Oliver Twist oder Der Werdegang eines Jungen aus dem Armenhaus

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Из серии: Reclam Taschenbuch
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»Sehr glücklich, Sir«, erwiderte Oliver. »Und wirklich sehr dankbar, Sir, weil Ihr so gut zu mir seid.«

»Braver Junge«, sagte Mr. Brownlow tapfer. »Habt Ihr ihm eine Stärkung verabreicht, Bedwin? Ein Süppchen vielleicht?«

»Sir, er hat gerade eine Schüssel schöner kräftiger Brühe bekommen«, entgegnete Mrs. Bedwin, wobei sie sich ein wenig aufrichtete und das vorletzte Wort mit Nachdruck betonte, um zu verstehen zu geben, dass zwischen einem Süppchen und einer gut zubereiteten Brühe keine wie auch immer geartete Verbindung oder Ähnlichkeit bestehe.

»Bah!«, entfuhr es Mr. Brownlow mit leichtem Schauder. »Ein paar Gläschen Portwein wären besser für ihn gewesen, nicht wahr, Tom White?«

»Ich heiße Oliver, Sir«, erwiderte der kleine Kranke mit erstauntem Blick.

»Oliver«, wiederholte Mr. Brownlow. »Oliver was? Oliver White?«

»Nein, Sir. Twist, Oliver Twist.«

»Seltsamer Name!«, meinte der alte Herr. »Warum hast du dem Polizeirichter gesagt, dein Name sei White?«

»Das habe ich nie gesagt, Sir!«, entgegnete Oliver verwundert.

Das klang so sehr nach einer Lüge, dass der alte Herr Oliver streng ins Gesicht sah. Es war jedoch unmöglich, an ihm zu zweifeln, denn aus jedem seiner etwas spitz gewordenen Züge sprach Wahrheit.

»Dann war’s wohl ein Irrtum«, sagte Mr. Brownlow. Und obwohl es keinen Grund mehr für ihn gab, den Jungen weiterhin anzuschauen, drängte sich ihm der Gedanke einer Ähnlichkeit zwischen Olivers Zügen und einem vertrauten Gesicht so stark auf, dass er seinen Blick nicht abzuwenden vermochte.

»Ich hoffe, Ihr seid nicht böse mit mir, Sir!«, sagte Oliver mit flehendem Augenaufschlag.

»Aber nein«, entgegnete der alte Herr. »Nanu! Was ist das? Bedwin, schaut einmal!«

Bei diesen Worten zeigte er aufgeregt zum Gemälde über Olivers Kopf und dann wieder auf das Gesicht des Jungen. Es war das leibhaftige Ebenbild. Die Augen, der Kopf, der Mund, jeder einzelne Zug war derselbe. Ihr Ausdruck stimmte in diesem Moment derart überein, dass noch die kleinste Linie mit erstaunlicher Sorgfalt nachgezeichnet schien.

Oliver erfuhr den Grund für diesen plötzlichen Ausruf nicht, denn da er noch nicht kräftig genug war, um den Schrecken, den er ihm einjagte, zu ertragen, wurde er ohnmächtig. Sein Schwächeanfall gibt der Erzählung die Gelegenheit, die Neugierde des Lesers zu befriedigen, was die beiden jungen Schützlinge des fröhlichen alten Herrn betrifft, und von ihnen zu berichten.

