Gefängnistagebuch 1924

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Gefängnistagebuch 1924
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Hans Fallada GEFÄNGNIS- TAGEBUCH 1924

Freitag, 20. Juni 1924

Ich habe die Aufforderung zum Haftantritt seit Wochen erwartet, Tag für Tag, Stunde für Stunde, aber da ich sie nun wirklich in der Hand hielt und den Befehl las, daß ich mich spätestens am 20. Juni, bis abends sechs Uhr beim Gerichtsgefängnis Greifswald zu melden habe, fühlte ich plötzlich mein Herz wie unsinnig klopfen. Ich glaube, ich habe versucht, einige Witze zu Kagelmacher zu machen, die wohl ein wenig schief herauskamen. Dann bin ich in den Garten gegangen und habe mich in die Sonne gelegt.

Noch zehn Tage hatte ich Zeit. Und trotzdem ich mich bis zur Stunde am meisten vor dem Entbehren von Zigaretten und Alkohol gefürchtet hatte, waren es doch nicht diese, die ich in den mir verbliebenen Tagen noch besonders wahrnehmen wollte, sondern das war es: Liegen in der Sonne, Meergeschmack und das Erschauen einer schönen Menschengeste. Und es war vielleicht darum, daß ich mir an Kagelmachers Liebesgeschichte wie beteiligt vorkam, daß es mir genügte, das Bewußtsein solcher Liebe mitzunehmen in die Eiszeit von sechs Monaten.

Daß ich erst wieder am 20. Dezember frei sein würde, daß ich den ganzen Sommer, den ganzen Herbst vergessen würde, das schmerzte besonders. Wenn wir zusammen auf das Feld hinausgingen und Kagelmacher sich darüber freute, daß die Kartoffeln so stark in der letzten Nacht gewachsen waren, dachte ich nur daran, daß ich sie nicht blühen, nicht abwelken, nicht geerntet sehen würde. Als ich am letzten Tage über das frisch gepflanzte Kohlfeld ging, dessen Pflanzen schlaff und verwelkt auf der Seite lagen, fiel mir ein, daß die ein ganzes Leben haben würden, während ich – Eiszeit. Steinzeit.

Denn dort lebt man nicht, nicht wahr? Es ist wie eine Pause, plötzlich ist das eigene Leben zu Ende, nun muß man das Leben irgendeines andern führen, ein fremdes, befohlenes Leben – wer aber wird man dann am 20. Dezember sein, der von früher? Oder ein ganz anderer?

Dazu kamen die Sorgen, ob es möglich sein würde, die Eltern über den Aufenthaltsort im unklaren zu lassen. Ich habe immer geglaubt, ich liebte sie nicht sehr, aber dies ist die größte Furcht, daß sie erfahren könnten, ich sei im Gefängnis. Vielleicht ist es auch gar nicht Liebe, vielleicht ist es die Abneigung dagegen, Unschuldige für sich leiden zu lassen. Und am Ende ist es überhaupt kein derart »edles« Gefühl, sondern die einfache Kinderangst vor den Eltern, wie man sich ja auch noch im Traum vor den Lehrern ängstet, wenn man auch schon »erwachsen« ist und eine »Lebensstellung« erreicht hat.

Dann habe ich mich sehr bekümmert, daß mein neuer Anzug noch rechtzeitig vorher fertig würde, der erste neue Anzug seit einer Reihe von Jahren. Und als ich ihn hatte, habe ich ihn an einem beliebigen Alltagsnachmittag angezogen, meine braunen Damenflorstrümpfe und die braunen Halbschuhe dazu, und habe mich sehr glücklich gefühlt.

Und weiter habe ich zwei schon ehemals geliebte Gedichte von Rilke, »Der Gefangene«, auswendig gelernt, in Wildes Zuchthausballade geblättert und einen kurzen Artikel von ihm über Kinder im Zuchthause gelesen.

