Wie der dicke Joachim sich in Australien verliebte

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Mit durchgeschwitztem Hemd klemmt er sich in die Bahn. Das Hotel muss er nicht lange suchen. Ein wuchtiger Klotz, das „Great Western“. Zum ersten Mal seit Tagen beschleichen ihn Zweifel an seinem Überraschungscoup. Wird sie sich freuen, aber vor lauter Terminen gar keine Zeit für ihn haben? Unversehens steht er in der gemütlichen Charme ausstrahlenden Lobby des Hotels. Ein Kaminfeuer flackert trotz der Hitze draußen, wuchtige lederne Clubsessel, vor der dunkel getäfelten Wand der Rezeption steht ein junges Mädchen mit freundlichem Blick. Himmel, sie spricht deutsch. Selbstverständlich bestehe die Möglichkeit, dass er bei seiner Frau übernachte, schließlich verfüge sie über ein Doppelzimmer. Allerdings müsse sie diesbezüglich Rücksprache mit seiner Gattin nehmen und diese kehre erfahrungsgemäß erst gegen Abend in das Hotel zurück. Sein Gepäck könne er gern hier unterstellen. Er nickt zu allem. Wenn Elvira vor sechs Uhr abends nicht zurück kommt, bleiben ihm noch gut drei Stunden. Was macht man mit drei freien Stunden in London? Die Rezeptionistin ist in ihrem Element. „Madame Tussand’s“ empfiehlt sie ihm. Ganz einfach: Underground bis Regent’s Park, dann in die Marylebone Road. Sie zeichnet den Weg in den Stadtplan ein.

Joachim verzichtet auf die U-Bahn und geht zu Fuß. Die lästige Jacke zieht er aus und trägt sie über den Arm. Vor dem Wachsfigurenkabinett wartet eine Menschenschlange. Ein Clown albert herum und vertreibt ihnen die Zeit. Joachim holt sich vom gegenüberliegendem Stand Fish & Chips, spült mit einer Cola nach, reiht sich in die bunt gemischten Touristen ein und bevor er sich zu langweilen beginnt, ist er vorgerückt und darf an der Kasse sein Ticket lösen.

Er bekommt Gelegenheit, sich neben dem kleinen Napoleon und dem großen de Gaulle’s zu postieren, den mörderischen Heinrich inmitten seiner gemeuchelten Frauen zu bestaunen, der derzeitigen Königsfamilie seine Referenz zu erweisen und schließlich vor einer älteren, sitzenden Dame zu landen, deren Namensschild behauptet, sie sei Agatha Christie. Die Stimmen um ihn herum schwirren lauter und aufgeregter, als sie den Saal mit den Show- und Popgrößen durchqueren. Ahnungslos folgt er den Reisegruppen, die eine schmale Treppe ins Kellergeschoß hinabsteigen.

Vor dem Keller wird gewarnt. Kinder sollten besser draußen bleiben, ebenso erwachsene schreckhafte Personen, steht da unter anderem auch in deutsch. Er hält kurze Zwiesprache mit seinem Herzen. Kein Protest, kein schneller Puls. Also los. Eine dunkle, düstere Gasse, durchwallt von künstlichem Nebel, tut sich auf. Jack the Ripper mordet, die Guillotine köpft, Madame Tussaud’s sammelt Modellköpfe ein. Frauenmörder zeigen ihr schauriges Handwerk einschließlich der Leichenverbringung in Londoner Dachkammern.

Froh, wieder im Tageslicht auf der Straße zu stehen, marschiert Joachim gleich zum Hotel zurück. Er hat zwei Stunden in angenehmer und weniger angenehmer Gesellschaft von Wachsfiguren verbracht, jetzt freut er sich auf seine Frau aus Fleisch und Blut.

Gewiss, die Dame sei im Hause, versichert man ihm, ob man ihn anmelden solle? Er winkt ab, bloß nicht, dann wäre die Überraschung futsch. Auf der Marylebone Road hat er in einem winzigen Blumenladen zum Wucherpreis einen üppigen Rosenstrauß erworben. Alte, englische Rosen in Pastellfarben mit gefüllten, duftenden Blüten. Blütenblätter wie brüchige Seide in Altrosa, Buttercreme, Veilchenviolett und Vanillegelb. Vor der Tür mit der Zimmernummer 102 steckt er seine Nase in den unvergleichlichen Duft und atmet tief ein. Dann klopft er.

*

„Papa! Hörst Du mich?“ Vor ihm steht Inga und rüttelt an seiner Schulter. Er öffnet erst das rechte, dann das linke Auge.

