Der Trinker

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LUNATA

Der Trinker

Der Trinker

Roman

© 1944 Hans Fallada

© Lunata Berlin 2020

Inhalt

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Kapitel 9

Kapitel 10

Kapitel 11

Kapitel 12

Kapitel 13

Kapitel 14

Kapitel 15

Kapitel 16

Kapitel 17

Kapitel 18

Kapitel 19

Kapitel 20

Kapitel 21

Kapitel 22

Kapitel 23

Kapitel 24

Kapitel 25

Kapitel 26

Kapitel 27

Kapitel 28

Kapitel 29

Kapitel 30

Kapitel 31

Kapitel 32

Kapitel 33

Kapitel 34

Kapitel 35

Kapitel 36

Kapitel 37

Kapitel 38

Kapitel 39

Kapitel 40

Kapitel 41

Kapitel 42

Kapitel 43

Kapitel 44

Kapitel 45

Kapitel 46

Kapitel 47

Kapitel 48

Kapitel 49

Kapitel 50

Kapitel 51

Kapitel 52

Kapitel 53

Kapitel 54

Kapitel 55

Kapitel 56

Kapitel 57

Kapitel 58

Kapitel 59

Kapitel 60

Kapitel 61

Kapitel 62

Kapitel 63

1

Strelitz, 6.9.44

Ich habe natürlich nicht immer getrunken, es ist sogar nicht sehr lange her, daß ich mit Trinken angefangen habe. Früher ekelte ich mich vor Alkohol; allenfalls trank ich mal ein Glas Bier; Wein schmeckte mir sauer, und der Geruch von Schnaps machte mich krank. Aber dann kam eine Zeit, da es mir schlecht zu gehen anfing. Meine Geschäfte liefen nicht so, wie sie sollten, und mit den Menschen hatte ich auch mancherlei Missgeschick. Ich bin immer ein weicher Mensch gewesen, ich brauchte die Sympathie und Anerkennung meiner Umwelt, wenn ich mir das auch nicht merken ließ und stets sehr selbstbewußt und sicher auftrat. Das Schlimmere war, daß ich das Gefühl bekam, auch meine Frau wende sich von mir ab. Es waren zuerst unmerkliche Zeichen, Dinge, die ein anderer ganz übersehen hätte. Zum Beispiel vergaß sie, mir bei einem Geburtstag in unserem Hause Kuchen anzubieten; ich esse zwar nie Kuchen, aber früher bot sie mir trotzdem stets welchen an. Und dann war einmal drei Tage lang ein Spinnweb in meinem Zimmer über dem Ofen. Ich ging alle Zimmer ab, aber in keinem gab es ein Spinnweb, nur in meinem. Ich wollte eigentlich abwarten, wie lange sie es so treiben würde mir zum Ärger, aber am vierten Tage hielt ich es nicht mehr aus und sagte es ihr. Darauf wurde das Spinnweb entfernt. Ich sagte es ihr natürlich ziemlich scharf. Ich wollte mir um keinen Preis merken lassen, wie sehr ich unter diesen Kränkungen und meiner Vereinsamung litt.

Aber es blieb nicht dabei. Bald kam die Sache mit dem Fußabtreter. An jenem Tage hatte ich Schwierigkeiten auf meiner Bank gehabt, zum ersten Male hatten sie mir eine Geldauszahlung verweigert; es hatte sich wohl herumgesprochen, daß ich Verluste erlitten hatte. Der Bankvorsteher, ein Herr Alf, tat sehr liebenswürdig, sprach von vorübergehenden Schwierigkeiten und erbot sich sogar, mit seiner Zentrale wegen eines Sonderkredits für mich zu telefonieren. Ich lehnte das natürlich ab, ich war lächelnd und sicher wie immer gewesen. Aber ich hatte gut gemerkt, daß er mir dieses Mal nicht wie sonst meist eine Zigarre angeboten hatte, dieser Kunde lohnte ihm das wohl nicht mehr. Sehr niedergedrückt ging ich durch einen schwer herabrauschenden Herbstregen nach Hause. Ich war noch gar nicht in eigentlichen Schwierigkeiten; es war nur eine gewisse Stagnation in meinen Geschäften eingetreten, die zu jenem Zeitpunkt mit einigem Elan sicher noch zu überwinden gewesen wäre. Aber gerade diesen Elan vermochte ich nicht aufzubringen, ich war zu niedergedrückt von all dem stummen Mißfallen, dem ich begegnete.