Das alles ist ein wenig von dem, was mir in diesen letzten zehn Tagen durch den Kopf gegangen ist. Und vielleicht gilt dies alles nichts und rührte mich kaum stärker an als das Dahinziehen irgendeiner nun längst vergessenen Wolke, das ich von meiner Sonnenrast im Bauerngarten aus sah. Denn hier bin ich und dort ist Tod. Begreifst du? Nein, du begreifst nur, was du erlebst, nicht, was du erleben wirst. Das ist es. Zehn Tage, zehn Minuten, zehn Jahre, was verschlägt es? Das wachsende Feld, über das du gehst, das Meer, das du hörst, das rechnet; was ist damit anzufangen, daß dieses Feld einmal abgeerntet, dieses Meer einmal vereist sein wird? Gar nichts.

Mit Kagelmacher habe ich wohl nur einmal ein wenig ausführlicher über das, was mich erwartete, geredet: irgendwann einmal beim Kaffee. Wir zogen Parallelen zwischen ehemaligen Sanatoriums- und Irrenanstaltsaufenthalten von mir und dieser sechsmonatigen Gefängnishaft. Dieses würde kaum anders sein wie jenes. Und wurde eine Morphiumentwöhnung ertragen, wieviel leichter nicht ein bloßer Aufenthalt, dessen einzige Erschwernisse Entbehrungen von Nikotin, Alkohol und Freiheit waren?

Freilich sagte ich mir, daß ich die Entwöhnung damals unter Geheul, Geschrei und mit schrecklicher Anstellerei ertragen habe, hier aber will ich mich unbedingt anständig betragen. Warum? Meinetwegen! Aber ich fürchtete die Depressionen, die so schleichend kommen, jeden Willen untergraben, in denen es mir dann ganz gleichgültig ist, was mit mir geschieht. Und vielleicht sagte mir Kagelmacher aus einem ähnlichen Gedankengang heraus: »Daß Sie mir nur nicht gleich in den ersten Tagen in eine trübselige Stimmung kommen!«

Es ist seltsam, wie gut mir dieses Wort schon in diesen Tagen getan hat. Immer klingt es mir ins Ohr.

Von den letzten vierundzwanzig Stunden vor Strafantritt wäre eigentlich noch eine Menge zu sagen. Aber ich habe mir einmal vorgenommen, diese Zeilen als Tagebuch zu führen. Und da ich eben vor ein oder zwei Stunden erst die Erlaubnis erhalten habe, für mich zu schreiben, so bin ich gewaltig im Rückstand. Jedes Tagebuch aber, das rückblickend und nicht täglich geführt wird, verliert seinen eigentlichen Sinn. Denn was mich vorgestern bewegte, ist heute mir vielleicht schon gleichgültig geworden, so daß ich’s nicht mehr schildern kann. Deshalb werde ich jetzt das meiste bis zum heutigen Tage überspringen, vielleicht, daß es sich noch dann oder dann macht, einiges nachzuholen.

Bei dieser Gelegenheit möchte ich sagen, daß ich nach bestem Wissen versuchen werde, diese Aufzeichnungen vollkommen wahrheitsgetreu zu führen. Dabei wird’s freilich notwendig sein, in ihnen auch mancherlei zu erzählen, was der Gefängnisordnung widerspricht. Um mich also nicht einmal in eine böse oder auch nur unangenehme Lage zu stürzen, muß ich diese Aufzeichnungen verstecken und so tun, als wäre ich mit etwas anderem beschäftigt. Gottlob habe ich mir ein angefangenes Manuskript aus meinem Koffer geben lassen. Auch ein Versteck habe ich gefunden: Das Wandschränkchen ist oben mit zwei Haken befestigt; hebt man es unten ein wenig ab, so kann man zwischen seiner Rückwand und der Mauer gut ein paar Bogen Papier verbergen. Das sind heute meine Sorgen.

Am 19. abends gingen Kagelmacher und ich noch nach Juliusruh zur Reunion. Von dieser ganzen Nacht ist mir kaum etwas erinnerlich. Nur an eines denke ich stark: als ich plötzlich – war es aus einem etwas anders betonten Abschiedswort? – merkte, daß Frau G. wußte, wohin ich ging. Dies hat mich geradezu erschüttert. Es war wie eine große Freude, wie die Gewißheit, ein feierliches Versprechen, man würde nicht allein sein, es würde an einen gedacht werden. Und weiß doch schon heute, daß all dies in einem ganz andern Sinne nur gelten wird, denn den, an den gedacht wird, den gibt es schon nicht mehr.

