Märchen vom Stadtschreiber, der aufs Land flog

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Märchen vom Stadtschreiber, der aufs Land flog
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Hans Fallada   MÄRCHEN VOM STADTSCHREIBER, DER AUFS LAND FLOG




Würzt die Wasser, würzt die Weine,

Ja, würzt selbst noch die Gewürze,

Daß der Punch auch würzig sei!




Vorrede des verlegenen Verfassers



Der Verfasser weiß auch nicht, was er zur Entschuldigung der närrischen Mär, die er da seinen Lesern vorlegt, sagen darf. Harmlos saß er schreibend über einem Büchlein, das mancherlei Geschichten aus seinem geliebten Landleben bringen sollte. Die Mär vom Stadtschreiber war eine von ihnen, für nicht mehr als zehn oder fünfzehn Druckseiten geplant – und sie sollte von der Winterarbeit des Landmannes berichten, wovon der Leser noch hie und da im Anfang Spuren findet. Aber unversehens schwoll sie dem Autor unter der Feder, ein Einfall lockte den anderen herbei, und hatte er sich anfangs noch zur Wehr gesetzt und verzweifelt gerufen: »Was mag dies werden?!« so ergab er sich schließlich in sein Schicksal und ließ die Feder laufen, wie sie wollte. So ist denn, ganz ohne seinen Willen, diese Zaubergeschichte aus dunklen Mächten und Liebe entstanden, und wenn recht sichtbarlich der große Ernst Theodor Amadeus Hoffmann bei ihr Pate gestanden hat, so bittet der Autor herzlich, das nicht als eine Anmaßung nehmen zu wollen, sondern als den Gruß des Schülers an seinen Meister, dessen Genie auch in unseren Tagen recht lebendig glüht und funkelt. Einzige Entschuldigung des Verfassers: er hat mit großer Freude dies Büchlein geschrieben, und da er stets die Erfahrung machte, daß das, was ihn zu schreiben freute, auch das Publikum zu lesen freute – so gibt er’s denn heraus. Fliege also zu, mein graurockiger Spatzenvogel, piepe dein anspruchsloses Lied und komme mir, ich rate dir gut!, nicht zum zweiten Mal ins Haus oder unter die Feder. Es möchte Dir sonst noch schlimmer ergehen als dem Spatzen, der in der Kammer des Schreibers Guntram Gastfreundschaft suchte und sie so schnöde mißbrauchte!



Carwitz, Oktober 1935

H. F.




Erstes Kapitel



»Hört, Landbewohner, all mir zu!«

J. F. Cooper, DER LOTSE



Vor vielen Jahren lebte in einer großen Stadt ein junger Mann, der auf der Geschäftsstube eines Ratsherrn, genannt Asio, Schreiberdienste zu verrichten hatte. Von morgens bis in den späten Abend hinein saß er an seinem Tisch, sich gegenüber einen anderen, aber älteren Schreiber, namens Bubo, und schrieb fleißig ab, was ihm sein Herr an Verträgen, Urkunden, Regressen, Akten auf den Platz gelegt. Wenn er die Hand mit der Feder zum Tintenfasse führte, begegnete sie wohl der Hand des Schreibgefährten drüben, und wenn er dann unwillkürlich den Blick hinüberrichtete, sah er das gesenkte Auge des anderen, das schon die nächste Zeile der Vorlage im voraus las, und um so emsiger kehrte er, wie ein ertappter Faulmann, zum eigenen Schreibwerk zurück. Aber wie eifrig er sich auch mühte, nie war der Berg der Aufgaben vor ihm ganz abzutragen, und meinte er den einen Abend, heute habe er es aber gut gemacht und morgen sei Arbeit ein gar rarer Artikel, so hatte den Ratsherrn über Nacht gerade das Zipperlein geplagt, und er hatte in seiner Schlaflosigkeit so vieles aus Schränken und Mappen hervorgekramt, daß am Morgen der Berg höher lag denn je. Darüber wurde das Schreiberlein fast trübsinnig, und wenn er dann gar in das ernste, graue Gesicht seines Gegenüber sah, in dessen Falten sich der Aktenstaub vieler Jahre niedergesetzt zu haben schien – wenn er sich dann so recht lebhaft vorstellte, daß er in zehn oder zwanzig Jahren auch so ernsthaft dasitzen würde, mit weiter nichts im Kopf als den Wettlauf zwischen Papierberg und Feder – so hätte er am liebsten den Hut vom Nagel gerissen und wäre hinausgelaufen in die weite Welt. Jede Straße wäre ihm recht gewesen, wenn sie nur fortführte von der papierenen Geschäftsstube. Solches zu tun aber verbot sich, denn er hatte niemanden, der für seine Nahrung und Kleidung sorgte, als sich selber. Kein Vater und keine Mutter, kein Verwandtes sah nach ihm; allein mußte er sich sein Essen kochen, allein sein Kleiderwerk flicken; und wenn er in die weite Welt hinausrannte, so wußte er doch, daß er nichts gelernt hatte wie ein bißchen Schreiberei, und die würde auf keiner Amtsstube anders aussehen als auf dieser.