Als ich nach Hause kam (wir wohnen etwas vor der Stadt in eigener Villa, und die Straße dorthin ist noch nicht ausgebaut), wollte ich vor der Tür meine schmutzigen Schuhe reinigen, doch gerade heute fehlte der Fußabtreter. Ärgerlich schloss ich auf und rief ins Haus nach meiner Frau. Es dunkelte schon, aber nirgends sah ich Licht, und Magda kam auch nicht. Ich rief wieder und wieder, aber nichts erfolgte. Ich befand mich in einer höchst fatalen Situation: ich stand im Regen vor der Tür meiner eigenen Villa und konnte nicht ins Haus, wollte ich nicht Vorplatz und Diele ärgerlich beschmutzen, und das alles, weil meine Frau vergessen hatte, den Fußabtreter hinauszulegen, und zu einer Zeit nicht zur Stelle war, wo ich, wie sie genau wußte, von der Arbeit heimkam. Schließlich mußte ich mich überwinden: ich ging vorsichtig auf Zehenspitzen ins Haus. Als ich mich auf einen Stuhl in der Diele setzte, um die Schuhe auszuziehen, und dafür Licht machte, sah ich, daß all meine Vorsicht nichts genützt hatte: auf dem zartgrünen Dielenteppich waren die häßlichsten Flecke entstanden. Ich habe Magda immer gesagt, daß solch ein empfindliches Resedagrün nichts für die Diele sei, aber sie hatte ja gemeint, wir beide seien ja wohl alt genug, ein bißchen aufzupassen, und die Else (unser Dienstmädchen) benütze ja sowieso den Hintereingang und sei gewohnt, im Hause auf Pantoffeln zu gehen. Ich zog sehr ärgerlich meine Schuhe aus, und gerade als ich den zweiten auszog, sah ich Magda, die eben aus der Tür kam, die die Kellertreppe verdeckt. Der Schuh entglitt mir und fiel mit Poltern auf den Teppich, einen abscheulichen Fleck machend.

 

»Paß doch ein bißchen auf, Erwin!« rief Magda sehr ärgerlich. »Wie der schöne Teppich wieder aussieht. Kannst du dir nicht angewöhnen, die Füße ordentlich abzutreten?!«

Die offene Ungerechtigkeit in diesem Vorwurf empörte mich, aber noch hielt ich an mich.

»Wo in aller Welt hast du bloß gesteckt?« fragte ich, sie noch immer anstarrend. »Ich habe mindestens zehnmal nach dir gerufen!«

»Ich war bei der Zentralheizung im Keller«, sagte Magda kühl. »Aber was hat das mit meinem Teppich zu tun?«

»Es ist ebensogut mein Teppich wie der deine«, antwortete ich erregt. »Ich habe ihn wirklich nicht gerne beschmutzt. Aber wenn kein Abtreter vor der Tür liegt –!«

»Es liegt kein Abtreter vor der Tür? Natürlich liegt er vor der Tür!«

»Es liegt keiner davor!« rief ich mit Nachdruck. »Bitte, überzeuge dich selbst!«

Aber sie dachte gar nicht daran, vor die Tür zu gehen.

»Wenn Else eben vergessen bat, ihn hinzulegen, so hättest du die Schuhe gut auf dem Vorplatz ausziehen können! Jedenfalls hättest du nicht den einen Schuh hier mit solchem Plumps auf den Teppich zu werfen brauchen!«

Ich sah sie, stumm vor Ärger, nur empört an.

