagen hinunter. Hermanns Kopf erschien über dem Wagenrand. Was isn los?, rief er. Was hältste denne?

Iche jeh in de Kerche!, antwortete ich schreiend. Hermanns Kopf sank wieder zurück. Unser Vater und Hermann konnten zu jeder Zeit was wechkulpen. Wie ihre Arbeit nie ein Ende nahm, so auch nicht ihre Fähigkeit zu schlafen.

Gegen die dröhnende Orgel kam der Gemeindegesang nicht an. Trotzdem durchdrang die hohe, altersdünne Stimme meiner Nachbarin mein rechtes Ohr so stark, dass es eine rechte Wehtat war und ich meinen Hintern Stück um Stück von ihr wegschob, bis ich am anderen Ende der leeren Kirchenbank angelangt war. Die Gottesdienstbesucher sowieso wie sorgfältig über die Bänke verteilt, damits kein Gestühl sich ganz unnütz vorkäme.

Der Gesang des Paschters dagegen schallte, sowohl beim Mittun mits der Gemeinde als auch im Wechselgesang mits ihr. Der Gesang hatte für mich immer etwas aus Zeiten sehr, sehr lange zurück, ehe der von uns eventuell verwandte Vorfahr die deutsche Sprache in die Kirche gebracht hatte. Ich kann kaum einen Ton treffen, trotzdem habe ich ein Ohr für einen Gesang nicht von heute und nicht von gestern. Ein Empfinden für Musik muss nicht mits bester Treffsicherheit im Ton verbunden sein, hat man inzwischen rausgefunden. Abgesungen war die ganze Litanei, ein Lied dardazu, der Bibeltext gelesen, die Epistel und das Evangelium, dem einen von beiden lag die Predigt zugrunde, wie der Paschter sagte. Und ich dachte wie jeden Sonntag, als ob die Predigt tief auf dem Grund eines Sees ruhte. Aber natürlich war das nur eine altertümliche Wendung. Nun fand ich, dass ich den Feiertag genug geheiligt hätte, hatte mich auch satt gesehen an dem breitschultrigen dichtgeriehenen, schwarzen langen Kleid des Paschters, dem Tarlar oder wie das Gewand heißt, wollte auf keinen Fall die nicht auf einem Grund und deshalb stumm und still liegende, sondern eine vielleicht dreiviertelstundenlang sprudelnde Predigt mits anhören. Wie ich gerade dabei war aufzustehen, knarrte laut die Kirchentür. Der Paschter schaute gepfeffert und gesalzen, und die wenigen Köpfe der Gottesdienstbesucher drehten sich in die dem Paschter entgegengesetzte Richtung. Herein traten der Vater und Hermann. Mits hängenden Armen standen sie. Ich möchte nicht dafür einstehen, dass nicht noch ein paar Heufäden an ihrer Kleidung hingen. Sie sahen sich um, hefteten dann den Blick auf mich. Doch gerade aus dem Grunde war es mir unmöglich, die Kirche zu verlassen. Ganz ausgeschlossen, vor den Augen aller, sozusagen in aller Öffentlichkeit die Schritte hinaus zu tun! Dem Vater und Hermann schien das verursachte Aufsehen ebenso peinlich, unser Vater ja kein hartgesottener Ungläubiger. Als Bauer wollte er es sich nicht verderben mits einer Macht, die mindestens Herr über Winde und Wetter war, wenn er nicht gar im Einzelfall noch darüber hinaus auf Menschenschicksale einwirkte. Dass da irchendewas is, waß mans?, sagte der Vater unbestimmt, kam die Rede auf das Thema. Einen Rückzug jedenfalls traten sie nicht an, taten stattdessen so, als seien sie verspätete Gottesdienstbesucher und ließen sich in einer der letzten Reihen nieder. Der Paschter begann seine Predigt, seine Augen bannten Hermann und Vater auf ihre Plätze. Vielleicht hielt er sie für Abgesandte der Staatsmacht, die seine Worte prüften und im Geiste festhielten. Von Margarete wusste ich, dass ihr Vater – entdeckte er gänzlich Fremde im Gotteshaus – diesen das Evangelium mits besonderer Strenge wie Vergnügen predigte, waren die doch im Auftrag und konnten ihm nicht entrinnen, waren quasi auf ihren Platz festgezurrt. Ich vermute mal, leise Hoffnung war in dem Paschters Kratochwil auch, er könne einen dieser Unglücklichen, die ihre Ohren der Partei- und Staatsmacht ausliehen, zur Umkehr bewegen. Siehe Saulus und Paulus. Der Paschter hier jung wie unser eigener. Vielleicht konnte er deshalb mits Worten an sich halten, ihnen ein Maß setzen. 20 Minuten hielt Paschter Kratochwil für eine Predigt angemessen. Und so lange etwa verbrachte auch der hiesige damit, die Jetztzeit in biblischer unterzubringen und umgekehrt. Meiner Sucht nach Feiertäglichem wurde noch einmal entsprochen durch das folgende Vaterunser, zu dem sich alle erhoben, ebenso durch das von der mächtigen Orgel angeführte Ausgangslied: Valet-will-ich-dir-geben, was immer auch mits Valet gemeint war. Ich stellte mir Genugtuung vor, auch Satisfaktion, wie es in den Büchern heißt. Und ich fand, der Herr hatte es hierzulande auch nötig, seine arme, demütige Christenschar ein wenig aufzumuntern durch Androhung von Strafen an Ungläubigen. Der Vater wie Hermann nahmen beim Herausgehen folgsam die vom Paschter ausgestreckte Hand. Auch ich kam an ihr nicht ungedrückt vorüber. Ich schritt hinter Vater und Hermann zu unsen Zotten hin. Eine Abreibung erwartete ich, aber keine handfeste wegen der Nähe der kirchengetreuen Dörfler, die noch ein bisschen vor der Kirche verweilten. Biste hailich jeworfn!, fauchte der Vater. Was kimmt dir in dan Niesel, du Bengel!

