Im Schatten der Hundstage

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Im Schatten der Hundstage
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Thomas Christen, Jahrgang 1955, lebt in Düsseldorf und studierte Politikwissenschaften, Germanistik und Soziologie an der Universität Trier sowie später Agrarwissenschaften an der Universität Bonn. Nach zwanzig Jahren Tätigkeit in einer Heidelberger Klassikproduktion gründete er im Jahr 2000 das audio-visuelle Konzeptlabel tomtone music (www.tomtone.de).

Er schrieb über zwanzig Jahre Texte für Künstler wie Udo Jürgens, Milva, Veronika Fischer oder das Bremer Ensemble Mellow Melange und verfasste zwei Drehbücher für Music-Features im Auftrag des ZDF.

Im Jahr 2012 wurde sein Debutroman Der Abend vor der Nacht im secession Verlag Zürich/Berlin veröffentlicht.

Des Weiteren sind von ihm die beiden Lyrikbände Ferngespräche (2007) und Windweit der Mensch (2010) sowie die Romane Winterfieberoder die Überreizung einer Seele und Die Privilegierten (eBook) (2013) erschienen.

Er ist verheiratet und hat drei Kinder.

Thomas Christen

IM SCHATTEN DER

HUNDSTAGE

Erzählungen

Engelsdorfer Verlag

Leipzig

2014

Bibliografische Information durch die

Deutsche Nationalbibliothek:

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie;

detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über

http://dnb.dnb.de abrufbar.

Copyright (2014) Engelsdorfer Verlag Leipzig

Alle Rechte beim Autor

Hergestellt in Leipzig, Germany (EU)

www.engelsdorfer-verlag.de

INHALT

Cover

Titel

Impressum

Jesus’ blood

... denn ich wache über euch

Im Schatten der Hundstage

Selma Leitner

Pfr. Kurt Bachmann

Laura Simonsen

Nach dem Winter

Die letzte Fahrt der General Slocum

Haiku

Blindes Licht

Canes venatici (Jagdhunde)

Bis wir uns finden

Der Bericht der Petra Roth

frei nach Franz Kafkas „Bericht für eine Akademie“

15°53’29’’S – 54°31’24’’O

Schwarz/Weiß - Epilog zum Roman „Winterfieber – oder die Überreizung einer Seele“

Im Schatten der Hundstage

Gestreute Blümchen

Die Haltestelle

Anmerkungen

... wenn der Roman wie ein verwirrendes Renaissancegemälde ist, dann ist die Kurzgeschichte wie ein impressionistisches Tableau. Sie sollte eine Explosion der Wahrheit sein. Aus der Erzählung ist die Bedeutungslosigkeit vollkommen verbannt, während andererseits das Leben die allermeiste Zeit bedeutungslos ist.

William Trevor

... und dann gibt es die, die suchen und verloren gehen.

JESUS’ BLOOD

Er hängte die braune Wollmütze an einen der Messinghaken neben der Haustüre und kämmte sich langsam mit der Hand die Haare aus der Stirn. Er spürte einen kurzen Nadelstich an seinem Mittelfinger, senkte mit einem kaum hörbaren Seufzer ein wenig den Kopf und nestelte sich das winzige Stück abgebrochenen Ginsters aus den Haaren. Die Sonne hing wie eine große, glühende Münze in der Mitte des Türrahmens, warf einen Lichtkegel auf die Holzdielen des Flurbodens und hüllte den kleinen, explodierenden Staubnebel vor seinem Hosenbein in ein honigfarbenes Universum, als er sich mit der anderen Hand über den Cordstoff strich. Heute würde ich dich gerne hereinbitten, wenn es denn möglich wäre. So oder so ähnlich hatte sie es einmal gesagt. Er beschattete seine Augen und schaute einen kurzen Moment durch die offene Türe hinaus über das Heidekraut und den schmalen Streifen Meer, hin zu diesem gelben Stern, der unmerklich auf den Horizont sank. Er räusperte sich leise, legte das abgebrochene Stück Ginster und die zerdrückte gelbe Blüte in die leere Tonschale unter den Wandspiegel und betrachtete sie einen Augenblick. Giftig bist du. Und dennoch eine kleine Schönheit. Er merkte, wie seine Zunge über die Zähne fuhr, eine Angewohnheit, eine dumme Eigenart, die er an sich nicht mochte. Ein Bild. Worte. Aber gedacht hatte er sie. Er warf einen Blick auf die Küchentür, die einen Spalt offen stand und durch die, kaum hörbar, Musik erklang. Heute, meine Liebe, habe ich es leider vergessen, sagte er wortlos. Heute waren andere Dinge wichtiger gewesen. Sie liebte diese Pflanze, ihren flüchtigen Duft nach Honig, das Surren der Hummeln, die im Sommer allgegenwärtig waren, und manchmal schnitt er ihr auf dem Heimweg vom Hof ein paar Zweige ab, steckte etwas Heidekraut, ein paar Birkenzweige oder Blaubeergrün dazu und legte es ihr auf den gelben Obstteller neben der Spüle. Am Anfang hatte sie ihm zwei-, oder dreimal morgens stumm die Handschuhe hingehalten, aber er hatte kaum merklich den Kopf geschüttelt und sie nicht genommen. Die Dornen hatten ihm noch nie etwas ausgemacht.

