Oliver Twist oder Der Werdegang eines Jungen aus dem Armenhaus

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Из серии: Reclam Taschenbuch
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Oliver überlegte gerade, ob er nicht besser fortlaufen solle, als sie das untere Ende der Saffron Hill erreichten. Sein Führer packte ihn am Arm, stieß die Tür eines Hauses nahe der Field Lane auf und schloss sie, nachdem er ihn in den Eingang gezogen hatte, hinter sich wieder zu.

»Nun, wie steht’s?«, rief eine Stimme von unten als Erwiderung auf einen Pfiff des Dodgers.

»Alles in Butter!«, war die Antwort.

Das schien irgendeine Losung oder ein Zeichen zu sein, dass alles in Ordnung war, denn am fernen Ende des Ganges glimmte an der Wand der schwache Widerschein einer Kerze auf, und das Gesicht eines Mannes lugte dort hervor, wo das Geländer der alten Küchentreppe weggebrochen war.

»Ihr seid zu zweit«, sagte der Mann, während er die Kerze weiter vor streckte und mit der Hand seine Augen beschattete. »Wer is’n der andere?«

»Ein neuer Kumpan«, erwiderte Jack Dawkins und zog Oliver voran.

»Wo kommt er her?«

»Aus Grünhausen. Is Fagin oben?«

»Ja, er sortiert die Rotzfahnen. Rauf mit euch!« Die Kerze wurde zurückgezogen, und das Gesicht verschwand.

Oliver, der sich mit einer Hand vorantastete, während sein Gefährte die andere fest im Griff hielt, kam nur mühsam die düstere und baufällige Treppe hinauf, die sein Führer mit einer Leichtigkeit und Schnelligkeit emporstieg, die verrieten, dass sie ihm wohlvertraut war. Dann stieß er die Tür zu einem Hinterzimmer auf und zog Oliver hinter sich hinein.

Wände und Decke des Zimmers waren vor Alter und Schmutz pechschwarz. Vor dem Feuer stand ein Tisch aus Kiefernholz, darauf befanden sich eine Ingwerbierflasche, in der eine Kerze steckte, zwei oder drei Zinnkrüge, ein Laib Brot, Butter und ein Teller. In einer Bratpfanne, die mit einer Schnur am Kaminsims befestigt war, brutzelten über dem Feuer ein paar Würstchen, und darüber gebeugt stand, mit einer Röstgabel in der Hand, ein sehr alter, runzliger Mann, dessen abstoßendes Schurkengesicht hinter einem Gewirr verfilzter roter Haare verschwand. Er war mit einem schmierigen Flanellgewand ohne Kragen bekleidet und schien seine Aufmerksamkeit zwischen der Bratpfanne und einem Wäscheständer, an dem eine große Anzahl seidener Schnupftücher hing, zu teilen. Mehrere aus groben alten Säcken bestehende Schlafstätten lagen am Boden kreuz und quer durcheinander, und um den Tisch herum saßen vier oder fünf Jungen, keiner älter als der Dodger, die mit dem Gebaren erwachsener Männer Tonpfeifen rauchten und Schnaps tranken. Sie drängten sich alle um ihren Kumpan, als dieser dem Alten einige Worte zuflüsterte, drehten sich dann zu Oliver um und grinsten ihn an, ebenso der Alte, die Röstgabel in der Hand.

»Das isser, Fagin«, sagte Jack Dawkins, »mein Freund Oliver Twist.«

Fagin grinste und nahm Oliver, wobei er sich tief vor ihm verbeugte, bei der Hand und gab der Hoffnung Ausdruck, die Ehre seiner näheren Bekanntschaft machen zu dürfen. Daraufhin umringten ihn die jungen Herren mit den Pfeifen und schüttelten ihm kräftig beide Hände, besonders jene, mit der er sein kleines Bündel hielt. Einer der jungen Herren war eifrig besorgt, die Mütze für ihn aufzuhängen, ein anderer so zuvorkommend, seine Hände in Olivers Taschen zu stecken, damit diesem, müde wie er war, die Mühe erspart bliebe, sie vor dem Zubettgehen eigenhändig auszuleeren. Diese Höflichkeiten wären wahrscheinlich noch viel weiter gediehen, hätte die Röstgabel des Alten nicht Köpfe und Schultern der fürsorglichen Jungen, die sich in ihnen ergingen, ausgiebig bearbeitet.