Ich bin dann nach zwei Stunden Schlaf mit dem Wieker Dampfer nach Stralsund gefahren, habe in der Kajüte mit drei törichten Sächsinnen Likör getrunken und gedalbert, in Stralsund eine junge Frau ins Café Mehlert gebracht und sie dann etwas brüsk auf der Straße stehenlassen. Es war, als konzentrierte sich all mein sonst so schwacher Unternehmungsgeist auf diese paar Stunden, plötzlich war ich mutig und hatte Glück. Oder war es der neue Anzug?

Auf der Bahn dann geriet ich mit einem jungen Mädel in Kniekontakt, ich forderte sie zu einem Kaffee auf, wir bummelten in Greifswald los, und dort, vor einem Bier, erzählte ich ihr, wohin ich ginge. Sie war rührend: Diese Mädel aus dem Volke haben solcher Lage gegenüber einfach Mitleid, sie empfinden Gefängnisstrafe nicht als eine Schande, sondern als ein Unglück, das einem jeden passieren kann. Glücklich der, der solchem Schicksal entflieht. Wir wanderten dann noch in ein weiteres Café, und dort bewilligte sie mir alles, was einem in einem Café, dessen einziger Gast unruhig schlafend am Nebentische sitzt, bewilligt werden kann. Zur Steuer der Wahrheit will ich aber noch berichten, daß ich ihr – ohne Aufforderung von ihrer Seite – fünf Mark zum Ankauf eines beliebäugelten Blusenstoffes schenkte.

Sei gegrüßt, kleine Hedwig Hanson, lieber wäre es mir aber doch, du hieltest dein Versprechen nicht und unterließest hier deinen Besuch.

Kurz vor drei Uhr küßte ich sie vor dem Gericht ab, klingelte an der Tür und meldete mich zum Strafantritt. Es war ein heißer, sonniger Junitag. Ich war nicht ganz nüchtern.

Diese leichte Dunität hat mir eher genützt als geschadet, denn ohne daß jemand anders etwas von ihr merkte, machte sie mein Auftreten viel sicherer, ungehemmter, nahm ihm den etwas verkrochenen Zug, den es leicht zu meinem und anderer Ärger hat.

Nach endlosem Klingeln erschien ein Mann mit Uniform, wie ich jetzt weiß, der Oberwachtmeister Labs.

»Ich möchte mich zum Strafantritt melden.«

»Haben Sie denn Papiere?«

Erst nachdem er diese gelesen hatte, entschloß er sich, mir aufzumachen. Nun ging es unter ewiger Schließerei über halbdunkle Gänge durch eine Reihe von Türen. »Na, und was soll denn der Koffer?«

»Da habe ich Papiere drin. Manuskripte.« Erklärend: »Ich dachte, ich könnte hier daran arbeiten. Ich bin Schriftsteller.«

»Nee, so was gibt es hier nicht. Hier gibt es andere Arbeit. So was ist nicht erlaubt. Höchstens mal sonntags.«

Und ich sehr eifrig, nur um sein Wohlwollen zu gewinnen: »Aber das weiß ich ja nicht. Ich bin zum ersten Male. Das wußte ich nicht.«

Wir kommen zur Wachstube. Er nimmt kurz meine Personalien auf, dann schaut er zu einer Wanduhr hoch und bemerkt die Stunde und Minute meines Strafantritts. Um diese Stunde und Minute werde ich in sechs Monaten wieder entlassen werden.

 

Dann geht es mit einem in Grau gekleideten »Kalfaktor«, ebenfalls einem Strafgefangenen, in die Kammer. Ich erhalte ein grobes weißes Hemd mit roten Streifen, Unterhosen, baumwollene Socken, eine feldgraue Hose, blaue Weste, feldgraue Joppe und Mütze (natürlich ohne Kokarde und Schirm), ein blauweißes Halstuch, blaues Taschentuch, Lederpantoffeln, Hosenträger, zwei Wolldecken, einen blauweißen Deckenüberzug, einen ebensolchen Kopfkeilüberzug und ein weißes Laken. Damit ziehen wir in die Kalfaktorstube ab.

