All das hier

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«Werde ich, Malte.» Sie klang aufrichtig fröhlich, was mich verwunderte. «Ich werde es genau so sagen. Verpiss dich und rück mir nicht auf die Pelle, Alter!»



Auch ich musste lachen.



«Er vergöttert dich.»



«Du spinnst ja», sagte sie. Sie hatte Schluckauf. Ich hatte Lust, mit ihr einen zu heben, ein kaltes Bier.



«Mir ist vorhin was aufgefallen», sagte sie. «Wir waren noch nie wirklich zu zweit alleine, oder?»



«Nein, ich glaube nicht», sagte ich und dachte, dass mir das nie aufgefallen war.



«Hast du dich verändert?», fragte sie.



«Ich weiß nicht. Das ist eine seltsame Frage.»



«Ich muss dir was zeigen, wenn du da bist.»



«Was denn?»



«Du wirst schon sehen. Du darfst dich auf eine gute Aussicht freuen, aber mehr verrate ich nicht.»



Ich versuchte mir Zürich vorzustellen, dachte an hohe Berge und fragte mich auf einmal, ob das mit dem Schnee im Sommer wirklich stimmte. Einen Moment lang wollte ich Nessa danach fragen, aber ich ließ es bleiben, die Frage kam mir bescheuert vor.



«Ich glaub, ich hab mich nicht verändert», sagte ich dann.



Ich wartete, aber sie sagte nichts. Dann begriff ich, dass sie weinte. Ich hörte es ganz deutlich.



«Es tut mir sehr leid. Das alles», sagte ich.



Sie brauchte eine Weile, bis sie etwas sagte.



«Nein, mir tut es leid. Es ist einfach so über mich gekommen, ich sollte mich etwas mehr zusammenreißen.»



«Du musst dich nicht entschuldigen. Es ist gut, es muss sich befreiend anfühlen.»



«Nein, das tut es nicht», sagte sie und klang ganz anders als vorhin, als sei sie auf einmal nüchtern.



«Ich werde jetzt wohl besser gehen», sagte sie dann. «Wir sehen uns dann morgen, ja?»



«Warte, Vanessa …»



«Hm? Seit wann nennst du mich denn Vanessa?», fragte sie. Ich war selbst überrascht, der Name war mir einfach rausgerutscht.



«Ich weiß auch nicht», sagte ich. «Gönn dir et­­was Ruhe, okay?»



«Ja.»



«Wir sehen uns morgen. Ich freu mich.»



Ich schloss meine Wohnungstür ab und ging die Treppe hinunter. Vor den Briefkästen des Wohnblocks blieb ich stehen. Mein Namensschild war wirklich weg. Vielleicht hatte es dieser Typ eigenhändig runtergerissen, einfach, um wieder einen Grund zu haben, sich in was hineinzusteigern. Ich suchte den Zettel auf dem Boden, fand ihn aber nicht. Dann sah ich schwarze Aschekreise auf dem Briefkasten meines Nachbarn. Jemand hatte wohl seine Zigarette darauf ausgedrückt, bevor er sie im Mülleimer daneben entsorgt hatte. Ich grinste und dachte, es gibt doch einen Gott.



In Annas Wohnung war es noch stickiger als in meiner eigenen. Es gab zwei Fenster, sie standen bei­­de gekippt. Ich öffnete sie ganz. Auf dem Boden lag ein schwarzer Rollkoffer. Er war offen, ich konnte einige ihrer Blusen erkennen und eins ihrer Sommerkleider, das darin lag. Anna war gerade mit dem Duschen fertig geworden, als ich ankam, und jetzt war sie im Bad.



Ich war schon eine Weile nicht mehr hier gewesen, da ich wegen des Beins zu Hause festsaß.