»Wir freuen uns, dich zu sehen, Oliver, sehr sogar«, sagte Fagin. »Dodger, kümmere dich um die Würstchen und rück für Oliver ein Fass ans Feuer. Aha, du staunst über die Schnupftücher, was, mein Lieber? Das sind ganz schön viele, nicht wahr? Wir haben sie gerade für die Wäsche bereitgelegt, das ist alles, Oliver, das ist alles. Hahaha!«

Der letzte Teil seiner Rede wurde von all den hoffnungsvollen Schützlingen des fröhlichen alten Herrn mit stürmischem Gejohle begrüßt, unter welchem sie sich nun an den Abendbrottisch begaben.

Oliver aß seinen Teil, dann bereitete der Alte ihm ein Glas mit verdünntem heißem Gin zu und forderte ihn auf, es in einem Zug zu leeren, da ein anderer der Herren das Glas benötige. Oliver tat, wie ihm geheißen. Er merkte noch, wie er gleich darauf sanft auf einen der Säcke gelegt wurde und sogleich in tiefen Schlaf versank.

Neuntes Kapitel

Enthält weitere Angaben über den netten alten Herrn und seine hoffnungsvollen Schützlinge.

Spät am nächsten Morgen erwachte Oliver aus einem tiefen, langen Schlaf. Im Zimmer befand sich niemand außer dem alten Fagin, der zum Frühstück in einer Kasserolle Kaffee kochte und leise vor sich hin pfiff, während er mit einem eisernen Löffel stetig umrührte. Ab und an, wenn von unten auch nur das leiseste Geräusch heraufdrang, hielt er inne, um zu horchen. Hatte er sich dann vergewissert, fuhr er mit Pfeifen und Rühren fort, ganz wie zuvor.

Obwohl Oliver nicht mehr schlief, war er doch nicht völlig wach. Es gibt einen solchen Zustand des Dösens, zwischen Schlafen und Wachen, in dem man mit halboffenen Augen und halb wahrnehmend, was um einen herum vorgeht, in fünf Minuten mehr träumt als in fünf Nächten mit fest geschlossenen Augen und Sinnen, die zu keinerlei Wahrnehmung fähig sind. Bei solchen Gelegenheiten erfährt ein Sterblicher gerade genug davon, was sein Geist treibt, um den Schimmer einer Vorstellung seiner gewaltigen Kräfte zu bekommen, davon, wie er sich von der Erde aufschwingt und Zeit und Raum überwindet, wenn er von den Fesseln seines Gefährten aus Fleisch und Blut befreit ist.

Genau dieser Zustand war es, in dem Oliver sich befand. Er sah den Alten mit halbgeschlossenen Augen, hörte sein leises Pfeifen und erkannte das Geräusch des Löffels, der am Rand der Kasserolle kratzte, und doch waren dieselben Sinne zur selben Zeit in Gedanken mit fast jedem beschäftigt, den er je gekannt hatte.

Als der Kaffee zubereitet war, zog Fagin die Kasserolle auf den Kaminvorsprung und wandte sich, nachdem er einige Momente in unschlüssiger Stellung verharrt hatte, als wisse er nicht so recht, was er tun solle, langsam um, betrachtete Oliver und rief ihn bei seinem Namen. Dieser antwortete nicht und schien allem Anschein nach zu schlafen.

Als er sich dessen vergewissert hatte, ging der Alte leise zur Tür, die er verriegelte. Dann holte er aus einer Klappe im Boden – so schien es Oliver – ein kleines Kästchen hervor, das er behutsam auf den Tisch stellte. Seine Augen leuchteten auf, als er den Deckel hob und hineinschaute. Er zog einen alten Stuhl an den Tisch, setzte sich und entnahm dem Kästchen eine prächtige goldene Taschenuhr, die vor Edelsteinen glitzerte.

»Ah!«, rief Fagin, zog die Schultern empor und verzerrte sämtliche Gesichtszüge zu einem schrecklichen Grinsen. »Schlaue Hunde! Schlaue Hunde! Treu bis zuletzt! Haben dem alten Pfaffen kein Versteck verraten! Haben den alten Fagin nicht verpfiffen! Warum sollten sie auch? Hätte sie weder vor dem Strick bewahrt noch die Falltür einen Augenblick später aufschwingen lassen. Nein, nein, nein! Brave Jungs! Brave Jungs!«

Unter diesen und anderen gemurmelten Bemerkungen ähnlicher Art verstaute Fagin die Uhr wieder an ihren sicheren Platz. Mindestens ein halbes Dutzend weitere wurden einzeln aus selbigem Kästchen geholt und mit dem gleichen Vergnügen eingehend betrachtet, außerdem Ringe, Broschen, Armreife und andere Preziosen, aus so kostbaren Materialien und von einer so vortrefflichen Machart, wie Oliver sie nie zuvor gesehen hatte oder auch nur dem Namen nach kannte.