Mir war ehmt so, entgegnete ich. Awer die Predicht, da wolld iche jrade jehn. Da saids ihr dran schuld!

Na, ejal, sagte Hermann. Off jehts!

Am nächsten Dorfbrunnen, Born, Schuke, tränkten wir die Pfäre, denn gings weiter. Den Harz noch ein Stück höher hinauf wollten wir. Zunächst hielten wir an einer Lichtung, um zu mahlzeiten. Eine Decke auf dem Waldboden auszubreiten, bestimmte ich, wollte es wie bei den Schulausflügen haben und nicht Bummen, Eier und Schnitzel nebenher essen. Waldig-dumpfe Harzluft durchzog Nase, Rachen, Lunge, während wir so zum Picknick saßen. Dass wir mal Ausflügler sein sollten, kam mir so besonderst wie auch sehr lustig vor. Als wir uns von unsem Platz entfernten, das Gras niedergelegt. Doch sonst keine Spur von uns. Selbst die Eierschalen aufgesammelt in eine von den blechernen Bummenbüchsen, die Schalen später Beimischung fürs Hühnerfutter, das ersparte Kalkzugabe. Damals war den Menschen Wiederverwertung noch selbstverständlich.

Jedes Dorf auf unse Strecke beäugte ich und vermerkte seine Besonderheiten. Der Bruder nun wieder vorn auf der Schoßkelle. Der Vater – ebenfalls ausgeschlafen – besichtigte vom Wagen herab die Kneipen, erinnerte sich offenbar der Himmelfahrtsausflüge. Dass de Oma Schnitzel jebratn hat, klagte er zu Hermann hin, als hätte er das nicht selbst angeordnet. Hätte se niche dun missn. Hätt mer auch ankehrn kenn!

Aufm Rickweg jiwets an Bier und forn Fritze an Malzbier, wenn er mechte!, ließ sich Hermann vernehmen, knallte mits der Pietsche, der Peitsche, grad war´s wieder ein Stück eben. Ging ja nicht immer hinauf, hinauf, mal gings auch hinab oder war eben.

Alwin und Lotte verfielen in Trab, hatten auch ihren Sonntagsausflug. Falleri, fallera und juchheißaßa und wie es in den Volksliedern so heißt, die man heute im Kopp kaum noch zusammenkriegt.

Dann waren auch die Schnitzel verzehrt, die Bummen, wir hatten in der Kneipe gesessen, ich bei dunklem süßem Malzbier, die andern beiden bei zwei Hellen. Heimwärts ging´s. Die Straßen hinunter, die Fuhre wollte die Pfäre überholen, dass Hermann die Bremsen wieder einlegte. Wern se umsonst auf uns jewartet ham, brubbelte der Vater.

Kaum hatten wir Alwin und Juste oder Lotte ausgeschirrt und versorgt und unse Oma begrüßt, die gerade noch sagen konnte, dass sie immer wieder Besuch bekommen und Schnaps angeboten hätte und in der Flasche Nordhäuser Doppelkorn wäre nicht mehr allzu viel drin, als Astel-Knastel auf dem Hof auftauchte. So, ihr wort underweechs, sagte er.

Haste jedacht, mir komm niche widder? Haste das velleicht jehofft?, fragte der Vater an.

Iche hoffe jor nischt, erwiderte Astel-Knastel. Iche stelle nur fest un sorje for Ordnung.

Denn sorje dir nur, sagte der Vater großmütig. Mir warn mol fort. Der siebente Tach, der soll nämlich for die Ruhe san. Wenns uns Bauern aach niche so jenehm is, dass mir uns immer kenntn nach richtn.