Als er nun an einem recht trüben, dunklen Novembervormittag über dem Schreiben schon dann und wann nach dem Fenster schielte, vor dem die Vögel heischend lärmten – denn es war fast sein einziges Vergnügen, diese seine Freunde um die Mittagsstunde zu füttern –, hob plötzlich sein ältliches Gegenüber, der Schreiber Bubo, den Kopf, sah ihn freundlich an und sprach: »Nun, Bruder, öffne schon das Fenster und streue deinen Lieblingen ihr Brot. Auf ein paar Minuten wird es wohl nicht ankommen, so fleißig, wie wir heute waren, und der Herr Asio kommt vor zwei Stunden nicht wieder vom Bürgermeisteramt.«



Höflich, aber ein wenig verwirrt, bedankte sich der Schreiber für die ungewohnte Gunst, die ihm der andere in den mancherlei Jahren, da sie einander gegenüber saßen, noch nie gewährt hatte. Und während er das Fenster öffnete und noch immer ganz benommen den Meisen und Spatzen, Amseln und Finken und was sich an Vogelgetier immer an diesen Futterplatz gewöhnt hatte, die Brotbrocken hinstreute, hörte er den andern recht mitleidig sagen: »Oft dauerst du mich sehr, Bruder, wenn ich dich so von morgens bis in die Nacht über deiner Arbeit sehe. Ich bin ein alter Mensch, und mir macht es nichts mehr, aber um dich junges Blut ist es jammerschade!«



Da hatte der andere etwas gesagt, was der Stadtschreiber oft im Stillen bei sich gedacht, und eifrig stimmte er nun dem Gefährten zu. Was sie doch für ein gar elendes, aussichtsloses Leben führten, schlimmer noch als die Sklaven bei den Heiden, denn deren Leben sei ihren Herren doch noch eine Summe Geldes wert, während ihrer einer, kaum daß er nur ein wenig krank geworden, in Not und Elend verstoßen und auf der Stelle durch einen andern ersetzt werde.



Der andere hörte dem klagenden Geschwätz gar beifällig zu, nickte mit dem Kopf und fragte dann teilnehmend, ob der Bruder denn niemanden Verwandtes habe, der ihm mit einem freundlichen Zuspruch und einem kleinen Lustgeld für den Sonntag beispringen könnte?



»Nein«, sagte der junge Schreiber. »Von den Spatts, von denen ich mich herschreibe, bin ich der einzige, der noch lebt. – Und so muß ich denn sehen«, setzte er etwas kümmerlich lächelnd hinzu, »daß ich es so weiter treibe, wie es nun einmal läuft.«



So wisse er denn in diesem Punkte wenigstens mehr als der Bruder Spatt, sagte der alte Schreiber listig. Vor ein paar Wochen habe er die Akten in einem Grenzstreit zu bearbeiten gehabt, und der eine von den beiden Bauern, und ein schwerreicher sei es gewesen, habe Spatt geheißen.



