Überleben – Was blieb von der Heimat Donauschwaben?

Текст
Автор:
0
Отзывы
Читать фрагмент
Отметить прочитанной
Как читать книгу после покупки
Шрифт:Меньше АаБольше Аа

Das 19. Jahrhundert

Der Beginn des 19. Jahrhunderts brachte Europa große politische Umbrüche. Die Napoleonischen Kriege zerstörten weite Teile des Kontinents. Die politischen Hoffnungen, die mit Napoleons Herrschaft verbunden gewesen waren, wurden schnell enttäuscht. Die dunklen Wolken am politischen Himmel gingen auch an der Regentschaft der Habsburger nicht vorüber. Und sie betrafen auch meine Vorfahren.

Mein Ur-Ur-Ur-Großvater beschloss, der Enge und den begrenzten Möglichkeiten seiner Heimat im Schwäbischen zu entkommen und in der Ferne ein neues Leben zu beginnen. Er ließ sich von den Gesandten Josephs II. anwerben und fand sich bei einem der vorgesehenen Sammelplätze ein. Von Ulm oder Regensburg aus wurden alle, die umsiedeln wollten, mit einer der sogenannten „Ulmer Schachteln“ auf der Donau bis Österreich verschifft.

Der ältere Bruder meines Urahns hatte den Hof der Familie in Schwaben gerbt. Wie es zu jener Zeit nicht selten war, blieb nur der Erbe auf dem Stammsitz der Familie. Der jüngere Bruder wollte unter keinen Umständen Knecht bei seinem Bruder werden. Die beiden Schwägerinnen sorgten durch eifersüchtige Streitereien auch für Unfrieden und ständige Spannungen, die die Brüder allmählich leid waren. So entschloss sich der Jüngere, mit seinem Erbteil eine eigene Existenz zu gründen. Der Ältere musste ihm das Erbe ausbezahlen.

Paul und Hedwig Englert mit Tochter Emma schlossen sich den Aussiedlern an. Gemeinsam mit ihnen verließ auch der jüngste Bruder die Heimat. Er wollte den französischen Werbern nicht in die Hände fallen, die unter den Bauernsöhnen Soldaten für Napoleon rekrutierten. Da er noch ledig war, blieb er in der Familie seines Bruders. Das erwies sich als Glück für beide.

Erst in Wien erfuhren die Siedler ihren endgültigen Zielort. Die Reise war nicht billig. Zunächst wurden nur Bewerber zugelassen, die mittleren Alters, bei guter Gesundheit und bestimmten Berufen zugehörig waren. Außerdem mussten sie 100 Gulden als Vermögen nachweisen. Im späteren Verlauf der Umsiedlung wird allerdings davon berichtet, dass man auch Siedler akzeptierte, die kein Vermögen hatten.

Die deutschen Herrscher hatten kein Interesse an der Ausreise der wohlhabenden Bauern. Sie war unter Strafandrohung streng verboten. Wer einen Ausreisewilligen zur Anzeige brachte, erhielt eine Belohnung. Der Delinquent dagegen verlor seinen gesamten Besitz.

Im Ankunftsgebiet erhielten alle die gleichen Starthilfen und Zuteilungen. Diese beinhalteten Ackerland, Wiesen, Hilfen zur Errichtung der Häuser, Saatgut für das erste Jahr und die Anschaffungen für Zug- oder Masttiere. Es wurden auch sogenannte Reisespesen von 6 Gulden ausbezahlt und für Unterkunft und Verpflegung gesorgt, bis die Selbstversorgung gesichert war.

Bis die Züge zusammengestellt waren, konnten zermürbende Wochen vergehen. Man bewilligte den Transport bevorzugt für (wohlhabende) Verheiratete. Deshalb gab es eine ganze Anzahl Kurzentschlossener, die sich noch in Regensburg trauen ließen. Die Reise donauabwärts war eine Strapaze. Wochenlang waren die Menschen unterwegs, zusammengepfercht auf engstem Raum und bei schlechter Verpflegung. Doch mein Vorfahre überstand die Reise und landete schließlich mit einem Tross Gleichgesinnter in Stanischitsch. Die Neuankömmlinge verstanden weder die Sprache noch die Kultur der Bewohner der 88 Häuser des Dorfes.