Mir fiel sofort eine kahle Stelle in ihrem Schlafzimmer auf, wo früher das Theaterplakat des «Dorian Gray» gehangen hatte. Ich wollte sie fragen, ob ich es haben könnte, wenn sie es selbst nicht mehr wollte. Sie kam aus dem Badezimmer, und ihr blondes Haar war nass und ganz dunkel, als sie zu mir trat und mich küsste. Sie trug ein blaues Sommerkleid aus dünnem Stoff. Es fühlte sich wie Krepppapier in meinen Händen an. Dann ging sie in die Küche und fragte mich, ob ich schon gegessen hätte, es sei noch Brot da, und ich sagte ihr, ich hätte auf dem Weg was gehabt. Sie machte sich ein Sandwich und sprach von einer Arbeitskollegin, die ihr auf die Nerven ging. Ich hörte eine Weile zu, bis mein Blick wieder auf den Koffer fiel, der auf dem Boden lag.



«Wann sagen sie dir nochmal Bescheid?», fragte ich und deutete auf ihn. Ich merkte, wie mir warm wurde, wie sich etwas in mir ausbreitete und wie sich alles anspannte. Sie legte ihr Sandwich auf den Küchentisch.



«Hast du die Zusage schon bekommen?», fragte ich. «Wieso sagst du mir das nicht? Wieso verheimlichst du mir solche Dinge immer?» Ich trat nah an sie heran.



Sie schüttelte den Kopf. «Dieser Koffer gehört mir nicht. Mein Bruder hat ihn mir vorgestern vorbeigebracht. Ich wollte nur sehen, was ich alles hineinkriegen würde.»



Ich sagte nichts. Dann berührte ich ihren Arm.



«Es tut mir leid», sagte ich. «Lass uns das vergessen. Bitte. In ein paar Tagen bist du vielleicht schon in Schweden.»



Sie sagte nichts.



«Ich hatte eigentlich was ganz anderes vor», sagte ich. «Ich wollte mich bei dir bedanken. Die letzten Monate, die vielen Abende bei mir daheim. Das ist nicht selbstverständlich, ich weiß das. Das ge­­bro­­­chene Bein hat mir echt nichts mehr ausgemacht dank dir.»



Jetzt kam sie zu mir und lächelte mich an.



«Ich hab das gern gemacht.»



«Ich glaub, ich brech mir auch noch das andere Bein.»



«Du bist so ein Idiot.» Sie lachte.



Anna fragte, ob ich mit ihr ein Bier teilen wolle, und ich sagte Ja. Wir setzten uns auf ihr Bett, tranken aus derselben Dose, und sie erzählte wieder von ihrer Arbeit. Irgendwann beugte ich mich vor und küsste ihren Hals. Sie seufzte. Es war ein Laut, der alles andere verstummen ließ, den Straßenlärm, der durch das offene Fenster drang, das Surren des Kühlschranks aus der Küche. Ihre Haut war warm und weich wie Samt. Ich sah die Schweißperlen auf ihrem Hals, der ganz leicht zu zittern schien, sodass sie tanzten auf ihrer blassen Haut. Ich küss­te die weiche Stelle hinter Annas Ohr, roch ihr Parfüm, den Duft ferner Orte, der sich mit dem Geruch von frischem Schweiß mischte. Ich fühlte mich zu­­frie­den, geborgen. Ich sah das Muttermal über ihrem Bauchnabel, berührte es mit meinen Lippen, fühlte die Wärme, spürte, wie sie dabei ganz leicht zusammenzuckte, und ich versuchte, mir das alles einzuprägen, diesen Geruch zu speichern. Ihr Blick wanderte über mein Gesicht, blieb an meinen Lippen hängen. Sie sah mir lange nicht in die Augen. Ich suchte ihren Blick, aber sie erwiderte ihn nicht, starrte immer noch auf meinen Mund. Der Raum um uns herum versank in diesem schummrigen Abendlicht, ein künstliches Licht, das durch die Vorhänge drang und alle Farben dämpfte.



Wieder dieses Geräusch.



Wir sahen beide hin. Mein Handy lag auf dem Nachttisch neben ihrem Bett. Dieses blauweiße Licht. Kurz schoss es mir durch den Kopf, es sei Finn, der mir schrieb. Wir hielten einen Moment inne, aber ließen das Handy liegen. Wir küssten uns wieder, und das Licht erlosch nach einigen Sekunden. Aber ich wusste, dass wir noch beide daran dachten.