Dem Jungen verschlug es zuerst die Rede. Dann meinte er schüchtern, es sei ja möglich, daß sein Name noch da und dorten im Lande vorkomme, aber wenn das wirklich Verwandtschaft sei, sei es so entfernte, daß sie den fremden Hungerleider leicht entbehren werde.



»Im Gegenteil!« rief der andere, und seine großen, gelblichen Augen sahen den Schreiberling recht zauberisch-eindringlich an. »Im Gegenteil!« Ob sich denn der Bruder Spatt nicht mehr entsinne, daß er vor vielen Jahren als ein kleiner Junge einen ganzen Sommer bei diesem Onkel Spatt, der sein Vatersbruder sei, zugebracht habe? Von dort habe er doch auch erst seine Vorliebe für alles Vogelgetier mitgebracht! Und er zeigte auf das Fensterbrett, wo die Vögel sich um die letzten Brocken stritten.



Dem jungen Mann wurde ganz wunderlich über dem Gerede des anderen. ›Wie kannst du von mir wissen, was ich selbst nicht weiß‹, wollte er ihm zurufen. Aber vor dem immer heller leuchtenden gelben Blick wurde es ihm anders. Dunkel regte es sich in ihm, ganz vergessenes Erinnern stieg auf: ein stattliches weißes Haus, mit Wein berankt, erhöht über der Dorfstraße gelegen, breite Steinstufen führten empor, die für das Kind zu hoch waren – der warme, heimliche Geruch eines dunkelnden Stalles – Heuhaufen, größer als ein Bett, auf denen man in jeder Richtung schlafen konnte … War es Traum, war es wirklich Erinnern?



Lachend hatte unterdes der andere weitergesprochen. Im Sommer sei freilich solch Besuch nicht zu empfehlen, die Bauern wüßten auch, was ein junger Mann zur Erntezeit wert sei, und spannten ihn mehr als ihm lieb ein. Da käme der Bruder Spatt wohl gar vom Regen in die Traufe! Aber jetzt, im beginnenden Winterwetter, sei gerade die rechte Zeit. Da liege der Bauer auf der faulen Haut und esse nur von morgens bis abends prächtig, was ihm die Erntezeit in alle Kammern zugetragen … Der Bruder möge nur nicht säumen, sondern sich eilig zu dem Oheim auf den Weg machen, damit er noch etwas anderes vorfinde als ein abgenagtes Schinkenbein und eine leere Apfeltonne!



Unwillig unterbrach der junge Mann den Redestrom. Was der Herr Bubo sich denke?! Selbst wenn alles wahr sei, was er erzähle – und jetzt dämmere ihm selbst so etwas wie von einem früheren verwandtschaftlichen Besuch –, wie er denn so mir nichts, dir nichts aus Arbeit und Brot entlaufen könne, wer denn hier seine Arbeit tun solle?!



Listig lächelnd hatte ihm der andere zugehört. Was die Arbeit betreffe, so werde sich schon Rat finden lassen. Wer denn dort auf dem Fensterbrett als letzter Gast sitze?



Ärgerlich über diese Narrenspossen, antwortete der junge Mann nur kurz: »Ein Spatz!«



Hähä! Das treffe sich ja vorzüglich, und der Bruder sei auch einer von den Spatts, hähä! – Der Bruder möge nur nicht ärgerlich werden, setzte er begütigend hinzu, dies sei nur ein Witz gewesen, aber ein Witz nicht ohne Sinn. Er möge doch nur einmal den Gast auf dem Fensterbrett mit dem graubraunen zerflederten Federkleid anschauen und dann sich selbst in dem graubraunen verschabten Röcklein. Sicher sei der eine durch den anderen zu ersetzen, ohne daß der Herr Rat, dessen Augen ohnedies nicht die besten seien, etwas merken werde.

 



Zornig wollte der junge Mann aufbegehren, aber es ging ihm ganz wunderlich: plötzlich erschien ihm die graue Geschäftsstube wirklich recht wie ein Vogelkäfig, die hölzernen Aktenschränke wie Gitterstäbe, das große Tintenfaß wurde zum Futternapf, und der alte Schreiber mit den gelben Augen sah ganz wie ein riesiger Schuhu aus.