Wollter hailich wern, wo doch nu janz klar is, dasses da ohm niemand jiwet? Jedenfalls sin die Fluchzeuje off kan Englein oder an Rauschebort jestoßen.

 

Awer das is ja nu richtch bleede, wagte sich das neu gewordene Fritzchen in das Gespräch der Erwachsenen zu mischen. Wie gann er off Jott treffen, wo der doch jor niche sichtbar is!

Jenau, pflichtete der Vater mir bei. Astel, dass de mir das niche mehr ausm Konfirmanden-Underricht waßt! Man Raich is niche von dieser Welt, sachter Jesus doch.

Ejal! Astel-Knastel wurde zornig. Jedenfolls isses wissenschaftlich erwiesen, dass es kan Jott niche jiwet. Alles rickständijer fier den Menschen janz schädlicher Awerjlaube! Obi-um fors Volk!, schleuderte er uns eine sprachliche, wahrscheinlich bei einer Weiterbildungsmaßnahme eingehandelte Neuerwerbung ins Gesicht.

Obi-was?, fragte der Vater.

Astel schwieg, hatte offenbar zu undeutliche Vorstellungen von dem Schadstoff, obwohl er als Polizist hätte über Drogen Bescheid wissen müssen. Doch unser Astel mits geistigen Gaben nicht sehr stark ausgestattet.

Awer zur Kerche jehn derfen mer noch, wenn anem dardarnach is, erkundigte sich unser Vater. Oder wechfahrn am Sonndach. Oder jibts da neie Verordnungen?

Iche laß mer niche an de Nase rumfiehrn! Ihr said niche hailich. Un is ja woll kan Zufall, wenn er heite niche offm Hoff said.

Nee, isses niche, erwiderte der Vater freundlich.

Hermann hielt die Kusche, war stille und machte sich bereit, den Hofbesitzer vor Dummheiten zu bewahren. Doch eingreifen musste er nicht. Es war, als sei der Verstand von unsem Vater aufgewacht. Als hätte er begriffen, dass es nichts mehr nützte, nur das Arbeitstier zu sein, um den Hof zu halten, sodass er plötzlich Listen ersann und zu Wortgefechten fähig war, wo er doch sonst sein Maul nicht aufkriegte. Dass mer das niche zur Jewohnhait werd, sonndachs auswärts zu san!, sagte Astel-Knastel. Man liewer Mann, kane Tricks. Iche gann aach janz anderscht! Noch janz anderschter!

Mir wurde übel bei den Drohungen des Schandarmen, weil ich an die Friedenstante und die zwei inzwischen in den Westen verdufteten Bürgermeister dachte. Doch unser Vater sahk dem ehemaligen Schulkameraden unbeeindruckt hinterher. Der soll sich die Zähne dardardran ausbaißn, sagte er. Eh dasse ne Underschrift bekomm, hackch mer baide Hände ab.

Ich sahk unsen Vater ängstlich an, hielt bei ihm alles für möglich. Pappa, niche, sagte ich. Mache das niche!

Pappa, sare sone Sachen niche for den Klanen. Der jloobts noch, ermahnte Hermann.

Da lächelte unser Vater. Es war, als würde hinter einer schwarzen Wolke die Sonne aufleuchten. Kaum je hatte ich ihn so lächeln sehen. Mache dir kane Jedankn, man Fritzchen, sagte er und strich mir über meine zu Büscheln aufstehenden dunklen Haare. Hawwe iche nur so hinjesaacht!

Wie wohl war mir bei diesem Vater!

Tags darauf wurde mir zum ersten Mal in meinem Leben von den Schülern große Aufmerksamkeit zuteil. Gleich in der ersten Pause sprach mich ein Schüler der Achten auf dem Hof an. Wo saids ihr jestern jewesen? Die vonner Stadt ham Stunden baim Börjermaister rum jesessen. Dan Oller jetraut sich awer was! Sogleich bildete sich eine Runde um uns. Ich genoss, derart in den Mittelpunkt gerückt zu sein. Und weil ich an der Unternehmung des Vaters teilgenommen hatte, fand ich, man könne mich ruhig bestaunen. Das Fritzchen von früher war vergessen. Nur Margarete kam, wie immer, aus dem Mustopp. Ihr musste ich erzählen. Mensch!, sagte sie, als ich ihr berichtet hatte, schüttelte ebenfalls bewundernd den Kopf. Margaretes Vater war sehr gegen die Zwangskollektivierung, wie sie es im Westradio nannten. Während man bei uns doch von freiwilligen Eintritten sprach, wenn die Bauern in die LPG gingen.