„Na endlich! Ich dachte schon, ich muss den Arzt rufen!“ Ihre Stimme klingt wieder wie damals, als sie noch ein kleines Mädchen war. Angst um ihn presst ihr die Kehle zusammen. Seine Prinzessin. Wenigstens die liebt ihn. Inga entdeckt die leere Schnapsflasche neben dem Bett. Ach so. Sie schaut ihn vorwurfsvoll an. „Wolltest Du nicht zu Mama fliegen?“ Sie ist mit ihren Gedanken schon wieder woanders, sein Schweigen löst kein weiteres Nachfragen aus. „Paps, ich muss los. Führerscheinprüfung. Drück’ mir die Daumen.“

Er umarmt sie mit abgewendeten Gesicht, damit ihr sein versoffener Atem nicht in die Nase steigt. Als die Tür hinter ihr zu ist, fragt er sich, ob Inga wirklich seine Tochter ist. Seine Prinzessin. Mit beiden Handflächen knetet er sein verquollenes Gesicht, bis es nicht mehr bleich, sondern rot ist. Je mehr er knetet und reibt, um so mehr fällt ihm wieder ein.

Die Zimmertür in London wurde von Elvira geöffnet. Elvira in einem Nichts von schwarzem Hemdchen, mit einem Gesichtsausdruck, der entsetzter nicht hätte sein können.

„Du? Was machst Du …“ Sie versuchte, die Tür schnell zu schließen.

Er drängte sie mit seinem Körpergewicht beiseite und starrte den im Doppelbett liegenden Mann mit blöden Gesichtsausdruck an.

„Wer ist das?“

Elvira umfasste seinen Unterarm. „Joachim, bitte, warte in der Lobby auf mich …, wir wollen doch kein Aufsehen, die Situation ist …“

Müller heißt der, fiel im plötzlich ein, Egbert Müller, mit dem sie seit Jahren beruflich unterwegs ist. Das ist der vom Vertrieb. Unter Egbert hatte er sich immer einen älteren Kollegen mit gelichtetem Haar und Bierbauch vorgestellt. Der da ist vielleicht Mitte Dreißig. Viel jünger als er selbst. Dünn, zäh und durchtrainiert. Verdammt. Wer weiß, wie lange das zwischen den beiden bereits geht und er … Idiot, der er ist …

Er wirft Elvira den Strauß vor die Füße und geht. Egbert Müller! Einer, der aussieht, als laufe er Marathon. Ausgezehrt von falschem Ehrgeiz. Richtig gearbeitet hat der bestimmt noch nie, bei den schmalen Händen und dünnen Fingern. Spinnenfinger sind das. Wie konnte sie ihm das nur antun? Was hat der, was ich ihr nicht bieten kann? Ständig hat sie nur von diesem Herrn Berrschen erzählt. Die Geschäftleitung, vertreten durch diesen Herrn Berrschen, verlange dies und jenes. Berrschen! Berrschen! Berrschen! Nie ein Wort über Spinnenfingermann Müller. Raffiniert. Ach, verdammt. War das Schicksal, sollte er sehen, was er lieber nicht gesehen hätte? Nicht genug damit, Elvira rief ihn noch auf dem Flughafen an: Sie gedenke, die Zukunft gemeinsam mit Spinnenmann Müller zu verbringen. Seine Ehe kaputt. Während des Fluges grübelte er unablässig. Führte sie dieses Doppelleben seit Jahren? Er, der brave Hausmann, der sich um die Kinder kümmert, sie, die Karrierefrau. Gut für sie, die Kinder während ihrer Abwesenheit in sicheren Händen zu wissen, er, der doofe Ahnungslose. Verdammte Scheiße. Er hätte dieser Spinne eins auf die Nase geben sollen.

Sein Handy gibt einen Ton von sich, eine SMS. Hoffnungsvoll fahren seine dicken Finger über die Tasten. Vielleicht ist doch nicht alles zu Ende, kommt Elvira noch zur Besinnung.

Ungläubig liest er den Text dreimal. Dann feuert er das Mobiltelefon wütend gegen die Wand. Elvira besitzt die Dreistigkeit, ihm mitzuteilen, dass sie im Scheidungsverfahren das Haus beanspruchen wird. Schließlich habe sie es überwiegend allein bezahlt. Er solle sich nach einer Wohnung umschauen.

Joachim beschließt, in die Werkstatt zu fahren. Denen dort reinen Wein einschenken. Nur den einen Satz, dass er in Scheidung lebt. Keinen Urlaub braucht. Was er braucht, ist Arbeit von früh bis spät, damit er abends todmüde ins Bett fällt und das Gedankenkarussell in seinem Kopf sich nicht zu drehen beginnt. Hagen wird ihm auf die Schulter klopfen und ein paar lockere Sprüche loslassen, so in der Art: Andere Mütter haben auch schöne Töchter.