Nun krächzte er auch noch seltsam, durchs Fenster herein kam der ärmliche Spatz gehüpft, gerad’ auf den Stuhl des jungen Schreibers. Er dehnte sich, er wuchs – und nun sah er sich in eigener Person dasitzen. Schon tauchte er, nein, der andere, nein, es war doch er selbst, die Feder ein und schrieb emsig fort, wo er (wer?!) aufgehört.



Das war zuviel für Spatt, mit einem wütenden Schrei wollte er sich auf sein Ebenbild stürzen, aber »Gemach, nur gemach!« sprach beruhigend der Ältere und hielt ihn an seinem Röcklein fest. »Ist denn dein Konterfei nicht vortrefflich gelungen, lieber Bruder? Ich selbst würde ja glauben, du säßest da, wie soll sich da unser trübäugiger Herr Rat nicht täuschen lassen? Nein, alles gelingt vortrefflich, Bruder, du kannst unbesorgt deine Ferienreise antreten. Und, daß ich es dir schon verrate, nicht nur ein vorzügliches Essen wirst du bei deinem Onkel finden, sondern auch eine Base, wie reizender noch keine einem Stadtschreiber aufgewachsen ist.«



Dem Schreiberlein war es wie im Traum. Er klapperte mit den Augendeckeln, zupfte sich an der Nase, riß sich an den Haaren, zwickte sich die Waden, aber es blieb, wie es war: da saß er und schrieb, und genau, wie er es gewohnt war, hob das andere Ich jetzt die Feder hoch, ließ sie einen Augenblick über dem Tintenfaß rasten und nun hinabschießen in die schwarze Flut wie eine Möwe, die auf ein Fischlein stößt. »Aber ich kann doch nicht«, murmelte er ganz verwirrt, »das alles ist doch Zauberwerk!«



»Es ist alles in schönster Ordnung«, beruhigte den verwirrten Jüngling der alte Schreiber, der je länger je schuhumäßiger aussah, »und von verbotenem Zauberwerk kann schon gar nicht die Rede sein. Es ist weiter nichts, lieber Bruder«, sagte er überredend, »als das, was wir Juristen eine Stellvertretung nennen, oder auch die Ersatzlieferung einer gleichwertigen Ware, durch die niemand Schaden erleidet. Der da wird genauso fleißig und gründlich arbeiten wie du. Also frisch auf den Weg! Freilich möchte ich«, setzte er mit einem lächelnden Blick hinzu, »dir nicht gerade mit diesen dünnen Schuhchen zu einem Fußmarsch über die grundlosen Landstraßen raten. Aber das haben wir ja auch sehr viel einfacher.« Er ging an den schreibenden Spatz heran, sagte: »Gestatte!« und riß ihm mit einem kräftigen Ruck ein langes Haupthaar aus. »Da!« sagte er. »Wenn du dieses Haupthaar zwischen Daumen und Zeigefinger der linken Hand nimmst und ein wenig reibst, verwandelst du dich in einen – nun, sagen wir es geradeheraus: Spatz!, und fliegst auf die angenehmste Weise zu deines Onkels Hof. Du brauchst dich nur immer südlich zu halten, Bruder, bis du auf einem schlanken, schieferblauen Kirchturm einen goldenen Gockel siehst, dort ist das Dorf. Und wo die Linde mit den drei abgestorbenen Ästen vor einem hohen, weißen Hause steht, dort ist der Hof deines Onkels. – Aber hüte dich, Bruder«, setzte er ernst hinzu, »das Haar aus deiner Kralle fallen zu lassen, solange du noch in der Luft schwebest: du stürztest in menschlicher Gestalt mit reißender Schnelle zur Erde nieder! Und hüte dich auch vor den Raubvögeln, gerne stoßen sie auf so ein Spätzchen, wie du eines bist!« Ganz verzaubert starrte das Schreiberlein auf das lange, dunkelblonde Haupthaar in der Hand des anderen. Trotz der letzten unheildrohenden Worte besaß ihn eine sonderliche Lust, einmal doch wenigstens zu versuchen, wie weit sich dieser Spuk treiben lasse. Seine Hand näherte sich dem Haar …