»Ja«, sagte sie, »da schweigst du. Wenn man dir Vorwürfe macht, schweigst du. Aber mir machst du ständig Vorwürfe ...«

Ich fand keinen rechten Sinn in diesen Worten, aber ich sagte doch: »Wann habe ich dir Vorwürfe gemacht?«

»Eben erst«, antwortete sie rasch, »einmal, weil ich auf dein Rufen nicht gekommen bin, und ich mußte doch nach der Heizung sehen, weil Else heute ihren freien Nachmittag hat. Und dann, weil der Abtreter nicht vor der Tür liegt. Aber ich kann doch unmöglich bei all meiner Arbeit auch noch jede Kleinigkeit, die Else zu tun hat, kontrollieren.«

Ich nahm mich zusammen. Ich fand im stillen, Magda hatte in allen Punkten unrecht. Aber laut sagte ich: »Wir wollen uns nicht streiten, Magda. Ich bitte dich, mir zu glauben, daß ich die Flecke nicht mit Absicht gemacht habe.«

»Und du glaube mir«, antwortete sie, noch immer ziemlich scharf, »daß ich dich weder mit Absicht habe rufen noch mit Absicht habe warten lassen.«

Ich schwieg dazu. Bis zum Abendessen hatten wir uns beide wieder ziemlich in der Gewalt, eine ganz vernünftige Unterhaltung kam sogar zustande, und plötzlich hatte ich den Einfall, eine Flasche Rotwein, die mir irgend jemand mal geschenkt hatte, und die seit Jahren im Keller stand, heraufzuholen. Ich weiß wirklich nicht, wieso ich auf diese Idee kam. Vielleicht löste das Gefühl unserer Aussöhnung bei mir den Gedanken an etwas Festliches, wie Trauung oder Taufe aus. Magda war auch ganz überrascht, lächelte aber beifällig. Ich trank nur anderthalb Glas, obgleich mir an diesem Abend der Wein nicht sauer schmeckte. Ich kam sogar in eine heitere Stimmung und brachte es fertig, Magda allerlei vom Geschäft, das mir so viel Sorgen machte, zu erzählen. Natürlich sprach ich kein Wort von diesen Sorgen, sondern ich log im Gegenteil meine Misserfolge in Erfolge um. Magda hörte mir so interessiert wie schon lange nicht zu. Ich hatte das Gefühl, daß die Entfremdung zwischen uns völlig geschwunden war, und in der Freude darüber schenkte ich Magda hundert Mark, damit sie sich etwas recht Hübsches kaufen könnte: ein Kleid oder einen Ring oder wonach sonst ihr Herz stand.

2

Ich habe mich später oft gefragt, ob ich an diesem Abend wohl völlig betrunken gewesen bin. Natürlich bin ich das nicht gewesen, davon hätten sowohl Magda als auch ich etwas gemerkt. Dennoch habe ich an diesem Abend den ersten Rausch meines Lebens gehabt. Ich schwankte nicht, ich lallte nicht. Das hatten diese anderthalb Glas muffigen Rotweins selbst bei einem so nüchternen Menschen wie mir nicht bewirken können, aber doch hatte mir der Alkohol die ganze Welt verwandelt. Er spiegelte mir vor, daß es keine Entfremdung und keinen Streit zwischen Magda und mir gegeben hätte, er verwandelte meine geschäftlichen Sorgen in Erfolge, in solche Erfolge, daß ich sogar hundert Mark zu verschenken hatte, keine beträchtliche Summe gewiß, aber in meiner Lage war schließlich keine Summe ganz unbeträchtlich. Als ich am nächsten Morgen erwacht war und alle Geschehnisse von dem vergessenen Fußabtreter bis zum verschenkten Hundertmarkschein an meinem geistigen Auge vorüberziehen ließ, da wurde mir erst klar, wie schmählich ich an Magda gehandelt hatte. Ich hatte sie nicht nur über meine geschäftliche Lage getäuscht, nein, ich hatte diese Täuschung auch noch durch ein Geldgeschenk untermauert, um sie noch glaubhafter zu machen, etwas, das juristisch wohl ›Betrug‹ genannt werden würde. Aber das Juristische war ganz gleichgültig, das Menschliche allein war wichtig, und das Menschliche an dieser Sache war einfach furchtbar. Ich hatte zum erstenmal in unserer Ehe Magda wissentlich betrogen – und warum? Warum in aller Welt?! Für gar nichts – ich hätte ja von all diesen Dingen wunderbar schweigen können, wie ich bisher von ihnen geschwiegen hatte. Niemand zwang mich zum Sprechen. Niemand? Doch ja, der Alkohol hatte mich dazu gebracht. Als ich das erst einmal erkannt hatte, als ich in vollem Umfange erfaßt hatte, welch Lügner der Alkohol ist und wie er dazu aus ehrlichen Menschen Lügner macht, schwor ich mir zu, nie wieder einen Tropfen Alkohol zu trinken und auch auf das ab und zu bisher genossene Glas Bier zu verzichten.