Nachdem er geduscht, frische Unterwäsche und Kleidung angezogen, das Jackett und die Hose in die Mülltonne gestopft hat und ein starker Kaffee ihn wieder auf die Beine bringt, fährt er los.

Das Wetter ist umgeschlagen. Von der wärmenden Spätsommersonne nichts mehr da. Dunkle Wolken ziehen tief am Himmel und es weht ein unangenehmer böiger, kalter Wind. Ein Vorbote kommender nebelig kühler Herbsttage. Ein Wetter, welches zu seiner Stimmung und zu seinem Leben passt. Als er auf den Platz des Autohauses einbiegt, regnet es in Strömen. Im Gebäude brennt kein Licht. Bei diesem Wetter sollte der Ausstellungsraum hell erleuchtet sein. Er geht auf den Kundeneingang zu. Die Tür verschlossen, Martins Schreibtisch verlassen. Kein Mädchen an der Rezeption. Er will gerade den Werkstatteingang nehmen, als er Hagen durch die Halle kommen sieht. Neben ihm ein junger Mann im korrekten Anzug mit einem Aktenkoffer.

Aber wie sieht Hagen aus? Ohne Jackett und Krawatte, in Strickjacke und Schlappen.

Seit Hagen per Heirat zum Chef aufgestiegen war, hatte Joachim ihn nicht so gesehen. Der junge Mann scheint das Wort zu führen, Hagen nickt zu allem, was der sagt. Was soll das bedeuten? Die Tür wird geöffnet, der mit dem Aktenkoffer nickt Joachim bei der Begegnung kurz zu und fährt mit einer schwarzen Limousine davon.

„Mensch, Hagen wie siehst Du denn aus? Bist Du krank? Wo sind die anderen?“, Joachim bedenkt nicht, dass auch er keinen erfreulichen Anblick bietet. Für einen Moment vergisst er seine eigene deprimierende Lage, so verwirrt ihn Hagens Aufzug. Auf der Stirn seines ehemaligen Kollegen und jetzigen Chefs stehen Schweißperlen. Die sonst akkurat mit Haarspray fixierten Strähnen liegen wirr auf dem Kopf und offenbaren kahle Stellen. Die Haut ist von einer ungesunden, gelblichen Farbe.

Hagen setzt sich auf Martins Stuhl. „Das Insolvenzverfahren ist eröffnet“, murmelt er.

„Was? Insolvenzverfahren? Du bist doch verrückt! Der Laden läuft. Hier und da mit krisenbedingten Einschränkungen, gut, aber ich habe doch Augen im Kopf … Ich sehe, was jeden Monat hier an Fahrzeugen verkauft wird und wie viele Wagen in der Werkstatt durch unsere Hände gehen!“

 

Der Chef winkt ab. So müde und kraftlos hat er Hagen noch nie gesehen. Der Schwerenöter, dem alles im Leben zu fiel, der sich nie Sorgen machen musste.

„Ich stand gestern genau so blöde da wie Du jetzt. Wollte nicht wahrhaben, was die mir erzählten. Dachte, die wollen mich verarschen. Ist aber nicht so.“

Er holt tief Luft. „Sieglinde hat fast zwei Millionen Schulden gemacht. Und ich hatte keinen blassen Schimmer davon.“

„Sieglinde? Deine biedere, altmodische Frau? Dieser Hausdrachen, der den Mädchen in der Buchhaltung die Hölle heiß macht, wenn ein Cent fehlt? Willst Du mich jetzt verarschen?“

In ihm taucht der Verdacht auf, Hagen habe das alles hier inszeniert, um mit einer anderen Frau – und mit dem Geld natürlich –, abhauen zu können.

Hagen spricht leise. „Sieglinde ist spielsüchtig. Sie war in Baden-Baden nicht mehr bei ihrer Tante, die ist schon lange tot, sondern hat in der dortigen Spielbank unser gesamtes Vermögen verspielt. Kredite, Schuldscheine, das Übliche. Autohaus, Werkstatt und Wohnhaus – alles weg.“

Joachims Herz zieht sich schmerzhaft zusammen. Für einen Moment bekommt er keine Luft, muss sich an der Tischkante festhalten. Er nähert sein Gesicht dem Hagens.

„Die Frau, die in Lodenröcken und Gesundheitsschuhen lebt, die Sport für eine Religion hält, die Fastenkuren mit Tautreten verbindet, soll eine heimliche Zockerin sein?“ Irgendwie hat er noch die Hoffnung, dass sich das alles als Irrtum herausstellt.