»Es wird hier alles unterdes bestens besorgt werden«, krächzte indessen der gelbe Schuhu weiter. »Und daß ich es nicht vergesse, Bruder, zu jedem Ultimo schicke ich dir pünktlich deinen Stellvertreter mit dem Gehalt hinaus, damit du auch deiner schönen Base einmal ein Kettlein kaufen kannst, oder gar ein Ringlein … Da …!«



Vielleicht hatte es die Erwähnung der Base gemacht: des Schreibers Hand hatte sachte das Haar gefaßt, wie von einer geheimnisvollen Gewalt getrieben war es zwischen Daumen und Zeigefinger der linken Hand geglitten, sachte hatten die Fingerkuppen gerieben – und Guntram Spatt fühlte sich schwinden, klein und leicht werden, und nun saß er als jämmerlicher Spatz auf dem Boden der Schreibstube. Wie ein ungeheurer Baumstamm stand vor ihm das grauschwarze Düffelhosenbein des Ältlichen.



»Haben wir uns also doch entschlossen, Bruder«, dröhnte eine ungeheure Stimme aus den Lüften zu ihm, als läute der dicke Peter erzen vom höchsten Kirchturm der Stadt. »Nun, ich wünsche vergnügliche Reise und angenehme Abenteuer!« Damit fühlte sich Spatt nicht eben sanft hochgehoben, auf das Fensterbrett gesetzt, er wollte noch etwas sagen, einwenden, protestieren, aber nur ein schwaches Piep kam aus seinem Schnabel. Das Fenster klirrte hinter ihm zu, und da saß er in schwindelmachender Höhe über der Gasse, die er am Morgen noch ahnungslos entlanggegangen war.



Das war wohl ein seltsames Gefühl! Über die Dächer und Schornsteine, über die Straßen, Gassen und Märkte der Heimatstadt hinwegzusehen, bis weit in den grauen Himmel hinein, mit zwei zarten Beinchen unter sich und zwei schwachen Flügeln im Rücken – und doch fähig, sich höher zu schwingen, weiterzukommen, freier zu sein als je in seinen Menschentagen! Tief unter ihm wimmelten die Mitmenschen mit schleppenden, unbeholfenen Füßen ihre mühseligen Wege; hinter der hohen, steilen, gläsernen Wand in seinem Rücken schufteten sie schon wieder an der nie endenden Fron des Alltags – unser kleiner Spatz aber lüftete seine Flügel und stürzte sich mutig in das Äthermeer hinaus.



Oh, er hatte gedacht, er würde erst das Fliegen lernen müssen, und nun trugen ihn seine kleinen Flügel frei und sicher genau auf den Schornsteinkranz, den er sich zum Ziele gewählt! Da saß er, in der gefiederten Brust schlug das kleine Herz voller Mut und Glück. Tief unter ihm waren die großen Kronen der alten Linden, schon ganz entblättert, die so oft unerreichbar hoch ihm zu Häupten gerauscht. In einer Dachstube, nur ein wenig tiefer als er, saß ein Schneider mit gekreuzten Beinen auf seinem Tisch und stichelte eifrig auf ein Stück Tuch los. ›Ach, du armer, angebundener Mensch!‹ dachte der jüngste Spatz der großen Stadt. ›Nähst dir die Augen trüb oder gar blind, nur um dir die vier engen Wände und den kahlen Tisch zu bewahren! Immer in Angst um Nahrung und Wärme! Wie frei bin da ich!‹



Hinter den letzten Häusern der Stadt blinkte der große Fluß, Brücken, überwimmelt von Fußgängern und Fuhrwerken, führten über ihn; Herr Spatt brauchte keine Brücke, er spannte seine Flügel aus, und schon war er drüben im Uferwalde.