Als der Dodger und sein feiner Freund Meister Bates in das Zeter und Mordio einstimmten, das sich hinter Oliver erhob, weil sie sich – wie bereits geschildert – auf ungesetzliche Art und Weise den persönlichen Besitz von Mr. Brownlow angeeignet hatten, wurden sie von einer sehr löblichen und durchaus angebrachten Sorge um sich selbst ergriffen. Da die Unantastbarkeit der Person und die Freiheit des einzelnen zu den Dingen gehören, deren sich ein wahrer Engländer an erster Stelle und mit größtem Stolz rühmt, brauche ich den Leser nicht erst ausdrücklich darauf hinzuweisen, dass diese Tat dazu geschaffen ist, die Jungen in der Achtung aller guten Bürger und Patrioten steigen zu lassen, in fast genau demselben Maße, wie dieser nachhaltige Beweis der Sorge um ihre Sicherheit und Selbsterhaltung dazu dient, die kleine Sammlung von grundlegenden Gesetzen zu bekräftigen und zu bestätigen, die von gewissen tiefschürfenden Philosophen mit gutem Urteilsvermögen als Haupttriebfeder aller natürlichen Taten und Handlungen festgelegt wurde. Dabei reduzieren die besagten Philosophen das Vorgehen der gütigen Dame höchst weise auf eine Angelegenheit von Grundsätzen und Theorien, während sie als sehr nettes und hübsches Kompliment an ihre erhabene Weisheit und ihr Verständnis jegliche Erwägung von Herzensgüte, Großmut oder Gefühl gänzlich außer Acht lassen. Denn diese Dinge sind zutiefst unter der Würde eines Weibes, dem allgemein zugestanden wird, weit über den zahlreichen kleinen Fehlern und Schwächen ihres Geschlechtes zu stehen.

Bedürfte ich noch eines weiteren Beweises für die strikt philosophische Natur des Verhaltens dieser beiden jungen Herrn in ihrer misslichen Lage, fände ich ihn sofort in dem Umstand (ebenfalls in den vorigen Kapiteln nachzulesen), dass sie die Verfolgung abbrachen, sobald alle Aufmerksamkeit auf Oliver gerichtet war, und sich unverzüglich auf kürzestem Weg nach Hause begaben. Auch wenn ich nicht behaupten möchte, es sei die übliche Gewohnheit namhafter und gelehrter Weiser, den Weg zu einer gewichtigen Schlussfolgerung kurz zu halten – tatsächlich begeben sie sich eher auf Umwege, indem sie sich in holprigen Umschreibungen und Abschweifungen ergehen, ganz so, wie Betrunkene es unter dem Druck eines allzu großen Mitteilungsbedürfnisses gern zu tun pflegen –, so möchte ich dennoch behaupten, und zwar ganz entschieden, dass es die eingefleischte Gewohnheit vieler bedeutender Philosophen ist, bei der Darlegung ihrer Theorien große Weisheit und Voraussicht walten zu lassen, indem sie sich gegen jede erdenkliche Möglichkeit absichern, dass ihre Schlussfolgerungen in irgendeiner Weise auch für sie selbst gelten könnten. Also darf man im Kleinen Unrecht begehen, um im Großen Recht zu bewirken, und man darf jegliches Mittel anwenden, das der angestrebte Zweck letztlich heiligt, denn es bleibt allein dem betreffenden Philosophen überlassen, das Ausmaß des Rechts oder das Ausmaß des Unrechts oder gar die Unterscheidung von beiden durch eine klare, umfassende und unbestechliche Prüfung seines besonderen Falles zu bestimmen und festzulegen.

Erst nachdem die beiden Jungen in hohem Tempo durch ein verschlungenes Labyrinth enger Straßen und Gässchen gerannt waren, trauten sie sich in einem niedrigen, dunklen Torweg wie auf Verabredung anzuhalten. Hier blieben sie nur so lange still, bis sie wieder genug Atem zum Sprechen geschöpft hatten, als Meister Bates auch schon einen freudigen Schrei ausstieß, sich von einem unbändigen Lachanfall gepackt auf einen Türtritt warf und sich dort ganz entfesselt vor Heiterkeit herumwälzte.

»Was’n mit dir los?«, erkundigte sich der Dodger.

»Hahaha!«, brüllte Charley Bates.

»Mach nich so’n Lärm«, ermahnte ihn der Dodger und schaute sich wachsam um. »Willst wohl geschnappt werden, du Blödmann!«

»Ich kann nix dafür«, sagte Charley. »Ich kann nix dafür. Zu komisch, wie er stiften ging, um die Ecken fegte und gegen Pfähle knallte, sich wieder aufrappelte und weiterrannte, als sei er grad wie sie aus Eisen. Und ich immer schreiend hinter ihm her, die Rotzfahne in der Tasche … ach, herrje!« Die lebhafte Phantasie des Meister Bates malte ihm die Szene in den schönsten Farben aus, so dass er an dieser Stelle wieder auf dem Türtritt umherrollte und noch lauter lachte als zuvor.