In Hagens Elendsgestalt kommt Leben. „Glaubst Du, ich erzähle Dir Märchen“, brüllt er. „Schau’ Dir doch die Kreditverträge, Mahnungen und das ganze Zeug an! Alles in Kartons zu Hause versteckt, „Abführmittel“ steht drauf. Weißt Du was mich am meisten aufregt? Es reicht nicht, dass ich mit Ende Fünfzig von Heute auf Morgen ohne Vermögen, ohne Einkommen, ohne Dach über dem Kopf dastehe. Nein! Die Dame hat sich in eine psychotherapeutische Klinik einweisen lassen und ich, der ich von ihrem Treiben keinen blassen Schimmer hatte, darf nun die ganze Drecksarbeit, die so ein Insolvenzverfahren mit sich bringt, erledigen! Jetzt – jetzt! – hat sie mir Prokura erteilt, dafür bin ich gut genug, die Scherben zusammen zu kehren.“

Frag mich mal, denkt Joachim.

Bei der Brüllerei ist Hagen rot angelaufen, seine langen, spärlichen Haarsträhnen hängen traurig herab. „Tut mir leid, Joachim, wenn ich es in der Hand gehabt hätte, wäre es nicht so gekommen. Geh’ zum Arbeitsamt, die anderen müssen das auch.“

Hagen steht auf und geht, langsam und gebückt, plötzlich um Jahre gealtert, zur Tür.

„Ich muss rüber. Das Haus kommt auch unter dem Hammer. Die Leichenfledderer warten.“

Hilflos und fassungslos steht Joachim allein im Verkaufsraum. Das ist doch ein Alptraum, denkt er. Gleich wache ich auf und alles ist wie immer. Martin kommt mit dem Kaffee und hinter ihm kichern die Mädchen. Es bleibt still und langsam sickert in sein Bewusstsein, dass er das alles wirklich erlebt. Plötzlich fängt er an zu lachen, ein abgehacktes, fast wahnsinniges Lachen. Blechern hallt es vom Fliesenboden, den Glasflächen und den ausgestellten Fahrzeugen zurück. Innerhalb von zwei Tagen Ehefrau und Job weg. Hagen und er, beide von ihren Frauen reingelegt.

Daheim. Was bedeutet das noch – daheim? Überall in seinem – seinem? – hübschen Haus sieht er Egbert Müller. Tritt er ins Schlafzimmer, sieht er ihn genau so auf dem Bett liegen, wie in London. Die Spinnenfinger auf der Bettdecke. Spinnenmann Müller in der Speisekammer und im Wohnzimmer, sogar ins Bad verfolgt der ihn. Moment, vielleicht war der wirklich hier gewesen, an Elviras freien Tagen, während er ahnungslos in der Werkstatt arbeitete.

Aus dem Spiegel im Bad blickt ihn ein verbitterter, dicker alter Mann aus geröteten Augen an. Ist das noch der Joachim Schmidt von vor ein paar Tagen? Wütend versetzt er dem Spiegel einen Fauststoß, zurück bleibt ein Spinnennetz aus Rissen. Passt doch, Spinnennetz für Spinnenmann, da wird er sich gleich heimisch hier fühlen. Soll Unglück bringen, so ein kaputter Spiegel. Mehr Unglück geht gar nicht.

Plötzlich erinnert er sich an Hagens Ratschlag: Geh’ zum Arbeitsamt! Zum Arbeitsamt? Die warten gerade auf einen alten Mann. Sein Leben lang hat er für sich selbst gesorgt, also geht er auch jetzt nicht hin. Die Ersparnisse reichen eine Weile. Seine Zukunft ist ihm so was von egal, er glaubt nicht mehr an sie. Was für ein Leben soll das werden, er allein in einer winzigen Wohnung, ab und zu schauen seine Mädchen mal vorbei. Einsam.

Er sucht so lange, bis er noch eine halb volle Flasche Wodka findet. Er hebt sie an die Lippen und setzt sie nach dem ersten Schluck instinktiv schnell wieder ab. Das muss ihm niemand sagen: Wenn er in dieser beschissenen Lage mit dem Saufen anfängt, kommt er nie mehr davon los. Soll Kerstin eines Tages seinem Enkelkind einen versoffenen Penner auf der Straße zeigen und sagen, das da ist dein Opa? Weg damit. Er schüttet den Wodka in den Ausguss. Das Telefon klingelt. Inga. Überglücklich berichtet sie von der bestandenen Fahrprüfung. Sie will die Nacht vor ihrer Abreise mit Freundinnen um die Häuser ziehen. Schläft bei einer von denen. Er reißt sich zusammen. Gratuliert ihr und versucht mühsam, seiner Stimme den gewöhnlichen Tonfall zu geben. Das Mädchen merkt nichts, sie ist aufgedreht und in Gedanken schon weg.