Als er diese Dinge zurückgelegt hatte, holte der Alte ein anderes Schmuckstück hervor, so klein, dass es in seiner Hand Platz fand. Es schien eine winzige Inschrift zu tragen, denn der Alte legte es flach auf den Tisch, schirmte es mit seiner Hand ab und brütete lange und ernst darüber nach. Schließlich legte er das Stück beiseite, als zweifle er, dass es ihm noch gelingen könne, lehnte sich im Stuhl zurück und murmelte:

»Was für eine feine Sache die Todesstrafe doch ist! Tote können nicht mehr bereuen. Tote bringen keine hässlichen Geschichten ans Licht. Hach, das ist gut fürs Geschäft! Zu fünft hingen sie in einer Reihe, und keiner übrig, der auspacken oder umfallen könnte!«

Als Fagin diese Worte sprach, fielen seine glänzenden dunklen Augen, die ins Leere gestarrt hatten, auf Olivers Gesicht. Die Augen des Jungen waren in stummer Neugier auf die seinen gerichtet, und obwohl das Erkennen nur einen Lidschlag währte – den kürzesten Zeitraum, den man sich vorstellen kann –, reichte es aus, um dem alten Mann zu enthüllen, dass er beobachtet worden war. Mit einem lauten Knall schloss er den Deckel des Kästchens, griff ein Brotmesser, das auf dem Tisch lag, und sprang wütend auf. Gleichwohl war er zutiefst erschüttert, denn selbst in seinem Entsetzen konnte Oliver sehen, wie das Messer in der Luft zitterte.

»Was soll das?«, rief Fagin. »Was beobachtest du mich? Warum bist du wach? Was hast du gesehen? Rede, Junge! Los, los … sonst geht’s dir an den Kragen!«

»Ich konnte nicht länger schlafen, Sir«, erwiderte Oliver verschüchtert. »Verzeiht, wenn ich Euch gestört habe, Sir.«

»Warst du vor einer Stunde etwa auch schon wach?«, fragte Fagin und blickte den Jungen finster an.

»Nein … nein, ehrlich nicht«, antwortete Oliver.

»Bist du sicher?«, schrie Fagin, der noch finsterer blickte als zuvor und eine bedrohliche Haltung einnahm.

»Auf mein Wort, Sir«, antwortete Oliver ernst. »Ich war wirklich nicht wach, Sir.«

»Ruhig, mein Kleiner, ruhig!«, sagte Fagin, der jäh in sein altes Benehmen fiel und ein wenig mit dem Messer herumspielte, bevor er es weglegte, als wolle er glauben machen, er habe es nur zum Scherz ergriffen. »Das wusste ich natürlich, mein Lieber. Ich wollte dir bloß Angst machen. Bist ein tapferer Junge, Oliver. Haha, ein tapferes Kerlchen!« Kichernd rieb Fagin sich die Hände, schaute aber dennoch voller Unbehagen auf das Kästchen.

 

»Hast du diese hübschen Dinge gesehen, mein Kleiner?«, fragte Fagin nach einer Weile und legte seine Hand auf das Kästchen.

»Ja, Sir«, erwiderte Oliver.

»Ha!«, entfuhr es dem Alten, der bleich wurde. »Das … das gehört alles mir, Oliver, mein kleiner Notgroschen, von dem ich leben muss, wenn ich alt bin. Die Leute schimpfen mich einen Geizkragen, mein Kleiner – bloß ein alter Geizkragen, das ist alles.«

Oliver dachte, der alte Herr müsse sogar ein ausgemachter Geizkragen sein, da er trotz der vielen Uhren an einem so erbärmlichen Ort lebte, doch vielleicht, so kam es ihm in den Sinn, koste ihn seine fürsorgliche Zuneigung für den Dodger und die anderen Jungen ein gutes Stück Geld, also schaute er den Alten nur ehrerbietig an und fragte, ob er aufstehen dürfe.

»Gewiss doch, mein Guter, gewiss«, entgegnete der alte Herr. »Halt. Da in der Ecke bei der Tür steht ein Krug mit Wasser. Hol ihn her, dann gebe ich dir eine Waschschüssel, mein Lieber.«

Oliver stand auf, durchquerte das Zimmer und bückte sich kurz, um den Krug hochzuheben. Als er sich wieder umwandte, war das Kästchen verschwunden.