Für den Bau winterfester eigener Häuser war es zu spät. Die Neubürger wurden für den ersten Winter bei den Bauern in den umliegenden Ansiedlungen, den “Hodschags”, einquartiert. Die Gastgeber bekamen für jeden Übernachtungsgast von der kaiserlichen Komitatverwaltung in Sombor einen Kreuzer, den sogenannten Schlafkreuzer. Je mehr Menschen in einer winzigen Notunterkunft verstaut wurden, desto mehr Kreuzer sammelte der Bauer ein. Manche konnten auch in Militärunterkünften einen Winter verbringen.

Viele der Ankömmlinge überlebten den ersten Winter nicht, andere litten lebenslang an den Folgen: Die Unterkünfte waren kalt, feucht und eng. Die unhygienischen Verhältnisse bereiteten den Boden für Krankheiten. Besonders Mütter und kleine Kinder fielen Infektionskrankheiten, wie Lungenentzündung, Keuchhusten, Diphtherie, Masern oder der Ruhr, zum Opfer.

Aus den Eintragungen der Matrikelbücher geht hervor, dass in den ersten Jahrzehnten der Ansiedlung die Säuglingssterblichkeit horrend hoch war. Viele Kinder starben in den ersten Lebensmonaten. Es wurde Brauch, dem Nächstgeborenen den Namen des Verstorbenen zu geben. Man glaubte, Gott habe das tote Kind durch eine neue Geburt zurückgegeben.

Die “fleißigen, strebsamen, gehorsamen, frommen deytschen colonis“ wurden großzügig gefördert.

Die Errichtung des Siedlungshauses, die Anschaffung der Gerätschaften und der Tiere, des Saatgutes für die Folgejahre sowie der Nahrung kostete mindestens 200 Gulden. Wer die ganze Summe aufbringen konnte, nach heutiger Währung ca. 150.000 Euro, war für fünf Jahre von allen Steuern und Abgaben befreit, auch von der sogenannten Robot, der Dienstleistungspflicht. Das Siedlungsland, 30 Morgen Ackerland und 10 Morgen Wiesen, wurde den Siedlern kostenlos überlassen. Die Aussicht, Acker und Wiesen als Erbbesitz der Familie zu behalten, war Verlockung und Grund für die Zuwanderer, die alte Heimat zu verlassen. Ab dem sechsten Jahr begann die Steuer- und Robot pflicht.

Unter der Herrschaft Josephs II. wurde die Steuerfreiheit auf 10 Jahre verlängert. Das war auch sinnvoll. Bis das Land für die Bebauung gerodet und für die erste Saat vorbereitet war, verging geraume Zeit und es dauerte Jahre, bis es einen ausreichenden Ertrag und Gewinn abwarf.

Viele hatten das erforderliche Kapital nicht vollständig. Sie bekamen Stundung. Aber sie wurden dann bereits ab dem vierten Siedlungsjahr steuer- und abgabenpflichtig. Wie bei allen Geschäften auf Kredit war das für manchen, der mit großen Plänen und Hoffnungen kam, der Weg in Verlust und Armut. Sie kehrten nicht selten als Bettler in die alte Heimat zurück.

Der überlieferte Spruch: Dem Ersten der Tod, dem Zweiten die Not und erst dem Dritten das Brot, bewahrheitete sich oft.