Aber was sind Vorsätze, was sind Entwürfe –? Ich hatte mir ja auch an diesem Morgen der Ernüchterung zugeschworen, wenigstens die gestern Abend zwischen Magda und mir aufgekommene wärmere Stimmung zu nützen und es nicht wieder zu einer Entfremdung oder gar zu einem Streit kommen zu lassen. Und doch vergingen nicht viele Tage, und wir stritten uns schon wieder. Es war eigentlich völlig unbegreiflich: vierzehn Jahre unserer Ehe waren praktisch ohne jeden Streit vergangen, und jetzt im fünfzehnten war es, daß wir nicht mehr ohne Streiten leben konnten. Manchmal schien es mir geradezu lächerlich, über was für Dinge alles wir miteinander in Streit gerieten. Es schien, als müßten wir uns zu bestimmten Zeiten streiten, ganz gleich warum. Auch das Streiten scheint wie ein Gift zu sein, an das man sich rasch gewöhnt und ohne das man bald nicht mehr leben kann. Zuerst bewahrten wir natürlich ängstlich die Form, wir suchten möglichst sachlich beim Streitgegenstand zu bleiben und alles persönlich Kränkende zu vermeiden.

7.9.44

Auch legte uns die Anwesenheit unseres kleinen Hausmädchens Else Hemmungen auf. Wir wußten, sie war neugierig und trug alles weiter, was sie erfuhr. Damals wäre es mir noch unaussprechbar schrecklich gewesen, wenn irgend jemand in der Stadt von meinen Sorgen und unseren Streitereien erfahren hätte. Nicht sehr viel später freilich war es mir vollkommen gleichgültig geworden, was die Menschen von mir dachten und sprachen, und, was das Schlimmere war, ich hatte auch alle Scham vor mir selbst verloren.

Ich habe gesagt, daß Magda und ich uns an fast täglichen Streit gewöhnten. Freilich waren das eigentlich nur Quengeleien, kleine Sticheleien um ein Garnichts, etwas, das die zwischen uns immer wieder auftauchenden Spannungen ein wenig erleichterte. Auch das war eigentlich ein Wunder, aber kein schönes: viele Jahre hatten Magda und ich eine ausgesprochen gute Ehe geführt. Wir hatten uns aus Liebe geheiratet, damals waren wir alle beide sehr kleine Angestellte gewesen, jeder mit einem Handköfferchen, so waren wir zusammengelaufen. Ach, die herrliche entbehrungsreiche Zeit unserer ersten Ehejahre – wenn ich heute daran zurückdenke! Magda war eine wahre Haushaltskünstlerin, manche Woche kamen wir mit zehn Mark aus, und es kam uns vor, als lebten wir dabei wie die Fürsten. Dann kam die wagemutige, von immerwährender Anspannung erfüllte Zeit, da ich mich selbständig machte, da ich mit Magdas Hilfe mein eigenes Geschäft aufbaute. Es glückte – o du lieber Himmel, wie uns damals alles glückte! Wir brauchten nur etwas anzufassen, unseren Fleiß und unseren Eifer einer Sache zuzuwenden, und schon gelang sie, blühte auf wie eine gutgepflegte Blume, trug uns Früchte ... Kinder blieben uns versagt, so sehr wir uns nach ihnen auch sehnten. Magda hatte einmal eine Fehlgeburt, von da an war es mit allen Aussichten auf Kinder vorbei. Aber wir liebten uns darum nicht weniger. Viele Jahre unserer Ehe waren wir immer wieder frisch verliebt ineinander. Ich habe nie eine andere Frau als Magda begehrt. Sie machte mich vollkommen glücklich, und mit mir ist es ihr wohl auch nicht anders gegangen.