Die warme Luft staute sich unter der niedrigen Decke. Wir lagen noch eine Weile auf dem Bett, das Laken klebte an unseren Rücken. Anna hatte ihren Kopf auf meine Brust gelegt, ich spürte ihr Haar auf meiner Haut, hörte unseren schweren Atem. Ich hatte Lust auf einen Spaziergang, auf die Nachtluft, den kühlen Wind.



Ich setzte mich auf und griff nach dem Handy. Es war keine Nachricht, es war eine Eilmeldung irgendeiner App. Mehrere Verletzte bei Anschlag in Stockholmer Altstadt. Motive unklar. Regierung er­­­höht Sicherheitsstufe. Ich dachte daran, dass Anna in einigen Tagen vielleicht schon in Schweden sein würde, und drehte mich nach ihr um. Sie lag auf ihrer Seite, das Leintuch verdeckte ihre Brüste, ihre Beine lagen frei. Ihre Augen waren halb geschlossen, sie war kurz davor einzuschlafen. Ich ließ mich wieder auf das Bett sinken und legte meinen Arm um sie, und sie drückte sich an mich. Ihr Nacken strahlte Wärme aus wie ein kleiner Heizkörper. Ich ließ meine Hand über ihre Hüften gleiten und küss­te ihren Nacken. Und ich horchte, konnte ihren Atem hören, regelmäßig, ruhig. Ich sagte ihr nochmals, dass es mir leid tat. Sie antwortete nicht. Sie war eingeschlafen.



Ich sagte mir selbst, dass ich einen Wecker stellen sollte, aber dann vergaß ich den Wecker und den nächsten Tag und all das, was mir bevorstand. Ich dachte an die glänzenden Schweißperlen auf Annas Hals, an dicke Briefumschläge, an blau ge­­färbten Schnee.




3



Als ich am nächsten Tag aufwachte, war Anna weg. Die Wohnung leer, abgedunkelt, friedlich und still. Nur die Luft war wahnsinnig trocken, ich spürte ein Brennen in den Augen. Ich setzte mich auf. In ein paar Stunden fuhr mein Zug, ich musste noch die Tasche aus meiner Wohnung holen. Mit der Zahnbürste im Mund kochte ich einen Kaffee. Annas Sandwich von gestern Abend lag immer noch angebissen auf dem Küchentisch.



Auf dem Weg zu meiner Wohnung erinnerte ich mich, dass ich von Finn geträumt hatte. Und von Ben und Nessa, die ich heute wiedersehen würde.



Wir waren auf einer Feier in Hamburg, auf dieser Studentenparty, wo wir an einem der letzten ge­­­meinsamen Abende im Schanzenviertel wirklich gewesen waren und irgendein Typ durchdrehte und mit der Faust eine Scheibe einschlug.



Ich stand mit Ben in einer Ecke des Raums, ein Glas in der Hand. Dann drehte ich mich zu Ben um und dieser, der kräftig, fast Furcht einflößend breit gebaut war, sah auf einmal zerbrechlich aus und konnte sich kaum auf den Beinen halten. Er wirkte abgemagert und blass, trug ein weißes T-Shirt, und ich bemerkte erst nach einiger Zeit, dass es blutverschmiert war. Das Blut lief aus seiner Nase. Ben sprach mit mir, und ich schaute auf seinen Mund, der sich bewegte. Aber ich verstand ihn nicht, sah bloß das Blut, das sich weiter ausbreitete. Ich sah das Rot auf dem weißen Stoff, die Farben der Schweiz. Ben wischte das Blut nicht weg, er redete einfach weiter und alles lief ihm übers Kinn. Ich fragte mich, ob er verrückt geworden sei, und starrte einfach weiter auf sein T-Shirt. Er redete immer noch und ich verstand kein Wort und wusste auch nicht, weshalb ich ihm noch zuzuhören versuchte. Dann war er verschwunden, und ich saß plötzlich mit Nessa auf einer Couch, sie sah gelangweilt aus, und Techno-Musik plärrte aus den Boxen. Der ganze Raum schnaufte, schwitzte. Mein Glas war leer und ich dachte, dass ich betrunken war. Nessa trug einen Kapuzenpullover mit einem Bild von Bob Marley. Sie hatte eine kurze Hose an und eines ihrer Beine lag ausgestreckt auf meinem Schoß. Auf ihrem Oberschenkel das Tattoo einer Rose mit langem Stiel. Ich fragte mich, wie spät es war, und spürte ihr Bein, das sich irgendwie leicht und warm anfühlte, und mir war, als sei ich gelähmt.