Langsam hob er seine beiden Hände und betrachtete die schmutzigen Handflächen und alten, schwieligen Finger. Sein rechtes Daumengelenk war rot, geschwollen und schmerzte. Ihr Vieleckbein, hatte der Arzt vor fünf Monaten gesagt. Ich fürchte, viel machen kann man da nicht mehr. Sie kennen ihr Geburtsdatum, hatte er unbeholfen nachgeschoben, als wolle er irgendetwas aufmunternd Relativierendes sagen, aber der Satz war zwischen ihnen beiden auf den Tisch gefallen wie ein in der Ferne abgeschossener Vogel, der lautlos hinter dem Horizont verschwindet. Jetzt, wo ihn für ein paar Herzschläge lang nichts ablenkte, spürte er auch wieder seine beiden Fußknöchel, die sich anfühlten, als habe jemand den Knorpel durch winzige Eisenspäne ersetzt. Mit zwei Fingern massierte er sich das Daumengelenk und betrachtete gedankenverloren sein Spiegelbild. In all den Jahren hatte die Mütze in den Haaren auf seinem Hinterkopf eine ständige Delle hinterlassen, die nur für ein paar Stunden verschwand, wenn er ein Bad genommen hatte und die im Winter noch deutlicher zu sehen war, dann, wenn er seine schwarze Kappe trug und abends abnahm. Eine kleine, graue Welle, die immer wirkte, als springe sie ihm gleich in den Nacken. Er wusste, dass sie da war. Er spürte sie, wenn er mit der Hand über sein dünnes Haar strich. Zu Anfang hatte sie es auch manchmal getan. Vor dem Zubettgehen.

Jacob hatte kein Wort gesagt. Er und Mitch hatten nur einen kurzen Blick auf das Loch im Zaun geworfen, sich umgedreht und waren schweigend zurück zum Hof gegangen. Sie hatten die Gegend fast drei Stunden abgesucht, aber die beiden Schafe nicht gefunden. Er hatte Minuten lang vor den zerbrochenen Pfählen gestanden und seinen Blick immer wieder von den blaugefärbten Wollfetzen am auseinandergerissenen Draht zu seiner rechten Hand und zurück wandern lassen. Und dann den hochgeschossenen dunkelroten Ampfer vor seinen Füßen wie in Trance mit der linken Hand auszureißen begonnen.