Ruhelos treibt es ihn durchs Haus. Er will auch weg. Es ist nicht mehr sein Haus. Genau betrachtet war es das wohl nie. Er ist unerwünscht, im Weg. Joachim meidet das eheliche Schlafzimmer und legt sich am Abend in Ingas schmales Bett. Das Jungmädchenzimmer mit den rosa karierten Gardinen, den weißen Schleiflackmöbeln, den Postern und den vielen Plüschtieren ist neutral. Hier hat Spinnenfingermann keinen Zutritt. Ruhe. Direkt ihm gegenüber, an der Dachschräge, hängt das Poster einer Strandfotografie. Weißer Sand, wie Puderzucker, Palmen, ein türkisfarbenes Meer. Der azurblaue Himmel, der mit dem Türkis der See am Horizont verschmilzt. Aus dem Meer taucht, mit perlenden Wassertropfen, ein muskulöser Jüngling mit strahlendem Lächeln auf. Wo ist das? Karibik? Seychellen? Südsee? Obwohl sein Kopf dröhnt, die Augen brennen und das Herz seit gestern in seinem Rhythmus gestört ist, kann er trotz seiner Erschöpfung nicht einschlafen. Das Bild gibt ihn nicht frei. Es ist wie ein Versprechen. Er glaubt nicht mehr an Versprechen. Er will nur noch weg hier.

Gruppenreise? Club-Urlaub? Hält er nicht aus, all die glücklichen Paare um sich herum. Ein einsamer Strand, wie der auf dem Poster fehlt ihm. Leben wie Robinson, nur noch sich selbst vertrauen. Er ist frei ohne es gewollt zu haben. Das Leben hat ihm zwei Knüppel zwischen die Beine geworfen und die haben Namen: Egbert Müller und Sieglinde Moser-Reibach. Beide wünscht er zur Hölle. Die Moser-Reibach ist bereits dahin unterwegs. Spielsucht. Psychiatrie …

Wie nun, morgen zum Reisebüro? Erst mal Zeit und Abstand gewinnen? Sein Herz hoppelt seltsam. Zögert zwischen zwei Schlägen, als überlege es, ob sich der Aufwand noch lohnt, das dickflüssige Blut durch den massigen Körper zu pumpen. Kurz darauf rast es wieder, als habe es sich die Sache noch einmal überlegt und es gelte, Versäumtes schnell nachzuholen.

Im Traum sieht er Spinnenmann das Haus inspizieren. Er flüchtet in Panik.

Das trübe Morgenlicht lässt den Jüngling wieder aus der See auftauchen. Joachims Kehle brennt vor Durst, es ist stickig im Zimmer, seine Kleidung ist verschwitzt. Nach Duschen und Umziehen war ihm gestern nicht mehr. Fenster öffnen? Wozu. Schwerfällig stemmt er sich auf den rechten Unterarm, schaut auf seine Armbanduhr. Fast Mittag. Ein dumpfer Druck liegt auf der linken Brustseite. Beklemmend. Das ist neu. Ingas Standspiegel zeigt ihm wieder den rothaarigen Penner, der eines Tages allein und verkommen sterben wird. Wenn er den Druck auf der Brust richtig deutet, wird dieser Tag nicht mehr all zu fern sein. Ist heute der Tag, der den Anfang vom Ende markiert?

Wie lange hält ein malträtiertes Herz durch? Er könnte zum Arzt gehen, EKG, Medikamente schlucken. Ein bitteres Lachen steigt in ihm hoch. Sein Vater warnte immer, vor zwei Berufsgruppen solle er sich hüten: Ärzte und Rechtsanwälte. Die einen könnten unter ungünstigen Umständen das Leben kosten, die anderen das Vermögen.

„Sei brav, halte durch“, beruhigt er den kämpfenden Muskel in seiner Brust. „Ich tue was, damit es dir besser geht. Versprochen.“ Wieder gleiten seine Augen sehnsüchtig über die Strandaufnahme. Sein Herz tut einen Sprung, ein Gedanke schießt durch seinen Kopf wie ein Meteorit, der in die Erdatmosphäre eintaucht. Erleuchtung. Genau, dachte er. Genau das werde ich tun. Und niemals, niemals werde ich wieder eine Frau an mich heran lassen.