 



Dann stand ich inmitten der feiernden Leute. Finn stand auf neben mir und sah gut gelaunt aus, bewegte sich dabei zum Takt der Musik, und seine dunklen Locken wippten hin und her. Er hielt eine Flasche Schnaps in der Hand und bedeutete mir da­­mit mitzukommen. Wir kamen in einen Gang, wo er auf eine der Türen zusteuerte. Das Zimmer war leer und sah aus wie eine Art Büro mit Schreibtisch und Buchregal, auf dem Boden lag ein kit­schi­ger Orientteppich, dunkelrot, lila, golden. Finn be­­trat den Raum, setzte sich auf diesen Teppich und stellte die Flasche sorgfältig neben sich hin. Er sah aus wie eine Figur aus einem Märchen, unecht.



«Du bist der verdammte Aladin», sagte ich.



Er grinste.



«Wo stecken die anderen?», fragte ich.



«Ist doch egal, was die anderen machen», sagte er.



Ich setzte mich zu ihm auf den Teppich, während er in seiner Hosentasche herumkramte. Nach einer Weile schien er gefunden zu haben, was er suchte. Er lächelte mich an, und zwischen seinen Lippen konnte ich die Pille erkennen, er sah aus wie ein Kind mit einem Bonbon im Mund. Dann hörte ich ein knackendes Geräusch, er schluckte und hielt mir die andere Hälfte hin. Wir spülten mit einem Schluck aus der Flasche nach, es war Gin, und Finn ließ sich mit dem Rücken auf den Teppich fallen. Ich tat es ihm gleich, und wir lagen nebeneinander da, ich konnte die Borsten des Teppichs spüren, sie waren wie winzig kleine Nadeln unter meinem Rücken, ich dachte an Fakire und wie sie tagelang auf diesen Nagelbrettern lagen. Finn drehte sich zu mir hin, kam näher, dann spürte ich seine Lippen auf meinen. Ich konnte den beißenden Geruch des Alkohols riechen, ich dachte an den Chemieunterricht in der Schule und dass der chemische Ausdruck für Alkohol Ether oder so ähnlich lautete, ein seltsames Wort, und ich dachte, so muss der Tod riechen. Dann spürte ich Finns Hand auf meiner Haut, wahnsinnig warm, seinen Atem an meinem Ohr, am Hals, ich fragte mich, was ich mit meinen eigenen Händen tun sollte. Wir fielen in diesen seltsamen Zustand, eine Art angenehme Betäubung zusammen mit dem Gefühl, dass du dich ausbreitest, über deinen Körper hinaus, dass du innerlich explodierst, lautlos, getragen vom weichen Teppich unter uns.



Auf einmal drang die tosende Musik zu uns in den Raum mit der Wucht einer Druckwelle. Ich löste mich ruckartig von Finn und wandte mich um. Die Tür fiel sofort wieder ins Schloss. Ich drehte mich auf den Rücken, starrte an die Decke über uns und dachte an den Eindringling, der die Tür geöffnet hatte und ich fragte mich, was gerade eben passiert war, und dass Anna und die anderen sich schon lange fragen mussten, wo wir steckten, und dann fragte ich Finn, ob er gesehen hatte, wer das eben gewesen war, er sagte Nein, als sei es ihm scheißegal, und ich starrte weiter an die Decke, bis sich das Bild vor meinen Augen auflöste und alles verschwand außer dem plötzlichen Gefühl, dass ich das alles schon einmal erlebt hatte, und ich wachte auf.