Sein Zeigefinger spielte mit der Ginsterblüte in der Schale und schob sie von Rand zu Rand. Irgendetwas ist anders, nicht wahr?, fragte er das Gesicht, das ihn schweigend ansah. Es klingt so fremd. Falsch. Sag mir, was es ist? Aber der alte Mann im Spiegel schwieg, und er drehte sein Gesicht zur offenen Haustüre, wo die Sonne in der Ferne anfing dunkle Orangetöne anzunehmen und zu flimmern. Der Lichtkegel war ein paar Schritte in den Flur hinein geflossen und lag auf seinen dreckverschmierten Schuhen, als wolle er die Klumpen dort lautlos ausbrennen. Kümmere dich noch zwei Stunden um die Senke, hatte Jacob ihm vom Gatter aus zugerufen. Wir machen das hier schon. Er war hinunter an den Weidegrund gelaufen, wo sie seit Tagen den Entwässerungsgraben ausbesserten, hatte gegraben, Ginster, Brombeersträucher und verrottete Tonrohre herausgerissen, am Ende das Werkzeug auf den kleinen Anhänger des Traktors geladen und alles zurück auf den Hof gefahren. Er konnte Jacob schon von Weitem sehen. Der Mann stand am Wegesrand, knietief im Heidekraut und schien die beiden Schafe durch pure Willenskraft in sein Blickfeld zwingen zu wollen. Sie hatten sich eine Weile schweigend angeschaut. Was ist los? Sag mir, was los ist? Du weißt, dass wenigstens eines der Schafe von Deinem Lohn abgeht? Wenn wir sie wirklich nicht mehr finden. Du weißt, dass wir jedes einzelne brauchen.

 

Er hatte Jacobs fragendem Blick standgehalten und nur genickt. Sie hatten kein weiteres Wort gewechselt. Er wusste, dass nur ihm die Wege durch die Welt des Schweigens so vertraut waren wie keinem anderen, und er wusste, dass Jacob es seit langem aufgegeben hatte ihn manchmal ein Stück in das Labyrinth aus unergründbarer Stille jenseits dieser unsichtbaren und unüberwindlichen Grenze seiner sprechenden Augen zu begleiten. Er machte sich wortlos auf den Weg in Richtung Meer, nahm den sandigen Trampelpfad und die Abkürzung durch den Wacholder und die Birken hinauf, jeder Schritt wie eine vage Kopie der Schritte, der Tage, Monate und Jahre zuvor, dorthin von wo er wusste, dass sie ihm um diese Zeit die Kanne Tee auf dem Herd warmhielt.

Gib mir noch einen Augenblick, nur einen Augenblick, baten seine Gedanken, und sein Blick streifte die angelehnte Küchentür. Leise machte er die wenigen Schritte zurück durch den Flur, ging durch die offene Tür nach draußen und setzte sich langsam auf die Bank neben dem Eingang. Ein Meer vor dem Meer, dachte er immer, wenn er an solchen Tagen hier saß. Violette und gelbe Wogen. Der Farn, der bereits anfing braun zu werden. Das Rascheln der in der Ferne tanzenden Birkenzweige, die jetzt, in der abklingenden Hitze des sommerlichen Abends wie aus dem fernen Himmel gestanzt aussahen. Die Hand voll knochiger Kiefern, die sich wenige Meter vor der Klippe wie erstarrte graugrüne Gischthügel um die grauen Steine legten. Und der kaum wahrnehmbare Wind aus Surren, Brummen und Geraschel, der alles durchwob und über alles hinwegzog. Gedankenverloren rieb er seine Hände aneinander und maßregelte sich. Was verstanden sie denn von Poesie und schönen Worten? Was waren sie jemals anderes gewesen, als einfache, einem fernen Gott ergebene Kreaturen, die ihrem Herzschlag lauschten und hofften, dass es ihnen vergönnt wäre, diesen tonlosen Klang noch so lange zu spüren wie ihre Körper in der Lage waren zu arbeiten, die darum beteten, dass dieses Schlagen nicht einfach weitergehen würde, dann, wenn diese Körper längst aufgegeben hatten, dem Sinn ihres Daseins gerecht zu werden. Zwei jener sich dort draußen vor dem Sturm und dem Regen duckenden, kleinen Büsche, verwachsen mit sich selber und ihresgleichen und für eine kurze Zeitspanne, ein paar Jahre lang unscheinbar aufblühend, um sich an sich selbst zu erfreuen. Er betrachtete seine beiden Hände, legte sie einen Moment lang neben sich auf das warme Holz der Bank und stand dann auf. Er ging ins Haus, warf einen kurzen Blick auf die schmelzende Sonne und schloss die Haustüre hinter sich.