Unterwegs treffen wir den Sekretär und den Arzt. Der Sekretär fragt mich nach Namen und Strafdauer, der Arzt will meinen Puls sehen.

Während der Ausgabe der Sachen an mich fand noch folgende Unterhaltung zwischen dem Oberwachtmeister und mir statt.

Er: »Können Sie denn Holz hacken und Holz sägen?«

Ich: »Nein, ich habe nie körperliche Arbeit gemacht.«

Er: »Dann ist es mit Ihnen auch nichts auf dem Holzhofe. Aber fegen und scheuern können Sie?«

Ich (zögernd): »Ja, eigentlich …« Der Kalfaktor, den ich bereits auf dem Gang gebeten, mir ab und zu Bescheid zu sagen, gibt mir einen aufmunternden Fußtritt. »Ja, aber das läßt sich ja lernen. Am guten Willen soll es nicht fehlen.«

Er (sichtlich befriedigt): »Na ja. Und wenn es mal ein Donnerwetter setzt, müssen Sie das auch vertragen.«

Und ich: »Wenn man es verdient hat.«

In der Kalfaktorzelle bleiben wir ein Weilchen allein, und ich frage den andern: »Ist das ein bequemer Posten, den er da für mich vorhat?«

»Fein. Sie sollen zweiter Kalfaktor werden.«

»Ach! Laß doch das Sie. Ihr nennt euch doch hier alle du.«

»Ja. Beim zweiten Kalfaktor brauchst du nicht auf Arbeit, brauchst hier nur reinzumachen, schläfst hier mit uns, hast immer Gesellschaft.«

Wieder werde ich in die Wachtstube gerufen; ich muß meine Taschen entleeren. Die Streichhölzer werden besonders beiseite gelegt. Die blaue Schachtel mit dem Rest Tabak entschwindet, für ein halbes Jahr bin ich vom Nikotin getrennt. »So. Alles leer?«

»Ja.«

»Dann gehen Sie zum Baden.«

Der Kalfaktor nimmt meine neuen Sachen. Wir wollen in den Keller gehen, da erscheint noch einmal der Sekretär.

»Wo wollen Sie ihn hinlegen, Oberwachtmeister?«

»Ich dachte als zweiter Kalfaktor. Soundso wird ja entlassen. Und arbeiten kann er ja sonst nichts.«

»Aber er ist zum ersten Male bestraft. Da darf er nicht auf Gemeinschaft. Ich werde mal mit dem Vorsteher darüber sprechen.«

»Auch ich will mit dem Herrn Vorsteher noch sprechen.«

Wir gehen in den Keller. Ein größerer Raum, zwei Badewannen. Der Koch, wie ich gleich erfahre: ein Holländer, erscheint, schüttet zwei Eimer heißes Wasser ein, kaltes folgt nach, ich setze mich hinein.

Während nun der Kalfaktor meine Zivilsachen zusammenlegt, folgen die Fragen. »Wie lange?« – »Selbststeller?« (Im Gegensatz zu denen, die sich erst verhaften lassen.) »Strafhaft?« (Im Gegensatz zu den Untersuchungsgefangenen.) »Warum?« – »Erste Strafe?«

»Ja.«

»Du hast es gut. Da kannst du einreichen, daß du für die zweite Hälfte der Strafe Bewährungsfrist bekommst.«

Ich sehe eine Möglichkeit dämmern, aber ich glaube nicht recht an sie.