Im Jahre 1800 erhielt Baron Redl von Rottenhausen Stanischitsch und seine Gemarkung als Donat (Geschenk oder Gunsterweisung) übereignet. Es war die Anerkennung der kaiserlichen Hoheit für seine gründliche Arbeit bei der Landvermessung. Aufgrund seiner Arbeit gibt es bis heute die Katasteramtsurkunden aus der Zeit der Donaumonarchie. Jeder, der Grund und Boden erwarb, konnte seinen Besitz nun urkundlich nachweisen. Baron Redl musste für das „Donat“ Grundsteuer entrichten. Auch ein Geschenk gab es nicht vollständig geschenkt.

Als “Patronius” hatte er für die religiösen Belange der Untertanen die Verantwortung zu übernehmen. Ein Teil der Kosten für die Seelsorger bezahlte er aus seinem eigenen Säckel. Den Rest mussten die “Colonis” berappen. Der Baron war geschäftstüchtig. Es gelang ihm, den Ertrag seiner Ländereien beträchtlich zu steigern. Da die Familie Redl katholischen Glaubens war, ließ er nur Katholiken zur Ansiedlung in Stanischitsch zu. Er hatte kein Interesse daran, arme Leute als Kolonisten auf seinem Land anzusiedeln.

Serben und Repressalien

Die serbischen Einwohner hatten mehr Dienste zu leisten und ihre Abgaben waren deutlich höher. Ein wesentlicher Grund für die ungleiche Behandlung war die religiöse Intoleranz des katholischen “Patronius“. Er lehnte den bratoslawischen Glauben ab. Baron Redl belastete die Serben mit einer Reihe von Sonderabgaben. Den zehnten, siebten oder fünften Teil ihrer Erzeugnisse von Weizen, Mais, Schweinen, Ochsen, Wein, Federvieh … mussten sie an den Patron abliefern. Außerdem war jeder Serbe, der eine Session Feld besaß, für 100 Tage im Jahr robotpflichtig. Eine Session war die Mindestgröße an Land, wenn man sich ansiedeln wollte. Es konnte aus Weideland, Ackerland oder Wald bestehen. Ich vermute, dass es die Summe aus 30 Morgen Ackerland und 10 Morgen Wiese umfasste. Dies war auch die Erstzuteilung an die Siedler. Die Serben, die Land besaßen, mussten folglich fast ein Drittel des Jahres, natürlich meistens in der Hauptsaison, für den Baron arbeiten – umsonst „für gute Gesundheit“. Für unbotmäßiges Verhalten wurde die Prügelstrafe eingeführt. Der Aufseher brachte eigens dafür eine “Deres“ mit, eine hölzerne Bank, um gleich an Ort und Stelle einen „Schuldigen“ zu bestrafen. Für eine krumme Furche gab es 25 Schläge. Ein kleiner Schaden durch weidende Schafe wurde ebenfalls mit 25 Schlägen geahndet, ein größerer Schaden mit 50.

Noch eine besondere Art der Demütigung schürte Hass und Verbitterung. Die Erinnerung daran wurde noch Generationen später gepflegt. Im Jahr 1815 begann man, eine katholische Kirche zu errichten. Die Serben mussten im Rahmen ihrer Robotdienste auch beim Bau der Kirche mithelfen. Die Arbeiten an sich waren für die Serben nicht das Problem. Es störte sie der Platz, an dem sie bauen mussten: Die neue Kirche wurde auf dem Friedhof der Serben errichtet. Diese Schändung des Andenkens der Toten konnte niemand verwinden. Bis auf den heutigen Tag begießen Serben die Mauern der katholischen Kirche in Stanischitsch mit Wein, um an ihre Ahnen zu erinnern. Und noch immer bringen einige ihren Hass und ihre Verbitterung dadurch zum Ausdruck, dass sie an die Mauern urinieren.

Ich schätze, die deutschen Siedler machten sich kaum Gedanken über Recht oder Unrecht, das ihren Mitbürgern zugefügt wurde. Sie kamen schließlich mit Billigung und Willen seiner allergnädigsten Obrigkeit und Majestät in dieses Land – unter Einhaltung aller gesetzlichen Vorschriften. Sie hielten sich selbst nicht für die Fremden. Sie sprachen Deutsch – die Amtssprache! Nach Auffassung der Siedler hatte also alles seine Ordnung. Was sie ihrem Standpunkt entsprechend „rechtmäßig“ in Besitz genommen hatten, vermehrten sie mit Fleiß, Ausdauer und Rechtschaffenheit. Darin fühlten sie sich gegenüber den Serben überlegen.