›Nun wird es aber Zeit, daß ich mich nach dem Onkel umsehe‹, dachte er bei sich. ›Es knurrt und rumpelt in meinem Magen; mein Mittagbrot habe ich über all den Geschehnissen ungegessen auf der Amtsstube gelassen, und an die Spatzenkost mag ich, so gut mir dieses Dasein sonst gefällt, gar nicht denken. Vorher will ich aber doch noch etwas versuchen.‹



Er flog hinter ein Eichengestrüpp, das noch genug Blätter auf sich trug, um ihn vor den Blicken etwaiger Neugieriger zu verbergen, öffnete die Kralle und ließ das Haar fallen. Sofort fühlte er, wie sich sein Leib streckte, die schrägstehenden Beinchen wurden gerade und stark, die flachen Flügel wurden zu runden Armen, der spitze, harte Schnabel zu weichen, breiten Lippen – und ein wenig taumelig stand der Schreiber Guntram Spatt wieder auf der lieben Muttererde. Eilig nahm er das Haar in die rechte Hand und lief, noch sehr unbeholfen, zum Wasser hinunter, um sein Spiegelbild auch genau zu prüfen, ob nichts vom Spatzendasein ihm noch anhafte. Befriedigt schaute er in die klare Flut: ›Insoweit hat der alte Bubo wirklich die Wahrheit gesprochen. Wenn nun beim Onkel das Essen auch so gut und die Base auch so schön ist wie zugesagt, so werde ich einen recht vergnüglichen Winter bekommen.‹



Schon hatte er das Haar von der rechten in die linke Hand gewechselt, seine Rückverwandlung zu bewerkstelligen, da sah er auf dem Uferweg den alten Herrn Habergreis würdig einherwandeln. Der alte Habergreis war aber ein berüchtigter Geizhals und Wucherer, der schon manchen ehrlichen Mann an den Bettelstab gebracht hatte. Sofort kam dem jungen Schreiber in seiner jetzigen übermütigen Laune ein herrlicher Einfall, wie dem bösen Knicker ein heilsamer Schreck einzujagen sei. Mit verstellt kläglicher Gebärde näherte er sich ihm und, demütig den Hut in der Hand, bat er um eine kleine Gabe, da er vor Hunger fast ohnmächtig sei. Und wie zur Bestätigung seiner Worte fing sein Magen im gleichen Augenblick gewaltig zu poltern und zu kollern an.



Der alte Habergreis sah ihn mit seinen kleinen, geröteten Augen böse von der Seite an und murrte im Vorübergehen, es sei eine Schande, daß jetzt schon Burschen mit gesunden Knochen einem gebrechlichen Greise das letzte Brotknüstlein abfragten.



Damit glaubte er den lästigen Bittsteller los zu sein, aber der junge Spatt lief hurtig nebenher und, von verstellter Demut zu gar nicht verstellter Frechheit übergehend, behauptete er kühnlich, der Aufenthalt der Habergreisischen Schätze sei ihm wohl bekannt, und was jetzt bei Tageslicht nicht gutwillig gespendet werde, gehe wohl nächstens nächtens gegen den Willen des Besitzers auf heimlichen Ausflug.



Dem Knicker wurde es gewaltig angst um seine Schätze, aber der Geiz überwog die Vorsicht, und die Taschen mit beiden Händen festhaltend, lief er, angstvoll um Hilfe schreiend, den Uferweg entlang, der ihn in die Nähe von Menschen bringen sollte. Doch ebenso rasch eilte Spatt neben ihm her, seltsamlich hüpfend und mit den Armen vogelhaft wie mit Flügeln schlagend, ließ er nicht ab von dem Alten, und dabei stieß er mit kreischender Stimme die Worte aus: »Rückst du nicht dein Geld heraus, pick ich dir die Augen aus!«



Endlich aber, als schon Menschen in der Ferne auftauchten, rieb er das zauberische Haar zwischen den Fingern und umflatterte nun mit so dringlichem Piep-piep den Kopf des entsetzten Geizhalses, daß der allen Mut verlor, sich ins Gras sinken ließ und stöhnte: »Ich will ja alles tun, was du befiehlst, großer Hexenmeister. Ich will mein Geld unter die Armen verteilen und nie wieder mehr als zehn Prozent Zins nehmen – nur, ich flehe dich an, laß ab von mir!«