*

Nein, klagen muss ich nicht, die Geschäfte laufen. Es gibt überall auf der Welt zu wenig Betreuungsmöglichkeiten für Kinder. Also sind meine Mädchen gefragt. Die Frauen wollen oder müssen arbeiten. Kommt für deren Kinder auf das Gleiche heraus. Sie brauchen jemand, der sich um sie kümmert. Bisher lief das Geschäft ausschließlich mit jungen Mädchen, aber seit gestern bin ich auf etwas gestoßen, besser gesagt gestoßen worden, was uns noch einmal einen ordentlichen Schub nach vorn bringen könnte. Weit vor der Konkurrenz. Eine Innovation. Wieso bin ich eigentlich nicht selbst darauf gekommen? Oder Tsi Mai? Sie wird als meine Assistentin schließlich nicht schlecht dafür bezahlt, mitzudenken. Wie auch immer. Es war verblüffend. Den Herrn kannte ich ja bereits. Er bemühte sich nach Kräften, seine Tochter umzustimmen, damit sie diese Stelle in Australien doch noch antritt. Kein Erfolg. Stur wie eine Herde Esel. Waren das noch Zeiten, als die Kinder widerspruchslos taten, was man von ihnen erwartet. Als ich jung war …, aber lassen wir das. Als er heute Morgen hier auftauchte, erschrak ich zuerst ein wenig, wie mitgenommen er aussah. Ich schenkte dem aber keine weitere Beachtung, weil ich ja dachte, seine Tochter sei zur Vernunft gekommen. Im Verlaufe unseres Gespräches blühte er sichtlich auf. Ich brachte meine Beine in die gewohnt vorteilhaft elegante Position, denn wenn man über Sechzig ist werden Komplimente rar wie Südseepalmen am Polarkreis. Ich meine damit nicht die verbalen Komplimente, die sind den Jungen vorbehalten, ich meine die gewissen Blicke der Männer … aber meine Beine sind wirklich immer noch außerordentlich. Das Übrige? Tja … Die kosmetische Operation im Gesicht kann als gelungen betrachtet werden, jedoch … Wissen Sie, die lügen uns doch die Taschen voll, von wegen, wir drehen die Uhr zwanzig Jahre zurück. Pah! Jeder sieht beim ersten Blick, dass ich über Sechzig bin. Trotz Lifting, Fettabsaugung, Straffung der Lider, Straffung der Oberarme (die Narben sind wirklich hauchdünn). Nur an den Beinen fanden sie nichts herumzumäkeln, immer noch schön schlank. Dem Ballettunterricht sei Dank. Schlank und diszipliniert bin ich immer gewesen, allerdings musste trotz allem etwas Fett am Kinn und woanders, wo will ich nicht sagen, entfernt werden. In der Klinik dachte ich zuerst die wollen mir einen Bären aufbinden, als die Dame mir intime Operationen empfahl, von deren Machbarkeit, geschweige denn Nachfrage ich bisher nichts wusste. Anscheinend eine nie versiegende Einnahmequelle, den Frauen Schönheit zu versprechen. Unter uns, ich halte das für völligen Blödsinn. Ich bin für jedermann sofort als alte Dame erkennbar. Eine glatt gezurrte alte Dame, die so tut, als sei sie noch jung. Wenn ich dagegen an Mama denke … Diese Würde! Wissen Sie, wir kommen aus Ostpreußen, alter Adel – ich bin eine Geborene von V., habe aber mit der Hochzeit den Namen meines Gatten angenommen –, also alter Adel, konservativ bis in die Knochen, die alten Werte hochgehalten bis zuletzt. Mama, ja die war auch im fortgeschrittenen Alter noch schön. Wenn ich daran denke, als Papa an der Front war und monatelang keine Nachricht und das Personal vom Gutshof hat sich abgesetzt, nur der Stallbursche war aus Loyalität geblieben und die Rosa, die Köchin. Beide hatten es Papa in die Hand versprochen, damals bei seinem letzten Heimaturlaub. Ja, solche Zeiten gab es einmal, da galt ein Handschlag als bindend. Wir waren drei Kinder, ich die Jüngste. Mama hat in Männerkleidung mit dem Stallburschen ausgemistet und gemolken. Sie ist geblieben bis zuletzt, weil man ihr gedroht hat, wehe wenn sie das Gut heimlich verlässt. Was sollte sie tun? Sie wurde tagsüber Bäuerin, badete dann lange um den Geruch wieder loszuwerden und erschien nachmittags schön und duftend zum Tee. Der Stallbursche küsste früher immer den Saum ihres Kleides und als sie neben ihm im Stall arbeitete, trug sie ja kein Kleid, sondern Hosen und Stiefel, aber der Stallbursche wollte partout nicht mit dem Küssen aufhören. Mama hat zu ihm gesagt, vielleicht überleben wir das hier nicht, deshalb Schluss mit dem Getue, wenn wir uns ab jetzt morgens im Stall treffen, schütteln wir uns die Hand. Erledigt. Als die Front immer näher kam und wir bereits die Geschütze hörten, tauchte eines Nachts ein Kamerad von Papa auf, der sagte, Papa und seine Männer seien vermisst, sie solle flüchten, so lange noch Zeit sei, der Russe marschiere bald hier ein. Mama hat keinen Wagen mitgenommen und ich durfte nur die kleinste Puppe in mein Köfferchen legen. Wir sind geritten, Mama, der Stallbursche Ewald, Rosa und wir. Ich abwechselnd bei Mama und Ewald, meine Brüder auf eigenen Pferden. Unser Glück, dass Mama die Trakehner versteckt gehalten hat … Jetzt bin ich wieder vom Hölzchen aufs Stöckchen gekommen. Was ich eigentlich sagen wollte, ist folgendes: Jahre später, da war Mama bereits Oma geworden, ist dieser Offizier, der uns damals gewarnt hat, plötzlich als Witwer zu uns gekommen und hat um Mama geworben.