 

Aus dieser unkritischen, überheblichen Haltung heraus leiteten sie ihr Recht ab, die Serben zu verachten und zu verspotten. Die Serben, so glaubten viele, seien an ihrem Unglück selbst schuld. Sie galten als ungebildet, faul, vergnügungssüchtig, trunksüchtig und rauflustig. Nur wenige brachten Verständnis und Mitgefühl auf. Schüchterne Annäherungsversuche wurden oft durch Missverständnisse im Keim erstickt.

Im Friseursalon meines Großvaters wurde häufig eine Episode aus dieser Zeit zum Besten gegeben: Ein deutscher Bauer breitet nach einer guten Ernte prächtige Kartoffel auf seinem Hof zum Abtrocknen aus. Es kommt ein Serbe vorbei und bestaunt sie. “Ala to je veliki krompir“ ‚ sagt er anerkennend. („Das sind aber große Kartoffeln.“) Der Schwabe versteht ihn nicht. Er hört das Wort veliki und meint, es sei das schwäbische Wort welich ( welk, auch weich). Sofort wird er zornig: „Was sind das? Welchi Krumbiere? Dein A… ist auch welich“. Das wiederum verstand der freundlich gesinnte Nachbar nicht. Beide waren ärgerlich aufeinander, dabei war es nur ein Missverständnis.

Meine ersten Vorfahren, der Fortschritt und die Menschen

Ziel war es zunächst, einfach nur zu überleben – und dennoch die Träume nicht ganz aus dem Blick zu verlieren. Meine Vorfahren erreichten im Herbst 1781 die neue Heimat. Im zeitigen Frühjahr 1782 musste viel Arbeit geleistet werden. Jede Hand wurde gebraucht. Und die Familie erwartete im Frühsommer ein zweites Kind. Bis zur Geburt sollten Haus und Stallungen fertig sein. Die Felder mussten mit Getreide, Mais und Kartoffeln bestellt werden. Zunächst kam es darauf an, das Nötigste für den Eigenbedarf zu erwirtschaften.

Die beiden Brüder hatten große Träume für die Zukunft: Der Bauer wollte einen Schweinemastbetrieb aufbauen. Sein Bruder träumte von der Pferdezucht. Die Bäuerin kümmerte sich um die Arbeit in Haus und Garten.

Das Kind wurde im Frühsommer geboren. Es überlebte. Die Familie wuchs. Zu ihr gehörten schließlich drei Mädchen und zwei Jungen. Auch auf ihren Schultern lag die Sicherung des Überlebens. Kinderarbeit war eine Selbstverständlichkeit. In die Schule konnten die Kinder nur gehen, wenn keine Arbeiten auf den Feldern anfielen. Bildung hielt man für Hoffart. Zeit zum Lernen und für Schulbesuche zu verwenden, hieß, „dem lieben Herrgott den Tag stehlen“. Schulpflicht bestand ohnehin nur bis zur 4. Klasse.

Alle Kinder wurden auf drei Schulklassen aufgeteilt. Zwei für die katholischen Siedlerkinder und eine für die Kinder der Serben. In jeder Klasse wurden die Jahrgänge von der ersten bis zur vierten Jahrgangsstufe unterrichtet. Bildung zu vermitteln, war die Aufgabe der Kirche.

Mit elf oder zwölf Jahren mussten sich die Mädchen als Dienstboten verdingen. Eine Berufsausbildung für Mädchen war nicht vorgesehen. Ihre Bestimmung sollte Ehefrau und Mutter sein. Das galt auch für meine Vorfahren. Da die Töchter hübsch und fleißig waren, fanden alle drei einen passablen Hochzeiter. Ihr Leben war weit weniger vom Kampf ums Überleben geprägt als das ihrer Eltern. Sie begannen, sich mehr für Wohlstand und Bildung zu interessieren.