»Und rauchen darf man gar nicht.«

»Doch, man kann Raucherlaubnis kriegen. Aber die gibt es nur ganz, ganz selten. Zwei Mann haben sie. Aber alle rauchen so. Das geht schon. Zu schade, daß du deinen Tabak abgegeben hast.«

»Ja, ich wußte ja nicht …«

»Du mußt ja noch deine Zivilsachen in den Koffer legen; vielleicht kannst du ihn da wegschnappen.«

Ich will es versuchen. Ich kleide mich ein und lerne, wie man vorschriftsmäßig ein Halstuch bindet. Etwas ungewohnt, dieses Gefühl um den nicht vorhandenen Kragen herum, am meisten aber stören die Pantoffeln an den Füßen. Ich werde sie ja ewig verlieren. Und nun gar erst die Treppen hinauf. Trübe Zeit. Graue Zeit.

Nun packe ich, wieder in der Wachtstube, unter Aufsicht meine Sachen in den Koffer. Ich erhalte die Erlaubnis, für mich zu behalten: Zahnbürste, Zahnpasta, Kamm, Haarbürste, Rasierspiegel, Handbürste, Bimsstein, Seife, Schwamm. Hierdurch mutig gemacht, frage ich: »Ich habe da noch ein paar Butterbrote im Koffer, darf ich die auch …?«

»Nehmen Sie.«

Und zwischen den Butterbrotpaketen wird die blaue Tabaksdose beiseite gelegt. Der Kalfaktor macht eine billigende Bewegung; ich habe das Gefühl, Achtung erworben zu haben. Dann werde ich wieder mit meinen Schätzen in die Kalfaktorstube geschickt.

»Das hast du gut gemacht.«

Ich gebe dem Kalfaktor meinen Tabak zum Verstecken, er verschwindet im Bett. Dann werde ich zum Sekretär geholt, meine Personalien werden aufgenommen. Als Name und Adresse meiner Eltern festgestellt werden, sage ich stockend: »Ich hätte eine Bitte, Herr Sekretär.«

»Nun.«

»Wenn es möglich wäre, daß sie nicht benachrichtigt würden. Mein Vater ist zweiundsiebzig Jahre, er weiß von nichts. Und bei seiner Stellung. Ich bitte …«

Ich spreche mit einer ekelhaften, weinerlichen Stimme, ich fühle, wie mir die Tränen in die Augen kommen, und ich weiß dabei, wie gemein es ist, sich unnötig so zu demütigen, wie kitschig diese Sentimentalität ist! Warum kann ich das nicht ruhig und sachlich sagen? Oh, ich Schwein! Natürlich mit reuiger Stimmung Land gewinnen!

Zwischendurch hat sich einmal die Tür geöffnet, ein älterer Herr (wie man so sagt: in den besten Jahren) tritt ein, fragt: »Wie heißen Sie« – »Woher?« – Dann: »Kollege, haben Sie wohl den Briefkasten schon entleert?« Der, sichtlich betreten: »Nein, noch nicht. Das heißt, um drei Uhr natürlich …« Es ist Viertel vier Uhr. Der ältere Herr kommt mit einem beträchtlichen Packen Briefschaften zurück; es ist kaum anzunehmen, daß diese in der letzten Viertelstunde eingeliefert sind.

Dann muß ich noch mehrere Schriftstücke unterschreiben, und als ich sie vorher lesen will: »Das ist nicht nötig, ich lasse Sie schon nichts unterschreiben, was …«

Ich werde wieder zurückgebracht. Der Oberwachtmeister sagt: »So, holen Sie die Sachen aus der Kalfaktorzelle, Sie kommen in Einzelzelle.«

Ich sehe den Kalfaktor groß an. Gehe mit ihm hinüber. O die Einsamkeit, die schlimme Einsamkeit, die nun kommen wird!

»Der Tabak, geben Sie den Tabak!«

Er reicht ihn mir, ich nehme aus der Schachtel aufs Geratewohl, es scheint mir etwas zuviel, ich nehme zurück und stopfe den Rest in irgendein Gefäß.