Auf dem Weg zum Bahnhof waren nur wenige Menschen auf der Straße. Die Hitze donnerte auf einen herab, aber sie kam auch von unten, stieg auf vom Asphalt. Vor mir der Nacken eines Mannes, der zwischen Hemdkragen und dunklem Haar aufblitzte. Verbrannt und glänzend in der Sonne, wie frische rote Farbe.



An einer Litfaßsäule riss ein Typ irgendein Plakat herunter. Er erwischte immer nur einen Streifen des Papiers. Aber er machte weiter damit. Ich blieb stehen, das Plakat war nicht mehr zu erkennen. Er drehte sich um, starrte mich an.



«Was glotzte so?»



«Was reißt du da runter?»



«Irgend so’n Plakat.»



«Ach was.»



«Biste’n Bulle oder was?»



«Ja», sagte ich und grinste ihn an. Aus irgendeinem Grund wollte ich wissen, wieso er hier war und Plakate herunterriss.



Er verstand wohl nach ein paar Sekunden, dass ich nicht einfach weitergehen würde.



«Irgendein Film oder so. Ne nackte Olle ans Kreuz genagelt. Gottlose Scheiße», sagte er.



«Hast du ihn gesehen?», fragte ich, obwohl ich die Antwort kannte.



«Ne», sagte er. «Hab ich nich.»



Ich trat näher, er grinste jetzt auch. Er hielt den einen Streifen wieder an das Plakat, damit ich er­­ken­­nen konnte, was darauf abgebildet war. Er gab sich sogar Mühe, platzierte den Fetzen sorgfältig an der richtigen Stelle. Es war ein bekanntes Theaterstück, eins dieser Art, wie sie gerade überall ge­­spielt wurden und deren Vorlagen aus alten Texten be­­standen von Autoren, die in den Irrenanstalten da­­für krepiert sind. In jedem der Stücke frisst ir­­gend­einer auf der Bühne Scheiße, und du kannst darauf wetten, dass es mindestens eine Szene gibt, wo sich irgendwer vor dem Publikum einen runterholt und dabei ordentlich Blickkontakt mit den Zuschauern hält. Aus irgendeinem Grund fuhren alle gerade total auf diese Stücke ab. Und dieser Typ stand hier in der Hitze und riss das Plakat herunter, als würde das irgendwas verändern.



«Ich mach das nicht wegen der Kirche, die ist mir schnuppe», sagte der Typ plötzlich. «Die Kinderficker können mir gestohlen bleiben, weißt du.» Er fuchtelte mit dem Papierfetzen herum und erinnerte mich an meinen verrückten Nachbar, der gestern mit den Briefen vor meiner Nase herumgewedelt hatte. Ich schätzte sein Alter auf etwa fünfzig, war mir aber nicht sicher.



«Aber das hier, das hier geht nicht. Das können ja auch alle Kinder sehen, die hier vorbeilaufen, verstehste?»



Ich nickte. Mir fiel auf, dass ich die Plakate an den Litfaßsäulen normalerweise nicht einmal be­­merkte. Ich wäre auch hier daran vorbeigelaufen, wenn er nicht gewesen wäre.




4



Ich hatte mir «Das Bildnis des Dorian Gray» mehrere Male angesehen und mich dabei geärgert, dass ich nicht mit ihnen auf der Bühne stand. Sie hatten alle gleich nach dem Gymnasium mit dem Schauspielstudium angefangen, während ich rum­eierte, einen Job nach dem anderen hinschmiss, sodass ich immer noch studierte.



Das Stück hatte großen Erfolg. Finn hatte die Rolle des Dorian Gray, aber es war Ben, den die Zeitungen am meisten gelobt hatten. Er spielte den verführerischen Lord Henry. Er wirkte mit seinen breiten Schultern und seinem markanten Gesicht, das irgendwie gefährlich aussah, nicht wie ein dahergelaufener Nullachtfünfzehn-Schauspieler. Er passte perfekt zu der Rolle. Ein Typ, der genau des­­wegen überzeugte, weil er auf den ersten Blick aus dem Rahmen fiel. Als die Journalisten erfuhren, dass Ben früher jahrelang geboxt hatte, stürzten sie sich darauf und machten aus ihm den harten Kerl, den das Leben gelehrt hatte einzustecken und der jetzt auf der Bühne seine weiche Seite entdeckte.