 

Mama grauhaarig, leicht füllig, mit zahlreichen Falten und künstlichen Zähnen wusste nicht wie ihr geschah. Eine Brautwerbung, in ihrem Alter! Er aber, verliebt wie ein junger Mann, immer rote Rosen und besorgt. Er aufrecht bis zuletzt und sie an seinem Arm. Offizier bleibt eben Offizier. Sie hatten ein wirklich schönes Alter zusammen. Wie die Turteltauben. Meine Brüder und ich, wir haben zwar gelästert, aber insgeheim habe ich die beiden beneidet. Deshalb meine ich, es ist nicht die Schönheit, die Liebe schafft, sondern es ist die Liebe, die Schönheit entstehen lässt. Mein Lifting habe ich machen lassen, um als Geschäftsfrau präsentabel zu sein, gegen einen Verehrer hätte ich aber auch nichts einzuwenden. Leider wollen heutzutage die Männer in meinem Alter nur noch Gefährtinnen die halb so alt wie sie selbst sind … Es gibt keine echte Liebe mehr, so wie damals bei Mama. Heutzutage ist die Liebe ein Geschäft geworden, bei dem man die Ware aufputzen muss. Und was nicht frisch und jung erscheint, bleibt liegen.

Wie meinten Sie? Ach so, Herr Schmidt! Ja … Wie gesagt, er kommt also zu mir und ich denke, jetzt habe ich die Familie Down Under doch noch in trockenen Tüchern. Das australische Ehepaar hat eine Europareise gebucht. Ich weiß ja, wie das ist, eine australische Farm ist im Prinzip auch nichts anderes als ein ostpreußischer Gutshof. Landwirtschaft kennt keinen Urlaub. Nun hat sich die Frau nach vielen Jahren durchgesetzt und die weite Reise gebucht, da fällt das engagierte Mädchen aus. Lange Rede, kurzer Sinn, seine Tochter weigert sich, aber Herr Schmidt hat sich angeboten, einzuspringen. Er habe seine beiden Töchter praktisch allein aufgezogen und jetzt liege er in Scheidung, sei also abkömmlich, weil Arbeit habe er auch keine im Moment. Ich habe ihm vorsichtshalber einige Prüfungsfragen gestellt und wurde angenehm überrascht. Er konnte mir die Zubereitung eines Hefeteiges genau so richtig erläutern wie den Umgang mit einem fiebernden Kind. Das ist mehr, als meine Mädchen für gewöhnlich aufzuweisen haben! Also Kochen und Backen kann kaum eine von denen. Lange Rede, kurzer Sinn: Ich halte ihn für geeignet. Betreuungsbedarf für ein männliches Kleinkind haben die Australier bei mir angemeldet. Sie bekommen mehr. Der Mann ist ordentlich, freundlich, lebenserfahren, kommt gut mit Kindern zurecht, besitzt handwerkliche Fähigkeiten (auf einer Farm immer gern gesehen) und ist Deutscher, auf letzteres haben die merkwürdiger Weise Wert gelegt. Herr Schmidt wird bereits übermorgen die weite Reise antreten und ich werde versuchen, noch mehr reifere Damen und Herren in meine Datei aufzunehmen. Die Kunden werden sich um sie reißen, glauben Sie mir …