Als dann das Geschäft lief, als es jenen Umfang erreicht hatte, der ihm durch die Größe unserer Stadt und unseres Landkreises gegeben war, einen Umfang, über den hinaus eine Erweiterung nur durch völlige Änderung all unserer Lebensumstände und durch Wegzug von unserer Vaterstadt möglich war, als also das brennende Interesse etwas zu erlahmen begann, kam als Ersatz der Erwerb des eigenen Grundstücks vor der Stadt, der Bau unserer Villa, die Anlage unseres Gartens, die Einrichtung, die uns nun für den Rest unseres Lebens begleiten sollte – alles Dinge, die uns wieder eng aneinanderbanden und uns die Abkühlung, die in unseren Ehebeziehungen eingetreten war, nicht merklich werden ließen. Wenn wir uns nicht mehr so wie früher liebten, wenn wir nicht mehr so oft und heiß nacheinander begehrten, so empfanden wir das nicht als einen Verlust, sondern als etwas Selbstverständliches: wir waren eben allgemach alte Eheleute geworden, was uns geschah, geschah allen, war etwas Natürliches. Und, wie gesagt, die Kameradschaft beim Planen, Bauen, Einrichten ersetzte uns das Verlorene vollkommen, aus Liebesleuten waren wir Kameraden geworden, wir entbehrten nichts.

Zu jener Zeit hatte sich Magda schon ganz von der tätigen Mithilfe in meinem Geschäft freigemacht, ein Schritt, den wir beide damals als selbstverständlich ansahen. Sie hatte jetzt eine größere eigene Haushaltung; der Garten und ein bißchen Federvieh erforderten auch Pflege, und der Umfang des Geschäftes gestattete ohne weiteres die Einstellung einer neuen Hilfskraft. Später sollte sich zeigen, wie verhängnisvoll sich das Ausscheiden Magdas aus meinem Betrieb auswirken sollte. Nicht nur, daß wir dadurch wiederum ein gut Teil unserer gemeinsamen Interessen verloren, auch stellte sich heraus, daß ihre Mithilfe eigentlich unersetzlich war. Sie war bei weitem aktiver als ich, unternehmungslustiger, auch war sie viel geschickter als ich im Umgang mit den Menschen und vermochte sie auf eine leichte, scherzhafte Weise gerade dahin zu bekommen, wo sie die Leute haben wollte. Ich war das vorsichtige Element in unserer Gemeinschaft gewesen, die Bremse gewissermaßen, die eine zu gewagte Fahrt hemmte und sicherte. Im Geschäftsverkehr selbst hatte ich die Neigung, mich möglichst zurückzuhalten, mich niemandem aufzudrängen und nie um etwas zu bitten. Es war demnach unvermeidlich, daß nach Magdas Ausscheiden die Geschäfte erst einmal im alten Gleise weitergingen, daß wenig Neues dazukam und daß dann allmählich, ganz langsam, Jahr um Jahr, ihr Umfang zurückging. Über alle diese Dinge bin ich mir freilich erst viel später klar geworden, zu spät, als es schon nichts mehr zu retten gab. Damals, als Magda ausschied, war ich eher etwas erleichtert: ein Mann, der seine Firma allein vertritt, genießt bei den Menschen ein größeres Ansehen als der, dem die Frau in alles hineinreden kann.