Sie stand zwischen Spüle und Tisch und drehte langsam einen Teller durch das karierte Trockentuch. Hatte sie an den Abenden, wenn er die Küche betrat jemals woanders gestanden als dort? Der Gedanke wehte kurz durch seinen Kopf und war so schnell verschwunden wie er gekommen war. Er konnte sich nicht erinnern. Sie nickte ihm unmerklich zu, und dann vollzogen sie für wenige Sekunden das Ritual, von dem er wusste, dass nur sie beide es zu deuten verstanden. Ihre Idee einer Geste. Der für niemanden anders wahrnehmbare Versuch einer mimischen Ausschmückung dieses allabendlich wiederkehrenden Augenblicks. Dieser Hauch eines in alle Ewigkeit zerstörten Lächelns, seine leise Frage: Geht es dir gut? und ihr abermaliges, kaum sichtbares Kopfnicken, von dem er wusste, dass es da war, dem er aber in den letzten Monaten wieder begonnen hatte auszuweichen, indem er seinen Blick auf das Fenster, den Tisch oder irgendeines der Dinge richtete, von denen er wusste, dass sie dort an ihrem angestammten Platz standen, makellos, komplett und rein. Weil sie es so wollte.

Sie hatte den Teller auf den Stapel bereits abgetrockneter Teller gelegt, das Handtuch an den Handlauf des Herds gehängt und begonnen den Tisch zu decken. Sechs Scheiben Graubrot in der am Rand ausfransenden Bastschale, die Kanne Tee auf dem Stövchen, der rotumrandete Teller mit Corned-Beef oder Wurst und das Glas mit Sanddornaufstrich. In einer anderen Zeit, eine Woche nach ihrer Hochzeit, hatten sie festgestellt, dass sie beide für süßen Aufstrich am Abend schwärmten. Eine Scheibe, manchmal auch nur eine halbe, reichten ihnen aus. Und seitdem kam er manchmal von der Arbeit zurück und stellte ein Glas mit Honig, Schlehenmarmelade oder eben Sanddornaufstrich auf den Tisch, das ihm Jacob mit besten Grüßen an seine Frau in die Hand gedrückt hatte. Er war an das Küchenfenster getreten, lauschte dem bekannten leisen Klappern, stellte einen flatternden Moment lang mit einer seltsam aufwallenden, schmerzenden Zufriedenheit fest, dass er auch heute Abend wusste, welcher Gegenstand wohin gestellt wurde, dass er dies wusste, ohne sich dafür umdrehen zu müssen und blickte hinaus auf das Meer und den violettgrauen, untergehenden Abend. Warum hatten ihre Blicke wieder begonnen Vertrautes in anderem Vertrauten als ihrer beider Verbundenheit zu suchen?

Er fühlte es wie an beinahe jedem Abend. Dieses das Haus und ihn selber heimsuchende Gefühl einer alles durchdringenden, giftigen Böe, die sich von diesem Punkt dort unten erhob, um hier herauf zu toben und nichts als Ratlosigkeit zu hinterlassen. Die beiden Kühltürme lagen wie ein schwarzer Scherenschnitt auf dem Strand. Zwei Betonwürfel, dessen Zweck er nicht kannte und das Bürogebäude, in dem sie zum Schluss gearbeitet hatte. Irgendwo im zweiten Stock, mit Blick auf die Heide und den Wald. Einschlafende, graue Schemen, die in wenig mehr als einer Stunde für eine Weile in der Dunkelheit der Nacht verschwanden. Als könne man sie auf diese Weise auslöschen, ausschalten und vergessen.

Ein Fahrer wird Sie nach Hause bringen, hatte die Krankenschwester damals gesagt. Machen Sie sich bitte darum keine Gedanken. Ihm waren keine Worte eingefallen, die er hätte erwidern können. Er hatte sich stumm bedankt und der Schwester die Hand gereicht. Niemand sollte denken, dass ihresgleichen sich nicht zu benehmen wüssten. Aber er hatte nicht gewusst, wie er mit dem Gefühl umgehen sollte, das er damals durch seinen ganzen Körper fließen spürte und das ihm sagte, dass Worte zukünftig keine Rolle mehr spielen würden.

„Ich habe zwei Schafe verloren“, sagte er leise gegen das Fenster, und sein Atem ließ die Scheibe vor ihm kurz und kaum wahrnehmbar beschlagen. Jetzt, wo die Sonne nicht mehr zu sehen war schien es draußen spürbar kühler geworden zu sein.