Nach ihrem letzten Auftritt fuhren wir im Sommer vor einem Jahr alle gemeinsam an die Nordsee. Wir hatten nur wenig Kohle, dafür Zelte und Angelruten im Gepäck. Wir waren nur fünf Tage am Meer, weil dann irgendwelche Beamten aufgetaucht waren und uns erzählt hatten, dass wir da nicht campen durften. Ich hatte während dieser Zeit ständig das Gefühl, wir seien in einer anderen Welt, auf einem anderen Kontinent, obwohl wir nur et­­wa eine Stunde Fahrt von Hamburg entfernt waren. Wir saßen den ganzen Tag in den sandigen Dünen, sahen auf die Weite des Meeres vor uns und sprachen über Gott und die Welt, an die wir nicht glaubten.



Ich kannte bis dahin niemanden, der so viel reden konnte wie Finn. Er hatte ständig irgend­etwas, mit dem er auf einen einprasselte.



Am Meer erzählte er uns von seiner Kindheit. Seine Eltern waren beide Kinder von ungarischen Migranten, die Sechsundfünfzig in die Schweiz geflohen waren. Seine Eltern waren noch zu jung, um sich wirklich an ihre Heimat zu erinnern. Und so verliebten sich zwei entwurzelte Ungarn, deren Familien das gleiche Schicksal teilten, in einem neuen Land. Zunächst hatten sie vor, in Zürich zu bleiben, doch einige Jahre nach Finns Geburt starb die Mutter des Vaters, sodass beide Eltern Hals über Kopf beschlossen, nach Budapest zu ziehen, die Stadt, die sie nie wirklich kennengelernt hatten, in der Hoffnung, sich selbst und ihren Eltern wieder nahe sein zu können, die alle schon vor Jahren wieder in die Heimat zurückgekehrt waren.



So verbrachte Finn zwei Jahre seiner frühen Kindheit in Ungarn. Wenn er von dieser Zeit sprach, sah ich genaue Bilder, sie schwebten plas­tisch vor mir, greifbar. Der Lärm der Budapester Innenstadt. Die Ungewissheit, ob heute Strom im Haus sein würde, und das Gefühl, nicht zu wissen, wohin man gehen sollte. Er sprach von den anderen Kindern auf dem Spielplatz und dem Verdacht, dass sie seinen Namen lustig fanden, ein Name, der in Ungarn nicht wirklich zu Hause war. Und der seiner Meinung nach nicht zu ihm passte. Der Name eines blonden Jungen für ihn mit seinen dunkelbraunen Locken. Und er sprach von seinem Großvater, der auf dem speckigen, ledernen Sessel saß, auf den er so stolz war. Er saß immer darauf, und Finn erinnerte sich an dessen faltiges Gesicht, das niemals lachte. Nur wenn der Großvater ihm in gebrochenem Deutsch von der Revolution erzählte, während er vor seinem Sessel wie vor einem Thron auf dem Teppich saß und mit großen Augen zu ihm aufsah, huschte ab und an ein Lächeln über sein Gesicht. Er erzählte vom Erzittern der Wände, dem Ausharren in den stickigen Kellergewölben, wie sie auf die rollenden Panzer horchten. Dann irgendwann versteckte man sich nicht mehr. Es war die Zeit, in der sie endlich zurückschlugen, die Zeit, in der ein ganzes Land ihren Gott wiederhatte.



Doch das von den Großeltern gepriesene freie Ungarn hatte nur kärglich Arbeit für Finns Eltern, die außerdem auch nie wirklich Anschluss zu den Budapestern fanden. So zogen sie zurück in die Schweiz, als Finn sieben Jahre alt war. Zurück nach Zürich, in denselben jüdisch geprägten Stadtteil, in dem die Großeltern damals nach der Flucht ein neues Leben begonnen hatten und in dessen Läden sie nun wieder denselben Tokajer kaufen konnten, den sie ihr Leben lang getrunken hatten. Finn war zu dieser Zeit eingeschult worden und besuchte eine Primarschule mitten in der Stadt. Er hatte Schwierigkeiten mit der Sprache, sprach zwei Sprachen, ohne eine wirklich ganz zu beherrschen. Und er musste jede Woche zweimal den Nachhilfe­unterricht besuchen. Ich habe den Namen des Lehrers nie erfahren, wusste nur, dass er ein Freund von Finns Eltern war, der als Lehrer eine Teilzeitstelle hatte und nebenbei Nachhilfe gab.