3

Erst, als unsere Streitereien begannen, merkte ich, wie fremd Magda und ich uns in den Jahren geworden waren, da sie ihre Hauswirtschaft besorgte und ich den Geschäften vorstand. Die ersten Male empfand ich wohl noch etwas wie Scham über unser Sichgehenlassen, und wenn ich merkte, daß ich Magda verletzt hatte, daß sie gar mit verweinten Augen umherging, schmerzte mich das fast so sehr wie sie selbst, und ich gelobte mir Besserung. Aber der Mensch gewöhnt sich an alles, und ich fürchte beinahe, er gewöhnt sich am raschesten, in einem Zustand von Erniedrigung zu leben. Es kam der Tag, da ich beim Anblick von Magdas verweinten Augen mir nicht mehr Besserung gelobte, sondern mit einer mit erschrockenem Staunen untermischten Befriedigung mir sagte: ›Diesmal habe ich es dir aber ordentlich gegeben! Immer gewinnst du mit deiner raschen Zunge doch nicht die Oberhand über mich!‹ Ich fand es schrecklich, daß ich so empfand, und doch fand ich es richtig, es befriedigte mich, so zu empfinden, so paradox dies auch klingen mag. Von da an war es nur ein kleiner Schritt bis dahin, wo ich sie bewußt zu verletzen suchte.

In jenem äußerst kritischen Zeitpunkt unserer Beziehungen waren die Lebensmittellieferungen für die Gefängnisverwaltung wie alle drei Jahre neu ausgeschrieben. Wir haben in unserem Ort (gerade nicht zum Entzücken seiner Einwohner) das Zentralgefängnis der Provinz liegen, das ständig etwa fünfzehnhundert Häftlinge in seinen Mauern birgt. Seit neun Jahren hatten wir diese Lieferungen schon, Magda hatte sich seinerzeit sehr darum bemüht, sie zu erhalten. Bei den beiden späteren Vergebungen hatte sie immer nur einen kurzen Höflichkeitsbesuch bei dem entscheidenden Oberinspektor der Verwaltung gemacht, und der Zuschlag war uns ohne weiteres zugefallen. Ich sah diese Lieferung für einen so selbstverständlichen Teil meines Geschäftes an, daß ich auch diesmal nicht weiter Aufhebens von der Sache machte: ich ließ das alte Angebot, dessen Preisgestaltung sich nun schon seit neun Jahren bewährt hatte, abschreiben und einreichen. Ich überlegte auch einen Besuch bei dem entscheidenden Oberinspektor, aber alles lief ja in seinen eingelaufenen Bahnen; ich wollte nicht aufdringlich erscheinen, ich wußte, der Mann war mit Arbeit überlastet – kurz, ich hatte mindestens zehn gute Gründe, den Besuch zu unterlassen.

 

Danach traf es mich wie ein Blitz aus heiterem Himmel, als mich ein Schreiben der Gefängnisverwaltung mit wenigen dürren Worten dahin unterrichtete, daß mein Angebot abgelehnt und daß die Lieferungen einer anderen Firma zugeschlagen worden seien. Mein erster Gedanke war der: daß nur Magda nichts davon erfährt! Dann nahm ich meinen Hut und eilte zu dem Oberinspektor, jetzt den Besuch zu machen, der drei Wochen früher sinnvoll gewesen wäre. Ich wurde höflich, aber kühl aufgenommen. Der Oberinspektor bedauerte, daß die alte Geschäftsverbindung nun unterbrochen sei. Er habe aber gar nicht anders handeln können, da ein Teil der von mir genannten Preise längst überholt gewesen sei, mal nach der höheren, mal nach der niedrigeren Seite hin. Im ganzen gleiche es sich wohl etwa aus, aber mein Angebot habe nun eben auf die maßgebenden Herren – ich möge seine Offenheit verzeihen – einfach einen schlechten Eindruck gemacht, als sei es meiner Firma ganz gleichgültig, ob sie den Zuschlag erhalte oder nicht. Ich erfuhr weiter, daß eine ganz junge, mit allen Mitteln aufstrebende Firma, die mir schon einige Male Ärger bereitet hatte, auch dieses Mal wieder als Sieger aus dem Rennen hervorgegangen war. Zum Schluss drückte der Oberinspektor noch in aller Höflichkeit die Hoffnung aus, in drei Jahren wieder mit meiner Firma in die alte Verbindung treten zu können, und ich war entlassen –!