»Was wird Fagin wohl sagen?«, wollte der Dodger wissen, der einen Augenblick der Atemlosigkeit seines Freundes nutzte, um diese Frage zu stellen.

»Was?«, fragte Charley Bates.

»Ja, was?«, wiederholte der Dodger.

»Na, was soll er schon sagen?«, entgegnete Charley Bates, dessen Fröhlichkeit mit einem Schlag verflogen war, da ihn das Benehmen des Dodgers beunruhigte. »Was soll er schon sagen?«

Mr. Dawkins pfiff eine ganze Weile vor sich hin, nahm dann seinen Hut ab, kratzte sich am Kopf und nickte dreimal.

»Was meinst du?«, fragte Charley.

»Lirum larum Löffelstiel, für zwei Penny gibt’s nich viel, reiche Leute essen Speck, arme Leute fressen Dreck«, erwiderte der Dodger mit einem leicht hämischen Grinsen auf seinem listigen Gesicht.

Das war zwar eine Antwort, erklärte aber nicht viel. So empfand es zumindest Charley Bates, der abermals fragte: »Was meinst du?«

Der Dodger sagte nichts weiter, sondern setzte sich den Hut wieder auf, raffte die langen Schöße seines Rocks unter den Arm, beulte mit der Zunge eine Wange aus, schlug sich sachte, aber vielsagend ein halbes Dutzend Mal auf den Nasenrücken, machte auf dem Absatz kehrt und stahl sich durch das Gässchen davon. Meister Bates folgte ihm mit nachdenklicher Miene.

Wenige Minuten, nachdem dieses Gespräch stattgefunden hatte, störte das Geräusch von Schritten auf den knarrenden Treppenstufen den fröhlichen alten Herrn auf, der mit einer Zervelatwurst und einem kleinen Laib Brot in der Linken, einem Taschenmesser in der Rechten und einem Zinnkrug auf dem Dreifuß neben sich am Feuer saß. Ein verschlagenes Lächeln lag auf seinem Gesicht, als er sich umdrehte, mit stechendem Blick unter den buschigen roten Augenbrauen hervorsah, sein Ohr Richtung Tür wandte und aufmerksam lauschte.

»Nanu, was ist das?«, raunte Fagin, und seine Miene verfinsterte sich. »Nur zwei? Wo ist der dritte? Sie werden doch keinen Ärger bekommen haben? Horch!«

Die Schritte kamen näher, erreichten den Treppenabsatz. Langsam ging die Tür auf, der Dodger und Charley Bates traten ein und schlossen sie hinter sich.

Dreizehntes Kapitel

Der verständige Leser wird mit einigen neuen Personen bekanntgemacht und erfährt dabei verschiedene erquickliche Dinge, die zu unserer Geschichte gehören.

»Wo ist Oliver?«, fragte der erzürnte Fagin, der sich drohenden Blicks erhob. »Wo ist der Knabe?«

Die jungen Diebe beäugten ihren Meister, als fürchteten sie seine Gewalt, und sahen einander voller Unbehagen an. Aber sie gaben keine Antwort.

»Was ist dem Jungen geschehen?«, fragte Fagin, packte den Dodger fest am Kragen und bedachte ihn mit schrecklichen Flüchen. »Rede endlich, oder ich erwürge dich!«

Mr. Fagin sah keineswegs aus, als würde er spaßen, so dass Charley Bates, dem es für alle Fälle klug erschien, auf der sicheren Seite zu sein, und der es durchaus nicht für unwahrscheinlich hielt, möglicherweise als nächster erdrosselt zu werden, auf die Knie fiel und einen lauten, lang anhaltenden Schrei ausstieß – irgendetwas zwischen tollwütigem Stier und Heulboje.

 

»Willst du wohl reden«, donnerte der alte Hehler und schüttelte den Dodger so heftig, dass es ein großes Wunder schien, warum dieser nicht aus seinem weiten Gehrock fiel.