Auch der Onkel der Mädchen heiratete. Er verliebte sich in die einzige Tochter eines Siedlers, der schon etwas länger ansässig war. Ihm wurden zwei Söhne geboren.

Zunächst arbeitet der Onkel als Rosshändler. Nach und nach baute er sich ein kleines Gestüt auf und verwirklichte seinen Traum von der Pferdezucht.

1811 wurde Stanischitsch zur Marktgemeinde. Das Dorf bestand mittlerweile aus 500 Häusern. Der Handel blühte. Das Handwerk florierte. Die ersten Fabriken wurden gegründet: Die Ziegelfabrik produzierte für den wachsenden Bedarf gebrannte Ziegel für die neuen, größeren Häuser, die den sprießenden Wohlstand der Siedler demonstrierten. Die Hanffabrik lieferte den Rohstoff für die Seile und Stricke, die Halfter und Pferdedecken oder die Säcke, in denen der Kukuruz (donauschwäbisch: Mais) und der Weizen zur Mühle transportiert werden konnten. Der Kanal wurde eine wichtige Umschlagader für den Handel. Mühlen und große Warenspeicher säumten die Ufer.

Die Menschen interessierten sich kaum für die Umwälzungen in der Welt. Aber sie waren auch für sie von Bedeutung. Die österreich-russische Allianz mit Preußen erzwang die Niederlage des Franzosen Napoleon.

Am 20. Juni 1819 überquerte der erste Dampfsegler von den USA aus den Atlantik und erreichte Liverpool. Neue politische Verhältnisse und technische Fortschritte prägten die Zeit und veränderten die Zukunftserwartungen. Damit verbunden war eine Mehrung des Wohlstands. Auch damals war der Traum vom besseren Leben eine starke Triebfeder für Entwicklungen – aber auch Hintergrund großer Spannungen. Immer mehr Nachkommen der ersten Siedler wollten in den besten Ortslagen neue, große Ziegelhäuser bauen. Dort aber standen die kleinen Lehmhäuser der ersten Siedler, der Serben.

Die Serben litten unter den Repressalien, die Baron Redl gegen sie verhängte. Joseph II. hatte sowohl die Prügelstrafe als auch die Leibeigenschaft offiziell abgeschafft. Doch Redl führte die Prügelstrafe wieder ein und schuf eine Art verdeckte Leibeigenschaft, die nur die Serben traf. Redl ließ sie wegen jedes kleinen Vergehens verprügeln. Und er hielt seine Zusagen an die Serben nicht ein, wenn es um die Nutzung von Weideland ging. Heute würden wir diese Art des Umgangs als Mobbing bezeichnen. Viele Betroffene ertrugen die Schikanen nicht und verkauften zum Teil bereitwillig für ein paar Ziegen, Schafe oder Schweine ihre Häuser und Grundstücke in der Ortsmitte an die Deutschen. Besaßen sie kein Land mehr, waren sie frei von den Zwängen, die den Ackerbauern auferlegt waren. Sie konnten nicht mehr zu Abgaben gezwungen werden. Auch die Robotpflicht blieb ihnen erspart. Einige bauten sich winzige Häuser in der Nähe des Sumpflandes und arbeiteten als Hirten. Die Serben nannten das Gebiet „Tal der Tränen“. Die Deutschen sprachen vom „Jammertal“.