Kaum hatte er sich gewaschen, alles wieder gesäubert und den Zuber auf Anweisung Fagins zum Fenster hinaus entleert, als auch schon der Dodger zurückkehrte, in Begleitung eines munteren jungen Freundes, den Oliver die Nacht zuvor unter den Rauchern gesehen hatte und der ihm jetzt in aller Form als Charley Bates vorgestellt wurde. Die vier setzten sich mit dem Kaffee und ein paar warmen Brötchen und Schinken, die der Dodger in seinem Hut heimgebracht hatte, zum Frühstück nieder.

»Nun«, sagte Fagin zum Dodger, während er listig zu Oliver hinüberlinste, »ich hoffe, ihr habt heute morgen schon gearbeitet, meine Lieben?«

»Sogar hart«, erwiderte der Dodger.

»Eisenhart«, fügte Charley Bates hinzu.

»Brave Jungs, brave Jungs!«, rief Fagin. »Und was hast du mitgebracht, Dodger?«

»Zwei Brieftaschen«, gab der junge Herr zur Antwort.

»Gefüttert?«, erkundigte sich der Alte begierig.

»Ganz ordentlich«, entgegnete der Dodger und holte zwei Brieftaschen hervor, die eine grün, die andere rot.

»Nicht so dick, wie sie sein könnten«, bemerkte Fagin, nachdem er ihr Inneres sorgfältig inspiziert hatte, »aber sehr hübsch und gut gearbeitet. Ist er nicht ein geschickter Handwerker, Oliver?«

»Ja, Sir, in der Tat«, antwortete Oliver, worauf Mr. Charley Bates schallend auflachte, zum großen Erstaunen Olivers, der an dem, was vorgegangen war, nichts zum Lachen finden konnte.

»Und was hast du, mein Bester?«, fragte Fagin Charley Bates.

»Rotzfahnen«, entgegnete Meister Bates, wobei er vier Schnupftücher hervorzog.

»Sehr schön«, sagte Fagin und nahm sie näher in Augenschein, »gute Qualität, sehr gute sogar. Doch hast du das Monogramm nicht schön eingestickt, Charley, also wollen wir es mit einer Nadel entfernen und Oliver zeigen, wie man das macht. Sollen wir, Oliver? Hahaha!«

»Wenn Ihr meint, Sir«, sagte Oliver.

»Möchtest du nicht auch so einfach Schnupftücher herstellen können wie Charley Bates, mein Lieber?«, fragte Fagin.

»Sehr gern sogar, wenn Ihr es mir beibringen wollt, Sir«, antwortete Oliver.

Meister Bates fand diese Antwort derart belustigend, dass er erneut in Gelächter ausbrach, ein Gelächter, das dem Schluck Kaffee, den er gerade trank, in die Quere kam und den falschen Hals hinabbeförderte, was beinahe mit dem vorzeitigen Erstickungstod des Jungen geendet hätte.

»Er ist so herrlich grün!«, sagte Charley, als er sich erholt hatte, um sich bei der Gesellschaft für sein unhöfliches Benehmen zu entschuldigen.

Der Dodger sagte nichts, sondern strich Oliver das Haar in die Stirn und meinte, schon bald würde er alles besser verstehen, worauf der alte Herr, der sah, wie Oliver rot wurde, das Thema wechselte, indem er fragte, ob der Hinrichtung an diesem Morgen eine große Menschenmenge beigewohnt habe. Das verwirrte Oliver nur noch mehr, denn die Antworten der zwei Jungen ließen erkennen, dass beide vor Ort gewesen waren, und Oliver wunderte sich natürlich, wie sie da noch Zeit finden konnten, so fleißig zu arbeiten.