Da breitete Herr Spatt wirklich seine Flügel aus, hob sich hoch über die Baumkronen, und hinabsehend auf den Greis, der noch gar nicht an seine Erlösung zu glauben vermochte, dachte er: ›Hilft es nichts, so schadet es nichts. Und ein wenig sanfter wirst du doch sein in nächster Zeit.‹



Sein Flug trug ihn dahin über ein unermeßliches, sanft wogendes Meer von Baumkronen, fleißig regten sich seine Flügel, emsig spähten seine Augen, ob wohl schon am Horizont der goldene Gockel aufblinke. Aber immer neue Baumwogen folgten den überflogenen, in stille Waldwiesen sah er hinab, auf denen äsend die Rehe standen; bis auf den Grund klarer Seen schaute er, über den sich, langsam gleitend, große, dunkle Fische bewegten. Er sah auch ein Liebespaar, das, sich umfaßt haltend, still einen Waldsteig hinabschritt; ein Holzweiblein sah er verstohlen in einen Scheiterstoß greifen und den verbotenen Buchenknüppel unter dürrem Reisig auf seinem Wäglein verstecken, während der Herr Gehender Förster zwei Schneisen weiter fluchend nach ebendiesem Weiblein suchte … Er sah Schulkinder, die gemeinsam singend nach Hause zogen; eine Ziege, die sich verlaufen hatte und kläglich meck-meck schrie, indes doch ihre Herrin suchend immer weiter von ihr fortlief. Er sah einen Langholzwagen, dem im dichtesten Dickicht ein Rad gebrochen war, und der Fuhrmann stand ratlos, abwechselnd fluchend und greinend, daneben; ein Fuchs lief, die fetteste Ente des Herrn Pfarrer im Fang, seinem Bau zu, und ein kleines Mädchen hatte seine mühselige Ernte letzter Brombeeren beim Stolpern aus seinem Körblein verstreut und stand weinend daneben … Er sah aber auch einen Jungen, der seinen Eichkater im Käfig in den Wald getragen hatte, und der ihm nun seine Freiheit zurückgab. O wie fröhlich huschte das befreite Tier einen Fichtenstamm hinauf, sah noch einmal mit seinen flinken, schwarzen Augen auf den Herrn zurück, sprang noch einmal auf seine Schulter und drückte die Nase zärtlich gegen die Wange des großen kleinen Menschen und tauchte dann unter in dem tausendwegigen Geäst des Waldes …



O wie weit und fröhlich dünkte dem fliegenden Herrn Spatt die große Welt und wie voller Leben der weite herbstliche Wald, der ihm früher oft so traurig und öde erschienen. Fleißig hob und senkte er seine kleinen Flügel, unablässig suchten seine Augen die Landschaft unter ihm ab, und wenn seine Stimme auch nur ein einfaches Piep abgab statt der tausendfältigen Modulationen der menschlichen Zunge, fröhlicher konnte es auch kein Menschenmund sagen, als dieser Vogelschnabel es tat.

 



Aber plötzlich war es, als rühre den kleinen Spatzen eine Ahnung drohender Gefahr an. Sein Herz zog sich zusammen, sein Flug wurde zögernder, ja sogar das Tageslicht schien grauer geworden zu sein. Noch aufmerksamer spähte er in jede Richtung, hielt sich dicht über den bergenden Baumkronen. Und das war gut – denn plötzlich schwebte es dunkel und lautlos von der einen Seite heran, und nahe funkelnd erblickte er die großen Augen einer Eule … Der Spatz machte ein paar rasche Flügelschläge zur Seite, aber auch von dieser Seite schwebte es dunkel und dräuend heran mit gelben, bösen Augen … Rasch ließ er sich ins bergende Geäst fallen, landete auf einem Zweig, flatterte ihn entlang, bis er geborgen im Astwinkel, dicht an den Stamm gedrückt, dasaß. Er hätte sich ja nun leicht am Stamm hinunterlassen können, auf der Erde angelangt, sich in seine menschliche Gestalt zurückverwandeln und unbelästigt von Eule und Uhu den Weitermarsch antreten können, aber schon brach die Dämmerung herein, und es bestand keine Aussicht, in der Nacht auf düsteren Waldpfaden den Weg zum Onkel zu finden. Zudem plagte ihn eine seltsame Neugierde, zu erfahren, was es mit diesen beiden Raubvögeln, die ihm seltsam bekannt erschienen waren, wohl für eine Bewandtnis habe.