Margarete hielt von Zwang nichts. Wiederum hatte sie gegen Genossenschaftswesen nichts einzuwenden. Im Urchristentum haben sie auch alles zusammengeschmissen und gemeinsam gemacht, sagte sie über die LPG. Mein Vater is ja bloß dagegen, weil die Kommunisten Gott leugnen. Aber das eine hat doch mits dem andern nichts zu tun! Direkt unlogisch sind meine Eltern!, erzürnte sich Margarete bei diesem Thema. Sie glaubte fest an Gott, Teufel und zahlreiche Dämonen noch zusätzlich, wie sie Jesus in die Schweine fahren ließ, warum die armen Tiere ins Meer stürzten. Margarete hielt alle in ihrer Reichweite dazu an, die zehn Gebote zu befolgen. Sagte unser Erzfeind Jürgen Humpert ihr grad zum Torte: Vater-unser-der-du-bist-und der-du-Kartoffeln-frisst, sah sie das Höllenfeuer für ihn hell auflodern und litt. Nicht mal ihm gönnte sie das Feuer. Er weiß es nicht anderst, Fritzchen, klagte sie dann. Aber sie vertrug nicht, wenn etwas unlogisch war. Ich quälte mich nicht mits Logik oder Unlogik. Den Hof würde sowieso Hermann übernehmen. Damals war es allerdings nicht mehr unbedingt so, dass der erste Sohn den Hof erbte. Wer in die Landwirtschaft hineinpasste, bekam ihn. Zwei Kriege hatten erst die eine und dann gleich die nächste Generation von Bauernsöhnen ins Feld hinausgeschickt, wo kein Korn, sondern Menschen dahingemäht wurden. Man konnte froh sein, wenn in den Familien überhaupt noch junge Männer übriggeblieben waren. Bei den Körbers waren beide Söhne im Krieg geblieben, sagte ich schon, bei Schickedanzens auch zwei. Aber da war noch Jerard hinnerhergekommen, dass sie in die Zukunft sehen konnten. Mits der Genossenschaftswerdung erledigte sich das Thema endgültig. Auch Hermann sahk ich schon mits der LPG liebäugeln für so versprochene Freiheiten wie geregelte Arbeitszeit und sogar Urlaub, wäre erst einmal alles vollmechanisiert.

Nicht nur in der Schule, auch im Dorf war es natürlich herum: Der ungere Luther hatte den Genossen ein Schnippchen geschlagen. Meinen Gruß, laut und dienernd, vom Vater so beigebracht, damits ich nicht als stolz galt, erwiderten die Dörfler die Woche sehr ausnehmend bis grinsend. Man hielt mich auch an. Aber obber immer so davonkommt!, warnte einer, der kürzlich in die Genossenschaft vom Typ I eingetreten worden war.

Frau Kabitzke, Schulleiterin in der Zeit von unse sechsten bis achten Klasse – dardarnach stieg Lehrer Kotula auf – machte sich ebenfalls Gedanken. Zum Ende der Woche hin nahm sie mich in der Pause beiseite. Wenn was ist, Friedrich, sagte sie, redete mich ausnahmsweise mits meinem vollen Taufnamen an, wenn du Hilfe benötigst, wir sind ja beinahe Nachbarn! Es kommt mir vor, dein Vater hat etwas von Michael Kohlhaas. Ich kannte damals den Herrn Kohlhaas noch nicht und was ihm dem Vater ähnlich machte, schätzte aber ihr Angebot.

Zwischen Frau Kabitzke und unsem Klassenlehrer Kotula gab es den Unterschied, dass Frau Kabitzke eine Überzeugung tief im Herzen hatte und sie jedes Krümelchen Unrecht auf der schönen Sache des Sozialismus wegzuwischen trachtete. Blank poliert wie ein Spiegel sollte diese unse Sache sein. (Wie hab ich gelacht, als ich kürzlich aus dem Fernsehen erfuhr, auch die Italiener hatten es sehr mits unse Sache, wie Cosa Nostra übersetzt heißt.) Und weil der Sozialismus also nicht nur eine Idee, sondern auch eine Sache war, ein Gegenstand, stellte ich mir die etwa wie einen Spiegel vor, in dem sich eine leuchtende Zukunft zeigte. Frau Kabitzke war das, was man eine ehrliche Genossin oder eine ehrliche Kommunistin nannte. Der Paschter, ob die Leute ihn mochten oder nicht, stand von Berufs wegen über allen. Bals dardarnach kam in meinen Augen schon Frau Kabitzke, die Urania-Vorträge auf dem Lande organisierte, eine Kulturbund-Gruppe gründete und ständig etwas vorhatte, um die Unterschiede zwischen Stadt und Land zu beseitigen. Ganz klar, wer in der Reihe der Guten und Wenigerguten und Garnichtguten im Dorf als letztes kam: Astel-Knastel.

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