„Ich werde morgen noch einmal suchen gehen. Vielleicht ist eines von der Klippe gestürzt. Wie im letzten Jahr.“ Damals war es nicht seine Schuld gewesen.

Er hörte, wie das Klappern des Geschirrs verstummte. Er spürte ihren Blick in seinem Rücken und sah die winzig kleinen Veränderungen, die über ihr Gesicht zogen vor sich auf der dunklen Scheibe. Sie richtete sich auf, und für einen Augenblick lag ihr Spiegelbild genau vor dem kaum noch zu erkennenden Kraftwerk. Unwillkürlich erschrak er, wischte mit einer Hand über die Tasche seines Jacketts und betrachtete die Fensterbank. Sie tat es nicht bewusst. Es war ein Reflex. Ein ihrem Körper eingebranntes Muster, das immer dasselbe Verhalten abrief, wenn er ihr eine schlechte Nachricht überbrachte. Sie griff sich an ihren Haarknoten, ihre Augen weiteten sich einen Moment, und dann sah sie ihn mit diesem Blick an, den er nicht ertragen konnte und in dem sich dieser grauenvolle Kampf von Mitleid für ihn und eigener Schuld spiegelten.

Und am Ende würde sie sich die Hand auf ihren verstümmelten Unterkiefer legen, hilflos diesen Krater bedecken, als wolle sie dieses abstoßende Nichts endgültig vor den Augen der Welt verstecken.

Manchmal, im Winter, wenn sie abends las, er die Zeitung überflog, wenn sie sich gemeinsam etwas im Fernsehen anschauten, oder wenn sie eine Partie Scrabble spielten, trug sie ihren wollenen Rollkragenpullover an dem sie den Kragen dann immer bis zur Nase hochzog. Er mochte das Spiel nicht, denn ihm fielen nie die passenden Wörter ein. Aber manchmal tat er ihr den Gefallen, denn er würde nie vergessen, wie sie ihm damals nach einem beendeten Spiel, kurz nachdem es passiert war, einen Zettel zugeschoben hatte: Ich kann die Worte nicht mehr zum Klingen bringen. Aber wir können sie noch sehen! Er hatte ihr vorgelogen, draußen noch etwas richten zu müssen. Aber wahrscheinlich hatte sie gewusst, dass er nur mit seiner Übelkeit und den aufkommenden Tränen allein sein wollte.

Man hatte ihr nahezu den gesamten rechten Unterkiefer und weite Teile der Zunge entfernt, und sie hatten jeden Tag gebetet, dass sich keine Metastasen gebildet hatten. Damals war die Stille bei ihnen eingezogen. Heute betete nur noch sie. Manchmal, wenn sie glaubte, dass er es nicht bemerke. Ihm fielen keine Worte mehr ein. Nicht einmal die wenigen, mit denen er bisher vertraut gewesen war. Damals hatte niemand im Dorf ausgesprochen, was die meisten dachten. Aber es sprach auch so gut wie keiner mehr über das Werk. Ellen Campden und Lis Brown hatten kurz darauf gekündigt. Seit einem Jahr fuhren sie jeden Tag fast eine Stunde zu ihrer neuen Arbeitsstelle. Die Mädchen waren noch jung. John Dickens war vor Monaten an Krebs gestorben. Seine Frau versuchte noch immer, den Hof zu verkaufen. Und jeder hier wusste, dass der ein oder andere manchmal zu viel trank, rauchte, oder irgendetwas verheimlichte, über das er mit seinem Arzt nur hinter verschlossener Türe sprach. Sie hatte auch geraucht. Was für Möglichkeiten hätten sie denn gehabt?

Er drehte sich langsam vom Fenster fort und sah sie immer noch reglos, eine Tasse in der Hand haltend, vor dem Tisch stehen. Ihr Blick ruhte einen Moment lang auf seinem geschwollenen Daumen, aber sie wusste, dass er das nicht mochte und drehte den Kopf zur Seite. Ihre Hand stellte wie schlafwandelnd die Tasse auf dem Wachstuch ab, und dann heftete sie ihren Blick auf das Radio, das auf der Anrichte stand und aus dem noch immer leise Musik erklang.