Als das Frühstück abgeräumt war, spielten der fröhliche alte Herr und die beiden Jungen ein höchst seltsames und ungewöhnliches Spiel, das so vor sich ging: Der fröhliche alte Herr steckte eine Schnupftabakdose in die eine Hosentasche und eine Brieftasche in die andere, eine Uhr, die ihm an einer Kette um den Hals hing, in die Westentasche und eine unechte Diamantennadel ans Hemd, dann knöpfte er seinen Rock fest zu, füllte dessen Taschen mit Brillenetui und Schnupftuch und spazierte daraufhin mit einem Stock im Zimmer auf und ab, ganz so, wie die alten Gentlemen, die man zu jeder Tageszeit durch die Straßen gehen sieht. Mal blieb er am Kamin stehen, mal an der Tür, und tat so, als würde er aufmerksam Schaufenster betrachten. Bei solchen Gelegenheiten schaute er sich aus Furcht vor Dieben ständig nach allen Seiten um und klopfte reihum alle Taschen ab, um zu prüfen, ob auch nichts verlorengegangen sei, und alles wirkte so natürlich und komisch, dass Oliver lachte, bis ihm die Tränen übers Gesicht liefen. Die ganze Zeit folgten die beiden Jungen dem alten Herrn auf Schritt und Tritt und wichen jedesmal, wenn er sich umwandte, seinem Blick so geschwind aus, dass man ihren Bewegungen nicht zu folgen vermochte. Schließlich trat ihm dann der Dodger auf die Zehen oder stieß ihm wie zufällig gegen die Stiefel, während Charley Bates ihn von hinten anrempelte, und in diesem Augenblick entwendeten sie ihm mit bemerkenswerter Flinkheit Schnupftabakdose, Brieftasche, Uhr samt Kette, Anstecknadel, Schnupftuch und sogar das Brillenetui. Spürte der alte Herr in irgendeiner Tasche eine Hand, rief er, in welcher sie sich befand, und dann begann das Spiel von neuem.

Als dieses Spiel viele Male wiederholt worden war, kamen zwei junge Damen, um die jungen Herren zu besuchen, die eine hieß Bet, die andere Nancy. Sie trugen ihr Haar, das nicht allzu ordentlich hinten hochgesteckt war, ziemlich lang, und ihre Schuhe und Strümpfe wirkten ein wenig ungepflegt. Sie waren vielleicht nicht eigentlich hübsch, hatten jedoch viel Farbe im Gesicht und sahen drall und munter aus. Da sie von ungezwungenem und liebenswürdigem Benehmen waren, hielt Oliver sie für ausgesprochen nette Mädchen. Und das waren sie zweifellos auch.

Der Besuch blieb eine ganze Weile. Infolge der Klage einer der jungen Damen, ihr würde innerlich frösteln, kamen Spirituosen auf den Tisch, worauf die Unterhaltung eine lebhafte und fröhliche Wendung nahm. Schließlich gab Charley Bates seiner Meinung Ausdruck, es sei Zeit, in die Hufe zu kommen. Das, so vermutete Oliver, müsse wohl Französisch für »ausgehen« sein, denn gleich darauf brachen der Dodger und Charley mit den beiden jungen Damen auf, wobei sie vom liebenswerten alten Herrn noch mit einem Taschengeld versehen wurden.

»Na, mein Lieber«, sagte Fagin, »das ist ein herrliches Leben, was? Den Rest des Tages haben sie frei.«

»Ist ihre Arbeit denn schon getan, Sir?«, erkundigte sich Oliver.

»Ja«, erwiderte der Alte, »es sei denn, ihnen läuft draußen zufällig welche über den Weg, dann werden sie sich die Gelegenheit nicht entgehen lassen, mein Bester, darauf kannst du dich verlassen. Nimm sie dir zum Vorbild, mein Junge, nimm sie dir zum Vorbild«, sagte Fagin und klopfte mit dem Schürhaken auf den Herd, um seinen Worten Nachdruck zu verleihen. »Tu alles, was sie dir auftragen, und befolge in allen Dingen ihren Rat, besonders den des Dodgers, mein Liebling. Er wird es einmal zu etwas bringen und auch dir dazu verhelfen, wenn du seinem Beispiel folgst. Hängt mir da etwa mein Schnupftuch aus der Tasche, mein Junge?«, fragte Fagin, plötzlich innehaltend.

»Ja, Sir«, antwortete Oliver.

»Versuche, es herauszuziehen, ohne dass ich es merke. So wie du es heute morgen bei unserem Spiel gesehen hast.«

Oliver hielt mit einer Hand die Tasche unten fest, so wie er es beim Dodger beobachtet hatte, und zog mit der anderen sachte das Schnupftuch heraus.

»Hast du’s?«, fragte Fagin.

»Hier ist es, Sir«, sagte Oliver und hielt es ihm hin.

»Du bist ein cleveres Kerlchen«, sagte der alte Herr launig und tätschelte Oliver lobend den Kopf. »Noch nie habe ich einen geschickteren Burschen gesehen. Hier hast du einen Shilling. Wenn du so weitermachst, wirst du es von allen am weitesten bringen. Und jetzt komm, ich werde dir zeigen, wie man die Monogramme aus den Schnupftüchern entfernt.«

Oliver fragte sich verwundert, was seine Aussicht, es weit zu bringen, damit zu tun hatte, einem alten Herrn im Spiel die Taschen zu leeren. Aber mit dem Gedanken, Fagin, der ja so viel älter war als er, müsse es wohl am besten wissen, folgte er ihm wortlos zum Tisch und war schon bald emsig mit seiner neuen Arbeit beschäftigt.