»Na, die Greifer haben ihn geschnappt, das is alles«, sagte der Dodger störrisch. »Und jetzt lass mich endlich los!« Dabei wand er sich mit einem Ruck aus seinem weiten Gehrock heraus, der in den Händen des Alten hängenblieb. Dann schnappte sich der Dodger die Röstgabel und führte einen Stoß gegen die Weste des fröhlichen alten Herrn, der, hätte er getroffen, den Alten mehr Fröhlichkeit gekostet haben würde, als in ein oder zwei Monaten so ohne weiteres zu ersetzen gewesen wären.

Fagin sprang in seiner Not zurück, weitaus behender, als man es bei einem Mann von solch augenscheinlicher Hinfälligkeit erwartet hätte, griff den Krug und wollte ihn seinem Angreifer an den Kopf schleudern. Doch da in diesem Augenblick Charley Bates mit einem besonders grässlichen Geheul alle Aufmerksamkeit auf sich zog, änderte er plötzlich sein Ziel und warf den Krug mit voller Wucht nach diesem jungen Herrn.

»He, was zum Teufel is’n hier los?«, knurrte eine tiefe Stimme. »Wer schmeißt da nach mir? Zum Glück hab ich nur das Bier und nich den Krug abgekriegt, sonst hätt ich jetzt jemand vertrimmt. Hätt ich ja wissen könn, dass nur’n verfluchter, reicher, diebischer und verlogener alter Hehler sich leisten kann, auch’n andres Getränk als Wasser wegzuschütten, wo er obendrein seine Wasserrechnung eh nie bezahlt. Was soll das, Fagin? Gottverdammich, wenn mein Halstuch nich voller Bierflecken is! Komm schon, du elender Wurm, was bleibste denn da draußen, schämste dich vielleicht für deinen Herrn? Komm endlich rein!«

Der Mann, der diese Worte knurrte, war ein kräftig gebauter Bursche von ungefähr fünfunddreißig Jahren, der einen Gehrock aus schwarzem Baumwollsamt trug, dazu verdreckte graubraune Kniehosen, geschnürte Halbstiefel und graue Baumwollstrümpfe, in denen ein paar stämmige Beine mit dicken Waden steckten – die Sorte von Beinen, die in einem derartigen Aufzug immer so aussehen, als würde ihnen ohne die Zierde einer Garnitur Fußfesseln etwas fehlen. Auf dem Kopf trug er einen braunen Hut, und um den Hals ein schmutziges buntes Tuch, mit dessen langen ausgefransten Enden er sich beim Sprechen das Bier abwischte, woraufhin ein derbes, breites Gesicht samt Dreitagebart zum Vorschein kam, und zwei finster blickende Augen, von denen das eine durch bunt schillernde Farben verriet, dass es vor kurzem durch einen Hieb lädiert worden war.

»Komm rein, willste wohl hörn!«, knurrte dieser reizende Geselle.

Ein struppiger weißer Hund, der an wohl zwanzig verschiedenen Stellen an Kopf und Leib zerkratzt und zerschunden war, kam ins Zimmer geschlichen.

»Warum biste nich gleich gekommen?«, fragte der Mann. »Bist wohl zu stolz geworden, dich mit mir blicken zu lassen, was? Platz!«

Dieser Befehl wurde von einem Tritt begleitet, der das Tier ans andere Ende des Zimmers beförderte. Der Hund schien jedoch daran gewöhnt, denn er rollte sich ganz ruhig in einer Ecke zusammen, ohne einen Laut von sich zu geben. Er war anscheinend damit beschäftigt, das Zimmer zu begutachten, wobei er mit seinen entzündeten Augen etwa zwanzigmal in der Minute blinzelte.

»Was treibst du hier? Die Jungs piesacken, du lüsterner, habgieriger, un-er-sätt-li-cher alter Hehler?«, sagte der Mann und setzte sich gemächlich hin. »Ich frag mich, warum se dich nich umbringen. Ich würd’s an ihrer Stelle tun. Wär ich dein Lehrjunge, hätt ich’s schon längst getan, und … nee, hinterher verkaufen hätt ich dich gar nich können, denn du bist ja zu nix zu gebrauchen, außer um als hässliche Kuriosität in nem Einmachglas voll Spiritus aufbewahrt zu werden, und ich glaub, so große Einmachgläser gibs gar nich.«