Schon wollte ihm die Wartezeit fast lang erscheinen, da verdunkelte ein großer Fittich den blassen Himmel über ihm, und lautlos heranstreichend setzte sich die große Eule auf den Ast ihm zu Häupten. Einen Augenblick später wurde es noch einmal düster, und nun war auch der finstere Schuhu angelangt. ›Ein Jammer, daß ich nicht Eulisch verstehe‹, dachte Herr Spatt bei sich. ›Was für eine seltsame Unterhaltung würde ich dann wohl jetzt zu hören bekommen!‹



Aber wie erstaunte er, als er den Uhu in bestem Deutsch mit einer sehr bekannten Stimme sagen hörte: »Ich sage euch doch, Herr Rat, er wird längst seine Menschengestalt angenommen haben und zu Fuß den Weg zu seinem Onkel machen.«



»Nur Seine Unachtsamkeit ist an allem schuld, Schuhu!« schalt darauf die Eule. »Hätte Er besser in der Amtsstube aufgepaßt, hätte der Bursche nie mit dem Spatzen reden und das zauberische Haar in seinen Besitz bringen können.«



»Aber ich sage euch doch, hoher Herr Rat«, hörte Herr Spatt den alten Schuhu recht lügnerisch krächzen, »ich habe mit eurem Klienten nicht länger als drei Minuten gesprochen, und doch war, als ich zurückkam, das Unglück schon geschehen.«



»Und nicht einmal gemerkt hat Er etwas davon, Bubo«, erboste sich die Eule. »Da mußten erst kostbare Stunden vergehen, bis ich kam und alles entdeckte.«



»Bei Tage taugen meine Augen wenig«, entschuldigte sich demütig der Schuhu. »Gestattet, Herr, daß wir jetzt schnell zum Spattschen Hofe fliegen. Da wird sich rasch eine Gelegenheit finden, ihm das Haar zu entreißen und unserer Tante einen warnenden Bescheid zu geben!«



»Und zusammen kommen die beiden Kinder doch«, grollte der Herr Rat. »Nie hätte das geschehen dürfen! – Aber heute nacht können wir doch nicht dorthin, ich muß jetzt sofort zu meinem Freunde Habergreis, den der leichtfertige Bursche ganz von Sinn und Verstand geflattert hat. Morgen will ich dann sehen, was auf dem Spattschen Hofe noch zu retten ist. – Er aber, Schuhu, bleibe hier noch eine Weile auf der Baumspitze sitzen, und paß Er mir gut auf, ob Er den Flüchtling nicht doch noch erspäht! Dann aber fliege Er eilig auf die Geschäftsstube, Er weiß, wir müssen dem hoffärtigen Hintermeyer heute nacht noch ein artig Tränklein aus unseren Akten brauen!«



Dazu lachte die Eule so hämisch, teuflisch, daß dem kleinen Spatz ein eisiger Schrecken durchs Gebein fuhr; in einem ganz anderen Licht erschien ihm plötzlich die Schreiberei, die er harmlos und ohne viel nachzudenken ausgeübt. Und daß sein ehemaliger Brotherr (der es nie wieder sein sollte, so schwor er sich) gerade ein Freund des habgierigen Habergreis und ein Feind des wohltätigen Hintermeyer war, wollte ihm auch wenig gefallen. Zudem klangen ihm die dunklen Anmerkungen über sein Geschick, das so seltsam mit dem der unbekannten schönen Base verknüpft schien, gar nachdenklich in den Ohren, un

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