Zehntes Kapitel

Oliver macht nähere Bekanntschaft mit dem Charakter seiner neuen Gefährten und sammelt zu hohem Preis neue Erfahrungen. Ein kurzes, aber äußerst wichtiges Kapitel dieser Geschichte.

Viele Tage lang blieb Oliver im Zimmer des fröhlichen alten Herrn, entfernte die Monogramme aus den Schnupftüchern (die in großer Zahl ins Haus gebracht wurden) und nahm manchmal am schon beschriebenen Spiel teil, das die beiden Jungen und Fagin jeden Morgen regelmäßig aufführten. Schließlich begann er sich nach frischer Luft zu sehnen und nutzte viele Gelegenheiten, um Fagin eindringlich um Erlaubnis zu ersuchen, ihn mit seinen beiden Gefährten zur Arbeit hinausgehen zu lassen.

Oliver war umso erpichter darauf, sich betätigen zu dürfen, weil er gesehen hatte, von welch unbeugsamer Moral der Charakter des alten Herrn war. Wann immer der Dodger oder Charley Bates abends mit leeren Händen nach Hause kamen, verbreitete er sich ausgiebig und leidenschaftlich über die Schande von Faulheit und Müßiggang und bleute ihnen die Notwendigkeit eines tätigen Lebens ein, indem er sie ohne Abendbrot zu Bett schickte. Einmal ging er sogar so weit, beide die Treppe hinabzuprügeln, aber für gewöhnlich nahmen seine Lektionen in Tugend keine derartigen Ausmaße an.

Eines Morgens erhielt Oliver dann endlich die Erlaubnis, die er so herbeigesehnt hatte. Schon seit zwei oder drei Tagen gab es keine Schnupftücher mehr, die zu bearbeiten waren, und die Mahlzeiten fielen recht kärglich aus. Vielleicht waren das die Beweggründe des alten Herrn, seine Einwilligung zu geben, doch wie dem auch sei, er sagte Oliver, er dürfe ausgehen, und stellte ihn unter die gemeinsame Aufsicht des Dodgers und seines Freundes Charley Bates.

So zogen die drei Jungen los. Der Dodger hatte wie immer die Ärmel seines Gehrocks aufgekrempelt und den Hut schief auf dem Kopf sitzen, Meister Bates schlenderte mit den Händen in den Taschen dahin, und zwischen ihnen Oliver, der sich fragte, wohin sie wohl gingen und in welcher Art von Handwerk man ihn als erstes unterweisen werde.

Sie trotteten so gemächlichen und saumseligen Schrittes daher, dass Oliver schon bald vermutete, seine Gefährten wollten den alten Herrn betrügen und sich überhaupt nicht zur Arbeit begeben. Zudem besaß der Dodger die boshafte Neigung, kleinen Jungen die Mütze vom Kopf zu reißen und in Kellerschächte zu werfen, während Charley Bates einen sehr weit gefassten Begriff von Eigentum an den Tag legte, indem er mehrere Äpfel und Zwiebeln von den Ständen am Bordstein stibitzte und sich in die Taschen stopfte, die so erstaunlich geräumig waren, dass sie seine ganze Kleidung in sämtlichen Richtungen zu durchziehen schienen. All diese Dinge wirkten so verderbt, dass Oliver gerade seine Absicht, sich auf eigene Faust auf den Rückweg zu begeben, kundtun wollte, als seine Gedanken plötzlich durch eine rätselhafte Änderung im Verhalten des Dodgers in eine andere Richtung gelenkt wurden.

Sie traten gerade aus einem engen Gässchen unweit des offenen Platzes in Clerkenwell, der in seltsamer Verkehrung der Tatsachen The Green genannt wird, als der Dodger abrupt stehenblieb, den Finger an die Lippen legte und seine Kumpane ganz vorsichtig und behutsam wieder zurückzog.

 

»Was ist los?«, erkundigte sich Oliver.

»Pssst!«, machte der Dodger. »Siehst du diesen alten Knilch an der Bücherbude?«

»Den alten Herrn dort drüben?«, fragte Oliver. »Ja, den sehe ich.«

»Den werd’n wir rupfen«, sagte der Dodger.

»Wie’n Federvieh«, bemerkte Meister Charley Bates.