Ich wußte, ich hatte mir in dem Gefängnisbüro nichts von meiner Bestürzung, ja, meiner Verzweiflung über diesen Fehlschlag anmerken lassen; ich hatte meine Erkundigung halb mit Höflichkeit, halb mit Neugier nach dem Namen des glücklichen Gewinners frisiert. Als ich aber wieder draußen vor den schweren Eisentoren des Gefängnisses stand, als der letzte Riegel rasselnd hinter mir zugeschoben war, sah ich in den hellen Sonnenschein dieses wunderbaren Frühlingstages wie jemand, der soeben aus einem schweren Traum erwacht ist und noch nicht weiß, ob er nun wirklich wach ist oder ob er noch immer unter dem Alpdruck des Traumes seufzt. Ich seufzte noch unter ihm, umsonst hatte das eiserne Gittertor mich zur Freiheit entlassen, ich blieb gefangen in meinen Sorgen und Misserfolgen.

Es war mir jetzt unmöglich, in die Stadt und auf mein Kontor zu gehen, vor allem aber mußte ich mich erst sammeln, ehe ich vor Magda trat – ich ging fort von der Stadt und den Menschen, ich ging in die Felder und Wiesen hinaus, immer weiter fort, als könnte ich mir und meinen Sorgen entlaufen. Ich habe aber an diesem Tage nichts von dem frischen Smaragdgrün der jungen Saaten gesehen, ich habe nicht das eilige Glucksen der Bäche und die Trommelwirbel der Lerchen in der blaugoldenen Luft gehört: ich war grenzenlos allein mit mir und meinem Missgeschick. Mein Herz war so übervoll davon, daß nichts anderes mehr hineinkonnte.

Ich war mir ganz klar darüber, daß dies für mein Geschäft nicht mehr ein kleiner Fehlschlag war, der mit einem achselzuckenden Bedauern hingenommen werden konnte: die Lieferung der Nahrungsmittel für fünfzehnhundert Menschen war selbst bei bescheidenem Nutzen ein so wesentlicher Teil meines Umsatzes, daß sie nicht ohne einschneidende Veränderungen meines ganzen Betriebes hingenommen werden konnte. An einen Ersatz für diesen Ausfall war bei dem Mangel ähnlicher Gelegenheiten in unserer bescheidenen Provinzstadt nicht zu denken. Äußerste Tatkraft hätte die Zahl der Einzelgeschäfte um einige Dutzend steigern können, aber ganz abgesehen davon, daß dies noch lange keinen Ersatz für den Ausfall bedeutete, fühlte ich mich gerade jetzt zu dieser äußersten Tatkraft ganz unfähig. Aus irgendwelchen Gründen war ich schon seit fast einem Jahr unfrisch. Immer mehr neigte ich dazu, den Dingen ihren Lauf zu lassen und mich nicht zu sehr zu erregen. Ich war ruhebedürftig – warum weiß ich nicht. Vielleicht wurde ich früh alt. Es war mir klar, daß ich mindestens zwei Angestellte würde entlassen müssen, aber auch das berührte mich nicht einmal so sehr, obwohl ich wußte, wie sehr darüber geschwätzt werden würde. Nicht das Geschäft bekümmerte mich im Augenblick, sondern Magda. Immer wieder war mein Hauptgedanke, meine Hauptsorge: daß bloß Magda nichts davon erfährt! Wohl sagte ich mir, daß ich auf die Dauer die Entlassung von zwei Angestellten und den Verlust der Lieferungen überhaupt nicht vor ihr verbergen konnte. Aber ich log mir vor, daß alles darauf ankomme, daß sie nicht gerade jetzt davon erführe, daß ich in einigen Wochen vielleicht doch den einen oder anderen Ersatz gefunden haben könnte. Dann hatte ich wieder einen hellen Augenblick. Ich blieb stehen, stieß mit dem Fuß energisch gegen einen Stein im Staube des Weges und sagte zu mir: ›Da Magda doch davon erfahren wird, ist es besser, sie erfährt es durch mich als durch anderer Leute Mund, und es ist wiederum besser, sie erfährt es heute, als irgendwann. Mit jedem Tag, den du dies aufschiebst, wird das Geständnis schwerer. Schließlich habe ich kein Verbrechen begangen, sondern nur eine Nachlässigkeit.‹ Ich stieß wieder mit dem Fuß gegen den Stein: ›Ich werde Magda einfach bitten, mir wieder im Geschäft zu helfen. Das versöhnt sie mit meinem Misserfolg und bringt mir und dem Betrieb nur Nutzen. Ich bin wirklich nicht sehr frisch und kann eine Hilfskraft gut gebrauchen ...!‹ Aber diese hellen Augenblicke gingen schnell vorüber. Ich hatte stets so viel auf die Achtung der Leute und vor allem auf die Magdas gegeben. Ich hatte stets peinlich darauf gesehen, daß ich als der Chef respektiert wurde. Ich konnte es auch jetzt, gerade jetzt, nicht übers Herz bringen, von dieser Würde ein Jota abzulassen und mich gerade vor Magda zu demütigen. Nein, ich war entschlossen, die Sache selbst zu meistern, komme, was wolle. Ich mochte mir auch nicht von einer Frau helfen lassen, mit der ich mich fast täglich zankte. Es war klar vorauszusehen, daß sich diese Zänkereien bis ins Kontor fortsetzen würden – sie würde dort auf ihrem Willen beharren, ich würde widersprechen, sie würde mir meine Misserfolge vorwerfen – o nein, unmöglich!