Am 7. Dezember 1835 fuhr die erste Dampfeisenbahn von Nürnberg nach Fürth. Die Nachricht wurde in Stanischitsch mit gemischten Gefühlen aufgenommen. Die Ökonomen begeisterte die Aussicht auf gute Handels- und Verkehrsverbindungen quer durch Europa. Die Konservativen befürchteten den Aufstieg des handeltreibenden Bürgertums. Viele religiöse Propheten kündigten Unglück an, wetterten gegen das Teufelswerk und schürten abergläubische Vorstellungen über verhexte Kühe, die keine Milch mehr geben, und Hühner, die keine Eier mehr legen können. Andere behaupteten, dies wären Erfüllungen der Voraussagen der Bibel und ein Beweis für das bevorstehende Gottesgericht. Prophezeiungen dieser Art legten eine Grundlage, die zur Entstehung verschiedener Endzeitsekten und Chileastengruppen führten, die zum einen den nahen Weltuntergang predigten und zum anderen an den Beginn des Millenniums, der Tausendjahrherrschaft Christi, glaubten. In eine der damals entstandenen Sekten, die aus der Bibelforscher-Gemeinde des Adventisten-Predigers Charles Tace Russel hervorging und heute als Jehovas Zeugen bekannt ist, gerieten meine Eltern. Das hatte für mich ein sechzig Jahre dauerndes, fremdbestimmtes Leben zur Folge.

Meine Vorfahren werden erfolgreich

Doch meine Urahnen ließen sich von all dem nicht sonderlich beeindrucken. Sie vermehrten ihren Besitz nicht nur durch großen Fleiß und Sparsamkeit, sie achteten auch bei der Eheanbahnung darauf, dass die Verbindung ertragreich war und das Ansehen gesteigert wurde. In dieser Beziehung waren sie sehr geschickt und erfolgreich. Im Jahre 1840, eine spannungsreiche Zeit, wurde mein Ur-Ur-Großvater Michael Englert geboren und vier Jahre später sein Bruder Jakob.

Der schwelende Konflikt zwischen Serben und Deutschen verschärfte sich zunehmend. Im Jahr 1848 eskalierte er. Baron Redl hatte eine Zusage an die serbischen Hirten nicht eingehalten. Er verbot ihnen, das Weideland nach dem ersten Schnitt, wie versprochen, zu nutzen. Aufgebracht darüber trieben die Serben ihre Herden auf dieses Land. Das wurde als „der Aufstand der Serben“ bezeichnet. Redl forderte kaiserliche Truppen an. Sie schlugen die Revolte blutig nieder. Drei der Anführer erhängte man öffentlich.

Auch politisch war dieser Aufstand für die serbische Bevölkerung ein Desaster. Die Auseinandersetzungen dienten als Vorwand, die Rechte der Serben weiter einzuschränken. Man verdrängte sie zunehmend in das Siedlungsgebiet Jammertal.

Mein Vorfahr Michael Englert heiratete im Jahre 1864 Anna Obert. Ihre Familie war mit den vornehmen Familien Rendl und Weiß verwandt und verschwägert. Aus ihren Reihen stammten begüterte und gebildete Kaufleute, Fabrikanten und mittelständische Handwerker.

Meine Ur-Ur-Großeltern Michael und Anna bekamen zwei Söhne. Der Älteste, mein Ur-Großvater, ein weiterer Michael, wurde 1865 geboren und sein Bruder Jakob zwei Jahre später im Jahre 1867.

1888 heiratete mein Ur-Großvater Michael die hübsche und reiche Kaufmannstochter Anna Elmer. Sie gehörte zu einer großen Familie. Anna und Michael galten als rechtschaffen und fleißig. Bereits 1889 kam mein Großonkel Peter zur Welt (donauschwäbisch: Petervetter). Das Mädchen, das 1891 geboren wurde, bekam der Tradition entsprechend den Namen Anna, nach den Vornamen der Großmutter und der Mutter. Der zweite Sohn, der ihnen 1893 geschenkt wurde, war mein Großvater Michael Englert. Ich werde Ata zu ihm sagen. Er bekam 1896 noch einen Bruder, Joseph. Meine Mutter nannte ihn Seppvetter.