Nessa, Finn und Anna waren in den Zelten und schliefen bereits. Ich und Ben saßen noch eine Weile am Meer, als er mir davon erzählte.



«In der fünften Klasse, da waren meine Noten miserabel, und ich war kurz davor, sitzen zu bleiben. Für meine Mutter war das der Weltuntergang, sie hat geweint, konnte das einfach nicht verstehen, weil ich ja so begabt war und was weiß ich. Meinem Vater war das scheißegal, er war sowieso fast nie mehr daheim. Jedenfalls, an einem Elternabend, da haben Finns Eltern mit meiner Mutter gequatscht und von diesem Typen erzählt, zu dem Finn jede Woche hinging, um Nachhilfe zu nehmen. Von da an ging ich auch hin.»



Er machte sich eine Kippe an und hustete. Dann zog er an seiner Zigarette, einmal, zweimal, noch einmal, sog die halbe Kippe ein, bevor er weitersprach.



«Wir erwähnten nie seinen richtigen Namen. Wenn wir über ihn redeten, nannten wir ihn nur Klotz. Ich hab zuerst geglaubt, dass das sein echter Name ist, Mann, ich war ein verdammt dummes Kind, hatte Nachhilfe wohl wirklich nötig. Aber der Name passte einfach, der Typ war riesig, sein Körper bestand aus zwei Betonklötzen, die man aufeinandergestellt hatte, und er trug immer diese quadratischen Lederschuhe, er ging verdammt nochmal sogar auf zwei Klötzen. Finn war ein di­­cker Junge, ich meine, er war richtig dick damals. Schwer zu glauben, was? Und er sprach irgendwie seltsam, er hatte diesen starken Akzent und kaum Freunde. Das ideale Opfer. Der kleine dicke Junge, der sich nicht wehren kann. Ich fand ihn zuerst auch seltsam, aber irgendwann haben wir miteinander gequatscht, uns ganz gut verstanden, und dann sind wir jeweils zusammen zu diesen Nachhilfestunden gegangen. Finn und ich waren die einzigen Jungen, sonst waren da nur noch zwei Mädchen. Dann begann es damit, dass Finn noch ein bisschen länger blieb, während wir alle schon nach Hause gingen. Der Lehrer sagte, er müsse noch weiterlernen, dass es zu Finns Bestem sei und er eben mehr Zeit brauche, weil er im Ausland aufgewachsen war und so. Einmal hab ich nach der Stunde draußen auf Finn gewartet, und als er kam, sagte er mir, noch bevor er Hallo oder sonst ein Wort gesagt hatte, dass ihn der Lehrer vorhin Jud genannt habe, obwohl er gar kein Jude sei, und er sagte, dass sie manchmal gar nicht lernten oder nur ein bisschen, dass er manchmal sein T-Shirt ausziehen sollte, manchmal die Hose. Er schaute die ganze Zeit auf den Boden, als er mir das sagte, und ich stellte mir vor, wie er nackt auf einem Tisch lag, auf einem Operationstisch wie in einem verfickten Krankenhaus und wie der Klotz auf ihn kroch und ihn zu zerquetschen drohte. Als er fertig war, sagte ich ihm, dass er nach Hause gehen solle. Das wollte er nicht, aber ich hab ihm gesagt, dass ich ihm eine reinhaue würde, wenn er nicht ginge. Ich suchte am Wegrand nach einem Stein, einem mit scharfer Kante, dann wartete ich auf den Klotz. Ich fing ihn nach einigen Minuten bei seinem Auto ab. Er wurde ganz bleich, laberte irgendetwas von versäumten Hausaufgaben oder so, und ich schlug mit dem Stein das Seitenfenster seines Autos ein. Dann stand ich da und starrte den an, obwohl ich mir fast in die Hose gemacht hätte. Es verging eine Ewigkeit, bis er endlich sagte, dass er Finn in Ruhe lassen würde.»