»Pst! Seid doch still, Mr. Sikes!«, sagte Fagin zitternd. »Sprecht nicht so laut.«

»Hör bloß auf mit ›Mr. Sikes‹!«, erwiderte der Schurke. »Das bedeutet nie Gutes, wenn du damit kommst. Du weiß doch, wie ich heiße, also heraus damit! Ich werd meinem Namen schon keine Schande machen, wenn’s soweit is.«

»Schon gut, schon gut, also … Bill Sikes«, sagte Fagin mit erbärmlicher Unterwürfigkeit. »Du scheinst schlechte Laune zu haben, Bill.«

»Vielleicht«, entgegnete Sikes. »Man könnte jedoch denken, du wärst selbst ein wenig verstimmt, es sei denn, du meinst das Werfen von Zinnkrügen genauso wenig bös wie deine Ausplaudereien und …«

»Bis du verrückt!«, rief Fagin, packte den Mann am Ärmel und deutete auf die Jungen.

Mr. Sikes begnügte sich damit, unter seinem linken Ohr einen imaginären Knoten zu knüpfen und seinen Kopf mit einem Ruck auf die rechte Schulter fallen zu lassen, eine Pantomime, die Fagin voll und ganz zu verstehen schien. Dann verlangte er in Gaunersprache, mit der seine Rede reichlich gespickt war, jedoch unverständlich bliebe, wollten wir sie hier wiedergeben, ein Glas Schnaps.

»Und misch mir ja kein Gift rein«, sagte Mr. Sikes und legte seinen Hut auf den Tisch.

Das war im Scherz gesagt, doch hätte Sikes den scheelen Seitenblick gesehen, mit dem sich Fagin auf seine bleichen Lippen biss und zum Schrank umdrehte, würde er sich gedacht haben, dass durchaus Vorsicht geboten sein könnte, oder ihm wäre zumindest aufgefallen, dass der Wunsch, die Kunst des Schnapsbrenners noch ein wenig zu verfeinern, dem Herzen des fröhlichen alten Herrn zumindest nicht allzu fern lag.

Nachdem er zwei oder drei Glas Schnaps hinuntergekippt hatte, ließ sich Mr. Sikes dazu herab, von den jungen Herren Notiz zu nehmen. Diese gnädige Tat führte zu einer Unterredung, in deren Verlauf das Wie und Warum von Olivers Festnahme ausführlich und in allen Einzelheiten dargelegt wurden, mit so vielen Abänderungen und Verbesserungen, wie sie dem Dodger unter den gegebenen Umständen ratsam erschienen.

»Ich fürchte«, meinte Fagin, »er könnte etwas sagen, das uns in Schwierigkeiten bringt.«

»Höchstwahrscheinlich«, warf Sikes mit einem hämischen Grinsen ein, »hat er dich verpfiffen, Fagin.«

»Und wisst ihr, ich fürchte«, fuhr der alte Hehler fort, als habe er die Unterbrechung überhaupt nicht bemerkt und sah dabei den anderen scharf an, »ich fürchte, wenn das Spiel für uns aus ist, könnte es auch für viele andere aus sein, und es würde dich wohl schlimmer treffen als mich, mein Freund.«

Der Mann sprang auf und wandte sich wütend gegen den Alten. Aber Fagin hatte die Schultern bis zu den Ohren hochgezogen und starrte mit leerem Blick die gegenüberliegende Wand an.

Es trat ein langes Schweigen ein. Jedes Mitglied dieser ehrenwerten Gesellschaft schien in seine eigenen Gedanken versunken, sogar der Hund, der sich boshaft die Lefzen leckte und darauf aus schien, die Beine des erstbesten Menschen – Dame oder Herr –, dem er draußen auf der Straße begegnen würde, zu attackieren.

»Jemand muss rausfinden, was auf der Polizeiwache geschehen ist«, sagte Mr. Sikes viel leiser, als er seit seiner Ankunft gesprochen hatte.

Fagin nickte zustimmend.

»Wenn er nicht gesungen hat und verurteilt wurde, dann steht nichts zu befürchten, bis er wieder draußen ist«, sagte Mr. Sikes, »und dann muss man sich um ihn kümmern. Du musst ihn irgendwie in die Finger kriegen.«

Wieder nickte Fagin.