»Das dauert ja so lange«, klingt die Stimme des Oberwachtmeisters draußen. Ich raffe die Decken zusammen, das Waschzeug, schiebe die Tabakschachtel dazwischen und laufe hinaus. Zwei Treppen hinter Labs hinauf, er schließt eine Tür auf, an der ich gerade noch die Nummer »32« und »29 cbm« lese, ich trete ein. »So, klappen Sie das Bett hinunter. Nicht so, Sie werden sich klemmen. So. Beziehen Sie es, halten Sie Ihre Zelle hübsch ordentlich. Sie müssen sie selber fegen und aufwischen. Ich wollte ja eigentlich … aber …«

Die Tür fällt zu. Und ich sehe mich um. Sieben Schritt lang, dreieinhalb Schritt breit. Gleich links neben der Tür an der Schmalwand ein brauner Kachelofen. Im Winkel an ihm ein Spucknapf. Ach was, Grundriß:


Die Tür, die innen mit Eisen beschlagen ist, hat natürlich ein Guckloch, das außen mit einer Doppelklappe – für kurzen und für vollständigen Überblick – verschlossen ist. Das Fenster, ungefähr anderthalb Meter über der Erde, ist aus geripptem Milchglas, seine obere Hälfte ist schräg zum Aufklappen eingerichtet, hat an den Seiten aber Blechblenden, die das Hinaussehen verhindern sollen. Ich steige jedoch einen Augenblick auf den Abortrand, und nun sehe ich ein paar grüne Baumwipfel des Parks. Die Zelle ist einfach geweißt, der Fußboden Linoleum, die Decke leicht gewölbt. Das Schränkchen – mit vier Abteilungen – hat unter sich ein paar Haken zum Sachenanhängen. Zwei Wischtücher, ein Scheuertuch und einen Handfeger finde ich vor. Das Bett hat eine dreiteilige, gar nicht sehr harte Seegrasmatratze und einen ebensolchen Kopfkeil. Die Wände der Zelle, die Ofenglasur, die Holzteile, selbst der Eisenlackanstrich der Tür sind über und über mit allen möglichen Inschriften, Einschnitten, Zerkratzungen bedeckt. Außerdem sind an der Wand seltsame lange schwärzliche und bräunliche Flecke, die bis zur Decke reichen, ich verstehe ihre Bedeutung erst später.

Ich beziehe das Bett, gehe einen Augenblick auf und ab, und da jetzt die Aufregung und die Wirkung des Alkohols nachlassen, fühle ich mich schläfrig und lege mich aufs Bett.

Als ich erwache, glaube ich zuerst noch, ich bin im Traum. Direkt vor meinem Auge, so daß sie ungeheuer groß erscheinen, bewegen sich zwei rostbraune, breite, gepanzerte Tiere. Ich fahre mit dem Kopf zurück, ich fühle ein unerträgliches Jucken im Gesicht und an den Armen, und ich begreife: Wanzen. Ich habe diese Tiere bisher nur in den Fenstern der Drogenhandlungen auf den Plakaten der Insektenvertilgungspulver gesehen, aber es sind zweifelsohne Wanzen. Ich zerdrücke sie, sie hinterlassen auf dem Überzug zwei breite Blutflecken. Und nun begreife ich auch die schwärzlich-braunen Stellen an den Wänden. Dieses sind keine versprengten Einzelexistenzen, dieses sind die Sendboten eines großen Volkes, mit dem ich mich werde auseinanderzusetzen haben.

Mein erstes Gefühl ist das der Empörung. Man kann im Gefängnis streng sein, man kann dies verbieten und jenes, aber Wanzen liegen außerhalb jedes Bestrafungsplanes. Wanzen braucht sich auch ein Gefangener nicht zumuten zu lassen.

Es kann noch nicht spät sein. Ich habe wohl keine halbe Stunde geschlafen. Von unten höre ich eine Stimme kommandieren, dann höre ich ein rascheres Geräusch wie Schlagen auf Holz und eine Weile darauf eine wilde Jagd die Treppe hinauf. Dann wird meine Tür geschlossen, jemand reicht mir eine Schale und ein Stück Brot hinein. Die Tür geht wieder zu.

Ich betrachte mein Abendessen. Es ist eine hübsche Portion Haferschleim und ein Riesenstück trockenes Brot, ein halbes Pfund Brot in einem Stück. Ich betrachte es mit Ehrfurcht und setze es wieder in meinen Schrank. Dann esse ich ein paar Löffel Haferschleim und versuche ein wenig von Frau Wulfens Butterbroten. Es schmeckt nicht. Und wieder gehe ich auf und ab. (Ich habe so ein wenig das Gefühl, daß Gefangene auf und ab gehen müssen, immerzu.)