 



«Hat er Wort gehalten?»



«Ja. Wir haben von da an sowieso meistens ge­­schwänzt, haben zusammen abgehangen, uns Energydrinks reingezogen und mit dem Rauchen angefangen. Der Klotz hat nie ein Wort zu unseren Eltern gesagt, wir konnten tun, was wir wollten. Unsere Alten dachten, wir säßen in der Nachhilfestunde. Und er konnte nichts machen, er wusste, dass wir ihn bei den Eiern hatten.»



Jeden Nachmittag besorgten wir uns Bier in einem kleinen Laden, zu dem man eine halbe Stunde hinlaufen musste. Wir tranken ausschließlich Jever, dessen bitterkalter Geschmack unsere Ra­­chen kühlte. Manchmal gingen uns die Köder aus, und wir gingen in das Anglergeschäft, das gleich neben diesem Laden war. Wir verbanden die Einkäufe mit langen Spaziergängen, und auf dem Rückweg holten wir alles Nötige aus dem Laden, aßen die von der Besitzerin selbst gemachten Krabbenbrote. Denn mit dem Angeln lief es nicht wirklich, wir versuchten es mit Würmern, Maden, Käfern, auch mit Käse, irgendwelchen Samen, der Typ im Anglershop verkaufte sogar Hundefutter, auf das die Fische abfahren sollen. Ben hielt jedes Mal mit dem Typen im Anglerladen ein Schwätzchen und handelte so ganz nebenbei die Preise der Köder runter. Die meis­ten der Fische hatten wir sowieso ihm und Nessa zu verdanken, die zuvor schon mal geangelt hatten und die wie ein eingespieltes Team wirkten. Ich erfuhr, dass Nessa und Ben lange Nachmittage auf der Couch verbrachten, wo sie Videospiele zockten. Nessa war nur ein paar Häuser weiter aufgewachsen, und sie hatten schon früh gemerkt, wie sie gemeinsam ganze Nachmittage zum Verschwinden bringen konnten. «Das einzige Mädchen, das mich beim Zocken fertigmachen konnte», hatte Ben gesagt, als sie davon erzählten, und ich dachte, das sind genau die Mädchen, in die sich alle verlieben.



In einer Nacht wachte ich auf, weil ich musste. Es war bestimmt drei oder vier Uhr morgens. Ich lief et­­­was weg von den Zelten, um an einen Busch zu pinkeln, weil es da keine Strandtoilette gab. Auf dem Weg sah ich, dass Nessa und Finn immer noch am Meer saßen und miteinander redeten, sie hatten ihre Jeans hochgekrempelt, die Wellen kamen und gingen. Sie sahen beide aus, als bräuchten sie Schutz. Vor der tiefschwarzen Nacht, vor dem Meer, das sie zu sich zog. Das Bild sehe ich noch heute vor mir, als wäre es wirklich ein Bild, das gerahmt an einer Wand hing.



Als ich wieder zum Zelt zurückkam, in dem Anna tief und fest schlief, fiel mir erst auf, dass sie und Finn den ganzen Sommer nicht über ihre ge­­meinsam verbrachten Jahre gesprochen hatten, und ich fragte mich, ob sie darüber sprechen würden, wenn ich nicht hier wäre. Ich erinnerte mich daran, wie sie miteinander telefoniert hatten, noch bevor Finn und die anderen nach Hamburg kamen. Ich hatte geduscht in Annas Wohnung und ihre Stimme gehört, und ich wusste, dass sie mit Finn telefonieren wollte, um alles zu klären, wann er ankommen würde und so weiter. Anna hatte oft lachen müssen, hatte ständig gekichert, und das Gespräch zog sich in die Länge und ich kam mir bescheuert vor, wie ich nach dem Duschen im Ba­­de­­zimmer rumstand, um ni

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