Die Klugheit dieser Vorgehensweise lag zwar auf der Hand, aber leider stand ihrer Ausführung ein schwerwiegendes Hindernis im Weg, denn der Dodger, Charley Bates, Fagin und Mr. William Sikes hegten zufällig alle miteinander einen unbändigen und tief verwurzelten Widerwillen dagegen, sich einer Polizeiwache zu nähern, aus welchem Grund oder unter welchem Vorwand auch immer.

Schwer zu sagen, wie lange sie wohl noch in diesem alles andere als angenehmen Zustand der Ungewissheit verharrt und einander angeschaut hätten. Doch ist es auch gar nicht notwendig, irgendwelche Vermutungen zu diesem Thema anzustellen, denn das plötzliche Eintreten der beiden jungen Damen, die Oliver bei früherer Gelegenheit kennengelernt hatte, brachte die Unterredung wieder neu in Gang.

»Das ist es!«, rief Fagin. »Bet wird gehen, nicht wahr, meine Liebe?«

»Wohin?«, erkundigte sich die junge Dame.

»Nur kurz auf die Wache, mein Schatz«, antwortete Fagin einschmeichelnd.

Man muss der jungen Dame lassen, dass sie nicht rundheraus erklärte, sie werde nichts dergleichen tun, sondern bloß klar und deutlich dem Wunsch Ausdruck gab, der Teufel solle sie holen, wenn sie es täte, der vorgetragenen Bitte also höflich und zartfühlend auswich, was zeigt, dass die junge Dame von Haus aus über eine gute Kinderstube verfügte, die es ihr nicht gestattete, Mitmenschen durch eine direkte und unverblümte Weigerung vor den Kopf zu stoßen.

Fagin machte ein langes Gesicht und wandte sich von dieser jungen Dame, die mit einem roten Kleid, grünen Stiefeln und gelben Haarschleifchen hübsch, um nicht zu sagen prächtig herausgeputzt war, an die andere Frau.

»Nancy, meine Beste«, sagte der alte Hehler in sanftem Ton, »wie steht es mit dir

»Da wird nichts draus, brauchst es gar nicht erst zu versuchen, Fagin«, erwiderte Nancy.

»Was soll das heißen?«, fragte Mr. Sikes und schaute verdrossen auf.

»Was ich gesagt habe, Bill«, antwortete die Dame mit ruhiger Stimme.

»Na, du wärst aber genau die Richtige dafür«, überlegte Mr. Sikes, »hier in der Gegend kennt dich keiner.«

»Und das soll auch so bleiben«, entgegnete Nancy ebenso gelassen wie zuvor, »es spricht mehr dagegen als dafür, Bill.«

»Sie wird gehen, Fagin«, sagte Sikes.

»Nein, wird sie nicht, Fagin«, sagte Nancy.

»Doch, sie wird«, sagte Sikes.

Und Mr. Sikes behielt recht. Durch Drohungen, die sich mit Versprechen und Bestechungen abwechselten, wurde die fragliche Dame schließlich dazu bewegt, diese Aufgabe zu übernehmen. Ihr standen natürlich auch nicht dieselben Bedenken im Wege wie ihrer liebenswürdigen Freundin, denn da sie erst kürzlich aus dem abgelegenen, aber vornehmen Vorort Ratcliffe in die Gegend von Field Lane gezogen war, lief sie nicht wie diese Gefahr, von einer ihrer zahlreichen Bekanntschaften entdeckt zu werden.

Also band sich Miss Nancy eine saubere weiße Schürze über ihr Kleid und verbarg die Haarschleifchen unter einer Strohhaube – beide Kleidungsstücke stammten aus den unerschöpflichen Vorräten des alten Hehlers – und bereitete sich auf ihren Ausflug vor.

»Halt, meine Liebe, einen Augenblick«, sagte Fagin und holte einen kleinen Deckelkorb hervor. »Nimm den in die Hand. Das sieht ehrbarer aus, meine Gute.«

»Gib ihr noch’n Schlüssel in die andre, Fagin«, warf Sikes ein, »dann wirkt’s noch orginialer.«

»Gute Idee, mein Bester«, sagte Fagin und hängte der jungen Dame einen großen Torschlüssel an den Zeigefinger der rechten Hand. »So, ausgezeichnet! Ganz ausgezeichnet sogar, mein Schatz«, meinte der alte Hehler händereibend.