Dann öffnet sich meine Tür noch einmal, und der Oberwachtmeister schaut hinein. »Geben Sie dem Mann dort Ihren Napf. Bis morgen früh kommt nun niemand mehr. Und nach dem Frühstück treten Sie dann auch mit zur Arbeit an.«

Ich bin allein. Ich gehe auf und ab. Ich denke ein wenig an das Mädel von vorhin, an die vorhergehende Nacht, die Fahrt zum Dampfer – ferne Welt.

Und plötzlich überkommt mich ein rasender Hunger nach Rauchen. Es ist wie Irrsinn. Wilder Irrsinn. Ich habe Tabak, ich habe Zigarettenpapier, nur die Streichhölzer, die Streichhölzer! Aber kann man denn gar nichts machen? Ich erinnere mich, das Zuchthauskommando, das wir in Radach hatten, sie hatten einen Knopf auf einem langen Faden, den sie in Rotierung versetzten, gegen den Rand einer Blechschachtel schlagen ließen, die Funken fielen auf Zunder … Blechschachtel und Knopf sind da, nun nur ein langer Faden. Ich mache mich daran, aus meinen sehr gestopften Strümpfen einen Wollfaden auszuziehen, als ich ihn habe, ist er zu kurz. Den Rand aufrebbeln? Es ist mir alles egal. Aber ich bekomme nichts los. Außerdem, fällt mir ein, würde ein Wollfaden zu schwach sein, er würde reißen. Ich suche weiter, und plötzlich fällt mir die Kehrichtschaufel ein, auf der von meinem Vorgänger alles mögliche Zeug lag. Richtig, da liegen viele Fäden, aber so wollig, so kurz.

Und nun bekomme ich ein Stück Holz in die Hand, es ist so seltsam schwer, und als ich es näher anschaue, bemerke ich, daß mit Leinenstreifen auf seine eine Seite eine Dreikantfeile aufgebunden ist. Zuerst denke ich an Durchfeilen des Fenstergitters, Ausbruch, den mein Vorgänger betrieb, aber als ich dann ein weiteres Stück Holz in die Hand bekam, in dessen aufgespaltene Spitze ein Stück Feuerstein eingeklemmt war, begriff ich: das gesuchte Feuerzeug, Gnade über Gnade, hier war es, fertig zum Gebrauch.

Gesegnet seiest du, Vorgänger! Wo immer du auch nun wandelst, nie soll es dir an Rauchmaterial fehlen und an Feuer dazu, das wünsche ich dir.

Und ich drehe eine Zigarette. Lege den Zunder bereit. Und fange an, Feuer zu schlagen. Ich schlage eine Viertelstunde, eine halbe Stunde. Es wird dämmerig, ich pinke noch. Es ist dunkel, ich pinke immerzu.

 

Ihr Lieben, auch Feuerschlagen will gelernt sein, ich habe in zwei Stunden einen Funken erzielt!

Aber darüber ist mein Rauchhunger vergangen. Ich schiebe ein wenig Tabak in den Mund, zuerst schmeckt er ein wenig stark, aber nach einer Weile ist er köstlich und lind.

Und nun werde ich einen tiefen Schlaf tun, daß ich morgen zur Arbeit frisch bin.

(Ich muß noch nachtragen, daß ich bei der Essenausgabe dem Oberwachtmeister meldete: »Hier sind Wanzen im Zimmer.«

Meine Stimme klang wohl sehr entrüstet.

»Wanzen«, fragte er zurück, »darüber hat aber der Schullehrer nie geklagt. – Melden Sie es morgen früh, dann werden Sie ein Mittel bekommen.«

Morgen früh!, und ich hatte die gleiche Empörung, Umsturz, sofortige Maßnahmen erwartet. Dieser Fall schien nichts ganz Außergewöhnliches zu sein.)

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