Reformen im Schulwesen und Großvaters Start ins Leben

Ende des 19. Jahrhunderts setzte es sich die Regierung Weckerle zum Ziel, kirchenpolitische Reformen für das ungarische Gebiet durchzusetzen. Im Jahr 1892 verstaatlichte sie das Schulwesen, führte die Zivilehe ein und übertrug dem Standesamt die Bedeutung und Stellung des Matrikelamtes. Dieses hatte die Aufgabe, Geburten, Todesfälle und Eheschließungen zu beurkunden. Bis zu diesem Zeitpunkt wurden alle großen Lebensereignisse allein durch die Kirchen dokumentiert. Ferner führte Weckerle eine 6-jährige Schulpflicht ein. Die Unterrichtssprache und damit Schwerpunkt war ungarisch – auch für die deutschen Schulen. Die deutschen Kinder waren dadurch zunächst benachteiligt, denn sie konnten natürlich in der fremden Sprache dem Unterricht nur schwer folgen. Später allerdings erwies sich diese zusätzliche Anstrengung als Vorteil.

Mein Großvater besuchte von 1899 bis 1905 die Grundschule in Stanischitsch. Sein älterer Bruder Peter arbeitete zu dieser Zeit bereits im elterlichen Kolonialwarengeschäft. Auch sein Bruder Joseph wollte Kaufmann werden.

Mein Großvater hatte jedoch andere Pläne. Nach seiner Schulentlassung ging er in das 28 km entfernte Baja und begann eine Lehre als Frisör oder Balbier, wie es donauschwäbisch hieß.

Baja war ein pulsierendes Städtchen mit Theater und Künstlern, Geschäften und vielen fremden Besuchern. Dieses schillernde Leben gefiel meinem Großvater. Er liebte den Kontakt zu den Künstlern und dem Theater und schloss sich bald Laienspielgruppen an. Nach dem Abschluss seiner Lehrzeit machte er seine Meisterprüfung und übernahm 1911 einen Friseursalon. Gleichzeitig wurde er Maskenbildner am Theater und begann als Intendant, für Volkstheater Stücke einzustudieren.

Sein Geschäft florierte. Das lag nicht zuletzt an seiner offenen und leutseligen Wesensart. Auf diese Weise knüpfte er auch gute Beziehungen zu den oberen Gesellschaftsschichten. Bald beschäftigte er fünf Gesellen und einige Lehrlinge.

In dieser Zeit lernte er Rosalia Horváth kennen. Sie gehörte zu seinen Lehrmädchen. Das Mädchen hatte, trotz ihrer Jugend, bereits einige schwere Zeiten durchlebt. Sie wurde am 21.02.1901 geboren. Ihre Mutter starb im Wochenbett. Ihr Vater, ein Bürgerlicher, war Pfleger in einer Nervenheilanstalt. Um das Baby Rosalia kümmerten sich zunächst Pflegepersonen, die der Vater als Patienten in der Nervenheilanstalt betreute. Nach einigen Jahren heiratete er zum zweiten Mal und Rosalia bekam damit eine Stiefmutter. Diese behandelte das Kind sehr „stiefmütterlich“, wie der Volksmund sagt. Rosalie musste viel arbeiten und die jüngeren Geschwister versorgen. Und sie war ein zusätzlicher Esser am Tisch aus Sicht der Stiefmutter. Diese bestand darauf, dass sie sobald wie möglich wirtschaftlich selbstständig wurde. Rosalia weigerte sich jedoch trotzig und bestimmt, als Dienstmädchen zu arbeiten. Sie setzte durch, dass sie 1913, nach ihrem Schulabschluss, eine Lehre im Geschäft meines Großvaters machen konnte.

 
Купите 3 книги одновременно и выберите четвёртую в подарок!

Чтобы воспользоваться акцией, добавьте нужные книги в корзину. Сделать это можно на странице каждой книги, либо в общем списке:

  1. Нажмите на многоточие
    рядом с книгой
  2. Выберите пункт
    «Добавить в корзину»