»Oh, mein Bruder! Mein armer, kleiner, lieber, unschuldiger Bruder!«, rief Nancy, brach in Tränen aus und umklammerte im Schmerz der Verzweiflung das kleine Körbchen und den Schlüssel. »Was mag aus ihm geworden sein? Wohin mögen sie ihn gebracht haben? Oh, habt Erbarmen, ihr Herrn, und sagt mir, was mit ihm geschehen ist, ich bitt’ Euch, meine Herrn, seid so gütig!«

Nachdem sie diese Worte zum größten Entzücken ihres Publikums in höchst kläglichem und herzerweichendem Ton ausgesprochen hatte, hielt Miss Nancy inne, zwinkerte der Gesellschaft zu, nickte lächelnd in die Runde und verschwand.

»Ha, was für ein kluges Mädchen, meine Lieben«, sagte Fagin, wandte sich an seine jungen Freunde und schüttelte ernst den Kopf, als wolle er sie stumm ermahnen, dem leuchtenden Beispiel, das sie soeben zu sehen bekommen hatten, zu folgen.

»Sie ist eine Perle unter den Weibsbildern«, bemerkte Mr. Sikes, der sich ein Glas einschenkte und mit seiner riesigen Faust auf den Tisch schlug. »Auf ihr Wohl, wär’n sie doch alle wie Nancy!«

Während diese und viele andere Lobreden auf die vorzügliche Nancy gehalten wurden, hatte die junge Dame bereits den größten Teil ihres Weges zur Polizeiwache zurückgelegt, wo sie, ungeachtet eines verständlichen Anflugs von Ängstlichkeit, weil sie alleine und ohne Schutz durch die Straßen lief, kurz darauf völlig wohlbehalten eintraf.

Sie trat durch die Hintertür ein, klopfte mit dem Schlüssel sachte an eine Zellentür und horchte. Drinnen blieb es still, also hüstelte sie und horchte erneut. Noch immer keine Antwort, also fing sie zu sprechen an.

 

»Nolly, mein Liebster?«, wisperte Nancy mit leiser Stimme. »Nolly?«

Doch drinnen befand sich niemand außer einem elenden, barfüßigen Übeltäter, der eingelocht worden war, weil er Flöte gespielt hatte, und den, nachdem sein Verbrechen gegen die Gesellschaft eindeutig bewiesen worden war, Mr. Fang darum völlig zu Recht zu einem Monat Zuchthaus verurteilte, mit der ebenso passenden wie launigen Bemerkung, wenn er schon über so viel überschüssige Atemluft verfüge, sei es doch viel gesünder, sie in der Tretmühle als in ein Musikinstrument abzulassen. Der arme Kerl gab darauf keine Antwort, denn er war im Geiste ganz damit beschäftigt, den Verlust seiner Flöte zu beklagen, die zum Nutzen der Stadtverwaltung konfisziert worden war. Also ging Nancy zur nächsten Zelle und klopfte dort.

»Was is?«, ließ sich eine matte, schwache Stimme vernehmen.

»Ist dort drin ein kleiner Junge?«, erkundigte sich Nancy nach einem einleitenden Schluchzer.

»Nein«, erwiderte die Stimme, »Gott bewahre!«

Dies war ein Landstreicher von fünfundsechzig Jahren, der ins Gefängnis gewandert war, weil er nicht Flöte gespielt hatte, oder, mit anderen Worten, weil er auf der Straße gebettelt hatte, ohne für seinen Lebensunterhalt zu arbeiten. In der nächsten Zelle saß wiederum ein Mann, den man ins nämliche Gefängnis gesperrt hatte, weil er mit Kochtöpfen hausieren gegangen war, ohne eine behördliche Genehmigung dafür zu besitzen, also dem Gewerbeaufsichtsamt zum Trotz für seinen Lebensunterhalt arbeitete.