In diesem Augenblick wusste er, was es war. Irgendetwas ist anders, nicht wahr? Er hatte es schon beim Hereinkommen gespürt. Es klang so fremd. So unpassend und falsch. Keine kleinen, banalen Volkslieder, die sie auf diesem Sender manchmal gerne hörte und die nach ein paar Minuten von einer Frauenstimme unterbrochen wurden, die ein neues Rezept zum Besten gab oder Gesundheitstipps anbot. Niemand, der Nachrichten sprach oder den Wetterbericht vorlas. Kein Hinweis auf aktuelle Veranstaltungen in der Stadt. Nichts, was er mit diesem Radio und diesem Sender jemals in Verbindung gebracht hätte. Nur diese brüchige, unendlich traurige Männerstimme und ein Orchester, die wieder und wieder die gleiche Phrase, die gleiche Sequenz wiederholten, eine Schallplatte auf der ein majestätisches klassisches Werk erklingt und bei der die Nadel an einem Kratzer immer wieder dieselbe Stelle abspielt. Nur, dass er spürte, dass das, was sie hier hörten nicht auf einen technischen Fehler zurückzuführen war. Irgendetwas war anders. Das Orchester spielte nicht immer nur das gleiche. Instrumente kamen hinzu und verebbten. Wie eine Welle, die wächst und langsam auf den Strand zurollt. Nur dieser seltsame alte Sänger sang in einer endlosen Schleife immer wieder die gleichen Sätze.

Er merkte, wie sich sein Magen verkrampfte, wie ihm ein hauchdünner Schweißfilm auf die Stirn trat und er das kurze Gefühl hatte, als sei an einem Winterabend ein Fenster aufgeschlagen worden.

Er verstand nichts von Musik. In seinem ganzen Leben war er nie etwas anderes als ein einfacher Mann gewesen, der seiner Arbeit nachgeht. Und in diesem Augenblick fühlte er, dass etwas in ihm aufstieg, an das er sich kaum noch erinnern konnte, etwas, das er seit Jahren nicht mehr empfunden hatte und das er nicht bereit war zu akzeptieren: Furcht. Diese Musik war falsch an diesem Ort. Sie war – beklemmend – und dennoch wunderbar, großartig, erhaben. Vor allem war sie – auf eine Art – endgültig!

Jesus’ blood never failed me yet …

Er wischte sich eine Hand am Ärmel ab und suchte ihren Blick.

„Seit wann wird das gespielt?“, fragte er sie und sah, dass sie zitterte und dort stand, als sei sie mit dem Dielenboden verwachsen. Ihre Augen hatten zu schwimmen begonnen. Sie zuckte mit den Schultern, und dann zeigte sie ihm zweimal alle zehn Finger ihrer beiden Hände.

 

„Zwanzig Minuten …“, antwortete er tonlos. Sie nickte, deutete stumm ein ungefähr an und hielt noch einmal zaghaft fünf Finger einer Hand in die Höhe.

Sie standen in der Küche und sahen sich an, als wollten sie ihre Gedanken miteinander verschmelzen, als schienen unsichtbare elektrische Entladungen blitzartig von Augenpaar zu Augenpaar zu jagen. Was war das, das er nicht sehen konnte und das plötzlich wie ein Pesthauch in diesem Zimmer hing. Das er nicht fassen konnte, das aber da war, wie giftiger Rauch aus diesem Radio quoll und angefangen hatte ihm die Luft zu nehmen. Er ging in Richtung Anrichte und hatte schon den Arm gehoben, um das Gerät auszuschalten, diese fremde Musik abzustellen, als er sie neben sich hörte.

„... Mmmh – nnh, nnh!“ Als er sie ansah, schüttelte sie heftig den Kopf, machte einen Schritt auf ihn zu und legte ihre Hand auf seinen Arm. Ratlos sah er sie an, wie sie sich verschämt die Tränen aus den Augen wischte und dann fortfuhr den Tisch zu decken.