Oliver blickte bass erstaunt von einem zum anderen, erhielt aber keine Gelegenheit, irgendwelche Fragen zu stellen, denn die zwei Jungen schlichen verstohlen über die Straße, bis dicht hinter den alten Herrn, auf den seine Aufmerksamkeit gelenkt worden war. Oliver folgte ihnen ein paar Schritte und blieb dann, unschlüssig, ob er nähertreten oder sich zurückziehen sollte, in stummer Verwunderung stehen.

Der alte Herr war von sehr achtbarer Erscheinung, mit gepudertem Haar und goldener Brille. Er war in einen dunkelgrünen Gehrock mit schwarzem Samtkragen gekleidet, trug weiße Hosen und unter dem Arm ein elegantes Bambusstöckchen. Er hatte ein Buch von der Auslage genommen und stand nun so eifrig lesend da, als säße er in seinem Arbeitszimmer im Lehnstuhl. Sehr gut möglich, dass er sich tatsächlich dort wähnte, denn seine Versunkenheit verriet deutlich, dass er weder Bücherbude noch Straße, noch die Jungen sah, kurz gesagt, nichts außer dem Buch, welches er in einem Zuge durchlas. Sobald er das Ende einer Seite erreichte, blätterte er um und fuhr auf der nächsten Seite mit der obersten Zeile fort, und so las er aufmerksam und begierig immer weiter.

Welch Schrecken und Entsetzen überkamen Oliver, der ein paar Schritte entfernt stand, die Augen sperrangelweit aufgerissen, als er sah, wie die Hand des Dodgers in die Tasche des alten Herrn schlüpfte und ein Schnupftuch daraus hervorzog! Als er sah, wie der Dodger selbiges an Charley Bates weiterreichte, und als er schließlich sah, wie beide in vollem Lauf um die Ecke wegliefen!

Mit einem Schlag offenbarte sich dem Jungen das ganze Geheimnis um Schnupftücher, Uhren, Juwelen und den alten Fagin. Einen Moment lang stand er da, während ihm vor Grausen das Blut wie Feuer durch seine Adern pulsierte, so dass er zu brennen meinte, dann nahm er verwirrt und erschrocken die Beine in die Hand, und ohne zu wissen, was er tat, rannte er davon, so schnell ihn seine Füße trugen.

All das geschah innerhalb weniger Augenblicke. Genau in dem Moment, als Oliver zu laufen begann, griff sich der alte Herr mit der Hand an die Tasche, vermisste das Schnupftuch und drehte sich rasch um. Als er den Jungen so geschwind davonstürmen sah, hielt er ihn natürlich für den Langfinger und setzte ihm mit dem Buch in der Hand nach, wobei er aus vollem Halse »Haltet den Dieb!« rief.

Aber der alte Herr war nicht der einzige, der Zeter und Mordio schrie. Der Dodger und Meister Bates waren, da sie kein öffentliches Aufsehen erregen wollten, nicht durch die belebten Straßen geflohen, sondern hatten sich bloß um die Ecke in den erstbesten Torweg gedrückt. Sobald sie den Ruf vernahmen und Oliver wegrennen sahen, errieten sie genau, wie die Dinge standen, kamen unverzüglich hervor und schlossen sich wie ehrbare Bürger der Verfolgung an, wobei auch sie »Haltet den Dieb!« schrien.

Obwohl von lebensklugen Menschen erzogen, fehlte Oliver die theoretische Kenntnis des schönen Grundsatzes, dass Selbsterhaltung oberstes Gebot der Natur ist. Ansonsten wäre er vielleicht auf die Lage vorbereitet gewesen. Gänzlich unvorbereitet erschreckte sie ihn umso mehr, weshalb er wie der Wind davonlief, den alten Herrn und die beiden Jungen schreiend und brüllend auf seinen Fersen.

»Haltet den Dieb! Haltet den Dieb!« Diese Worte bergen Zauberkraft: Der Kaufmann lässt die Ladentheke in Stich, der Fuhrmann den Karren, der Schlachter das Messer, der Bäcker den Korb, der Milchmann die Kannen, der Laufbursche das Päckchen, der Schuljunge die Murmeln, der Pflasterer die Spitzhacke und das Kind seinen Federballschläger. Da stürmen sie hin, Hals über Kopf, holterdiepolter, hopplahopp, rasend, schreiend und brüllend, biegen um die Ecke, stoßen Spaziergänger um, scheuchen Hunde auf und verschrecken das Federvieh, Straßen, Plätze und Höfe hallen wider von ihrem Ruf.