*

Der Großflughafen, dieses Drehkreuz in alle Welt, spuckt unablässig Passagiere aus oder saugt sie durch die beiden großen Glasdrehtüren in die Abfertigung. Menschenmassen strömen um Joachim herum. Gelandete und Abfliegende – alles muss die Halle durchqueren. Auch er irrt eine Weile durch den weitläufigen Flughafen. Welches Gate? Es dauert, bis er sich orientiert hat. Inmitten des Menschengewimmels fühlt er sich wieder einsam, verraten vom Schicksal. Ein Flug um die halbe Welt soll ihn retten. Was erwartet ihn? Noch ein Desaster? Die Australier womöglich enttäuscht, dass kein junges Mädchen bei ihnen aufkreuzt. Joachim schiebt seinen Koffer mit dem linken Fuß zu einer Sitzbank und sinkt erschöpft nieder. Er tastet verstohlen zu seinem Puls. Schnell, aber kein Holpern und Stolpern. Besser keinen Kaffee. Den Muskel in der Brust schonen, Tee trinken. Abwarten, was auf ihn zukommt und Tee trinken. Er holt sich einen Becher vom Imbissstand. Er hat sich vorgenommen, dass nichts ihn mehr aufhalten soll und das größte Problem, die Goldstein-Wetternich, hat er mit Bravour bewältigt. Alles andere wird er auch schaffen, redet er sich immer wieder ein. Ein kleiner australischer Junge. Kein Problem. Adresse der Gastfamilie, Flugticket, seine gesamten Bargeldvorräte, alles dabei. Als er den Vertrag unterschrieb, fluteten Endorphine sein Herz. Im Glücksrausch der gelingenden Flucht vergaß er die Goldstein-Wetternich zu fragen, ob sein Ziel am Meer liegt. Sarembola . Klingt wie ein Versprechen.

Auf den freien Sitz neben ihm plumpst ein Mann in schwarzer Lederhose und rotkariertem Holzfällerhemd. Er nickt Joachim freundlich zu und schiebt seine zahlreichen Gepäckstücke, aus denen teilweise Metallstangen herausragen, zusammen. Golfschläger? Der Rotkarierte wischt sich den Schweiß von der zerfurchten Stirn. Mein Alter, denkt Joachim, aber durchtrainierter, braun gebrannt, groß, zäher muskulöser Typ mit dichtem grau-dunkelblond gesträhntem Haar und großen, kräftigen Händen. Hellgraue, lachende Augen in einem vom Leben durchgearbeiteten Gesicht. Junge Augen. Der Typ beugt sich über ein Bündel von Papieren, die er leise fluchend sortiert.

In Joachims Blickfeld gerät ein Liebespaar. Ein schlaksiger Farbiger mit einer stämmigen Blondine im Arm. Die gleichen Engelslocken wie bei Elvira, nur viel länger, auf den Rücken herab wallend wie bei diesem Mädchen, das als Christkind verkleidet jedes Jahr den Weihnachtsmarkt in Nürnberg eröffnet. Joachim muss in eine andere Richtung schauen, die blonden Locken verursachen einen bitteren Geschmack in seinem Mund. Da lenkt ihn die osteuropäische Großfamilie gut ab. Der Clan in der Größe einer halben Schulklasse reckt die Hälse und winkt aufgeregt einer ankommenden Babuschka und ihrem Mann. Sein Gesicht wie aus Holz geschnitzt. Sibirische Lärche. Hart. Hält der Zeit stand. Die Babuschka mit Kopftuch lässt die Hand der sibirischen Lärche los und gleitet, als trüge sie Rollschuhe unter ihren vielen Röcken, auf ihre Nachkommen zu. Ein vielstimmiger, slawischer Singsang ertönt, unterbrochen von schmatzenden Küssen, die sie reihum allen Enkeln und Urenkeln immer wieder segnend auf die Stirn drückt. Der Holzmann wartet geduldig, bis er an der Reihe ist. Als der Pulk sich nähert, sieht Joachim, dass der Alte einen Orden auf der Anzugbrust trägt. Rot emailliert. Wenn es ein Orden aus dem letzten Krieg ist, muss der Alte um die Neunzig sein. Eine Frau, Tochter oder Schwiegertochter?, nein jünger, schon Enkelgeneration, hakt sich bei ihm ein und sie führen gemeinsam den hinter ihnen schwatzenden und küssenden Familientross an.

Joachim folgt ihnen mit sehnsüchtigen Blicken. Was für ein gelungenes Leben. Gekämpft und Gesiegt. Diamantenhochzeit im Kreise zahlreicher Nachkommen. Treu bis in den Tod. Geachtet und geehrt von der Familie. Für ihn aus und vorbei. Die Russen sind durch die Ausgangstür entschwunden.

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