„Haben sie irgendetwas in den Nachrichten gebracht? Ist etwas passiert?“, fragte er sie und musste in diesem Augenblick wie von weither gerufen zum Fenster schauen. Er zwang seinen Blick von den Scheiben fort und beobachtete sie, wie sie vorsichtig um den Tisch ging, das Besteck verteilte und zu versuchen schien möglichst leise dabei zu sein. Als wollte sie keinen einzigen Ton versäumen. Abermals bedeutete sie ihm mit einem Kopfschütteln und kurzem Schulterzucken, dass sie es nicht wusste.

Jesus’ blood never failed me yet, never failed me …

Das Stück hatte sich unmerklich verändert. Ein zweiter Sänger war hinzugekommen. So zerbrechlich die Stimme des ersten Mannes bisher gewesen war, so rau, grob und polternd klang die des anderen. Blasinstrumente. Ein Chor? Warm klingende tiefe Streicher. Und wieder und wieder und immer wieder die gleichen Sätze. Etwas, das sich im Kreise drehte und größer und größer zu werden schien, alles umschlang, unendlichen Trost spendete und - heilte. Er tadelte sich wortlos, ballte die Faust, aber seine Unsicherheit verschwand nicht. Wie kam er auf so etwas? Warum dachte er solche Worte? Warum fühlte er … Jacob hätte ihm etwas gesagt. Er verspürte keinerlei Appetit mehr, aber ließ sie gewähren.

Seit Jahren nannten alle das Kraftwerk nur den Meiler. Wann hatte er es in der Zeitung gelesen? Dass man ihn ein paar Tage, wie sie es nannten, heruntergefahren hatte. Wegen Kontrollarbeiten. Der Vorgang bedeute keinerlei Gefahr für die Umwelt. Routinearbeiten.

Jesus’ blood never failed me yet, never failed me, Jesus’ blood …

Sie hatte angefangen Äpfel zu schälen und legte die Schnitze in ein Glasschälchen.

... never failed me yet, Jesus’ blood …

Sein Atem ging schwerer. Er bemerkte es erst, als er sah, dass sie dort stand und ihn beobachtete. Dann bedeutete sie ihm mit einer Handbewegung, dass er sich setzten könne.

„Einen Augenblick noch“, sagte er leise und musste sich wieder räuspern. „Eine Minute. Ich möchte nachsehen, ob man draußen etwas …“

Er ließ den Satz unvollendet. Dann ging er langsam an ihr vorbei, verließ die Küche und öffnete die Haustüre. Der Tag war gegangen. Grau, dunkel violett und fast schwarz lag die Heide dort draußen. Man erkannte nicht mehr viel. Nur die ersten Sterne waren zu sehen. Er setzte sich auf die Bank. Planta …, Plant – das Wort fiel ihm nicht mehr ein. Ihre Nichte hatte ihm einmal während eines Besuches erzählt, dass der Ginster vor langer Zeit das Wappen eines englischen Königsgeschlechts geziert hatte. Sie war ein gutes Mädchen. Klug und auf ihre Art und Weise sogar hübsch. Sie liebte ihre Nichte über alles. Waren die Schafe irgendwo da draußen? Hatte sie jemand gefunden? Würden sie morgen noch einmal losgehen, um sie zu suchen? Leise drang die um sich selber kreisende Musik aus dem Flur. Wieder und wieder. Immer dasselbe. Und doch jedes Mal ein klein wenig anders.

Ihr Schatten erschien unter dem Türrahmen. Sie zögerte einen Augenblick, trat hinaus und setzte sich neben ihn. Und dann legte sie ihm eine Postkarte auf sein Knie und ihre Hand darauf, gerade so viel, dass sie nicht hinunter fallen und er das Motiv erkennen konnte. Auch diese Karte hatte ihnen vor Jahren ihre Nichte geschickt. Sie hing, mit einer Nadel festgesteckt an der Seite des Tellerregals. Und er hatte nichts von dem vergessen, was auf der Rückseite stand: … ich habe ein Bild von euch gefunden! Nein, seid mir nicht böse, es ist nur ein kleiner Spaß. Ihr würdet niemals so traurig schauen. Eure Annie.

Und kleingedruckt, unten am Rand standen Wörter, die ihm nichts sagten. American Gothic/Grant Wood.

Ihre Hand lag noch immer auf seinem Bein.

Die Stimme im Radio hatte etwas erzählt.

Ruhig und ergriffen.

Die Musik hatte aufgehört.

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