Aber da keiner dieser Verbrecher auf den Namen Oliver hörte oder etwas über ihn wusste, begab sich Nancy direkt zu dem gutmütigen Wachtmeister in der gestreiften Weste und fragte ihn unter mitleiderregendem Schluchzen und Klagen, das durch den gleichzeitigen Einsatz von Schlüssel und Körbchen in seiner Wirkung noch verstärkt wurde, nach ihrem geliebten Bruder.

»Hier ist er nicht, Teuerste«, sagte der alte Mann.

»Wo ist er dann?«, schrie Nancy verzweifelt.

»Na, dieser vornehme Herr hat ihn mitgenommen«, entgegnete der Wachtmeister.

»Welcher Herr? O mein Gott, welcher Herr?«, rief Nancy aus.

Als Antwort auf diese aufgeregten Fragen teilte der alte Mann der zutiefst beunruhigten Schwester mit, Oliver sei verletzt auf die Wache gebracht und entlassen worden, weil ein Zeuge ausgesagt habe, der Diebstahl sei von einem anderen, nicht in Haft befindlichen Jungen begangen worden, und der Kläger habe ihn in ohnmächtigem Zustand zu seinem eigenen Wohnsitz mitgenommen, von dem der Gewährsmann nur wusste, dass er sich irgendwo in Pentonville befand, jedenfalls meine er, das Wort gehört zu haben, als dem Kutscher das Fahrtziel genannt wurde.

In ihrem schrecklichen Zustand voller Bangen und Ungewissheit wankte die verzweifelte junge Frau zum Tor und kehrte dann, indem sie von ihrem strauchelnden Gang in einen sicheren, schnellen und steten Laufschritt wechselte, auf den gewundensten und verwirrendsten Wegen, die sie sich ausdenken konnte, zum Domizil des alten Hehlers zurück.

Kaum hatte Mr. Bill Sikes den Bericht über ihren Ausflug vernommen, als er auch schon seinen weißen Hund rief, sich den Hut aufsetzte und davoneilte, ohne irgendwelche Zeit mit der Förmlichkeit zu verschwenden, der Gesellschaft einen »Guten Morgen« zu wünschen.

»Wir müssen herausbekommen, wo er steckt, meine Lieben, wir müssen ihn finden«, rief Fagin in heller Aufregung. »Charley, du wirst dich so lange umhören, bis du mit Nachricht über ihn heimkommst! Nancy, Teuerste, ich muss ihn finden. Ich verlass mich voll und ganz auf dich, meine Liebe – auf dich und den Dodger! Wartet, wartet«, fuhr der alte Hehler fort und öffnete mit zittriger Hand eine Schublade. »Da habt ihr Geld, meine Freunde. Ich werde den Laden hier heute nacht dichtmachen. Ihr wisst, wo ich zu finden bin. Und nun bleibt keinen Augenblick länger, meine Lieben, fort mit euch!«

Mit diesen Worten schob er sie aus dem Zimmer, und nachdem er die Tür hinter ihnen doppelt verschlossen und verriegelt hatte, holte er aus dem Versteck das Kästchen hervor, welches Oliver aus Versehen zu Gesicht bekommen hatte. Dann verstaute er die Uhren und den Schmuck hastig in seinen Kleidern.

Ein Klopfen an der Tür schreckte ihn aus seiner Beschäftigung auf. »Wer ist da?«, rief er schrill.

»Ich bin’s!«, erwiderte die Stimme des Dodgers durchs Schlüsselloch.

»Was gibt’s?«, fragte Fagin unwirsch.

»Nancy will wissen, ob wir ihn in die andere Bude verschleppen soll’n«, sagte der Dodger.

»Ja«, erwiderte Fagin, »wann immer ihr ihn zu fassen kriegt. Findet ihn, schafft ihn herbei, das ist alles. Ich weiß schon, was dann zu tun ist, keine Angst.«

Der Junge murmelte, dass er verstanden habe, und eilte die Treppen hinab seinen Gefährten nach.

»Noch hat er nicht gesungen«, sagte Fagin und nahm seine vorherige Beschäftigung wieder auf. »Wenn er uns bei seinen neuen Freunden verpfeifen will, können wir ihm immer noch den Mund stopfen.«

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