»Haltet den Dieb! Haltet den Dieb!« Der Ruf wird von hundert Stimmen aufgenommen, und an jeder Ecke schwillt die Menge an. So fliegen sie dahin, spritzen durch den Matsch, trampeln übers Pflaster, Fenster schwingen auf, Leute stürzen heraus, weiter tobt der Mob, reißt mitten in der Vorstellung das gesamte Publikum eines Straßentheaters mit, das sich der hetzenden Meute anschließt, das Gebrüll verstärkt und dem Ruf neue Kraft verleiht: »Haltet den Dieb! Haltet den Dieb!«

»Haltet den Dieb! Haltet den Dieb!« Tief in des Menschen Brust wurzelt die Leidenschaft, irgendetwas zu jagen. Ein elendes, atemloses Kind, vor Erschöpfung keuchend, Entsetzen im Blick, Todesangst in den Augen, dicke Schweißtropfen rinnen über sein Gesicht, jeder Nerv gespannt, um den Verfolgern zu entkommen, und wie sie ihm im Nacken sitzen und jeden Augenblick näher kommen, bejubeln sie seine schwindenden Kräfte mit noch lauteren Rufen, sie schreien und johlen vor Freude. »Haltet den Dieb!« Ja, haltet ihn um Gottes willen, und sei es allein aus Barmherzigkeit!

Endlich zum Halten gebracht. Ein geschickter Hieb. Er liegt auf dem Pflaster, und die Menge drängt sich um ihn, jeder Neuankömmling schubst und stößt die anderen, um einen Blick erhaschen zu können. »Tretet beiseite!« – »Lasst ihm etwas Luft!« – »Ach was, das hat er nicht verdient.« – »Wo ist der Herr?« – »Da kommt er die Straße herab!« – »Macht Platz für den Herrn!« – »Ist das der Junge, Sir?« – »Ja.«

Oliver lag mit Schmutz und Staub bedeckt und aus dem Mund blutend da und blickte wirr auf all die Gesichter um ihn herum, als der alte Herr von den eifrigsten Verfolgern beflissen in den Kreis gezogen und geschoben wurde.

»Ja«, sagte der Herr, »ich fürchte, er ist es.«

»Er fürchtet!«, raunte die Menge. »Der is vielleicht gut.«

»Armer Kerl!«, rief der Herr. »Er hat sich verletzt.«

»Das war ich, Sir«, meldete sich ein grobschlächtiger Kerl und trat vor. »Hab mir an seinem Maul ganz schön die Knöchel ramponiert. Ich hab ihn aufgehalten, Sir.«

Der Bursche tippte sich mit einem Grinsen an den Hut, als erwarte er etwas für seine Mühen, doch der alte Herr, der ihn mit einem Ausdruck des Missfallens beäugte, schaute unbehaglich in die Runde, als gedächte er, selber davonzulaufen. Sehr wahrscheinlich hätte er es auch versucht und damit eine weitere Jagd ausgelöst, wäre in diesem Augenblick nicht ein Polizist (der bei solchen Gelegenheiten für gewöhnlich als letzter eintrifft) aufgetaucht, der sich den Weg durch die Menge bahnte und Oliver am Kragen packte.

»Los, aufstehen«, herrschte ihn der Mann an.

»Ich war’s nicht, Sir! Ehrlich nicht, es waren zwei andere Jungen«, sagte Oliver, der flehentlich mit den Händen rang und sich umschaute. »Sie müssen hier irgendwo sein.«

»Nein, sind sie nicht«, erwiderte der Polizist. Er meinte es zwar ironisch, dennoch entsprach es der Wahrheit, denn der Dodger und Charley Bates hatten sich durchs nächste Gässchen, das sich anbot, verdrückt. »Los, steh auf!«

»Tut ihm nicht weh«, bat der alte Herr voller Mitleid.

»Oh nein, ich werd ihm schon nicht weh tun«, antwortete der Polizist und riss Oliver wie zum Beweis die Jacke halb vom Leib. »Los, stell dich bloß nicht so an, ich kenn dich doch. Willst du wohl aufstehen, du kleiner Satansbraten?«

Oliver, der sich kaum auf den Beinen halten konnte, unternahm einen Versuch, sich zu erheben und wurde sofort am Kragen schnellen Schrittes durch die Straßen geschleift. Der Herr begleitete ihn an der Seite des Polizisten, und so viele von der Menge, wie zu dieser Heldentat fähig waren, trabten ein Stückchen vorneweg und schauten sich immer wieder nach Oliver um. Die Straßenjungen stießen ein Triumphgeheul aus, und so zogen sie dahin.

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