Wieder stampfte ich mit dem Fuß auf, aber diesmal in den Staub des Weges. Ich sah hoch. Ich hatte keine Ahnung, wohin mich meine Füße getragen hatten, so sehr war ich in meine Sorgen versponnen gewesen. Ich stand in einem Dorf, nicht übermäßig weit von meiner Vaterstadt entfernt, einem Dorf, das wegen einiger reizender Birkenwäldchen und eines Sees ein beliebter Frühlingsausflugsort meiner Mitbürger ist. Aber an diesem Wochentag-Vormittag gab es hier noch keine Ausflügler, dafür ist man bei uns daheim zu fleißig. Ich stand gerade vor dem Gasthof, und ich spürte, daß ich Durst hatte. Ich trat in die niedrige, weite, aber dunkle Schankstube ein. Ich hatte sie immer nur erfüllt von vielen Städtern gesehen, die frühlingshaft hellen Kleider der Frauen hatten den Raum heller gemacht und ihm trotz seiner Niedrigkeit etwas Beschwingtes gegeben. Denn, wenn die Städter hier waren, hatten die Fenster offengestanden, auf den Tischen lagen dann bunte Decken, und überall gab es in hohen Vasen helle Sträuße von Birken. Jetzt war der Raum dunkel, auf den Tischen lag gelblich-bräunliches Wachstuch, es roch stickig, denn die Fenster waren fest verschlossen. Hinter der Theke stand ein junges Mädchen, dessen Haare schlecht zurechtgemacht und dessen Schürze schmutzig war, es flüsterte eifrig mit einem jungen Kerl, der nach seiner kalkbespritzten weißen Kleidung ein Maurer zu sein schien. Mein erster Impuls war der, umzukehren. Aber mein Durst und noch mehr das Gefühl, sofort wieder meinen Sorgen ausgeliefert zu sein, ließen mich statt dessen an die Theke treten.

»Geben Sie mir was zu trinken, irgendwas, das den Durst löscht«, sagte ich.

Ohne aufzusehen ließ das Mädchen Bier in ein Glas laufen, ich sah zu, wie der Schaum über den Rand troff. Das Mädchen schloss den Bierhahn, wartete einen Augenblick, bis der Schaum sich gesetzt hatte, und ließ noch einen Schuss Bier nachlaufen. Dann schob sie mir, wiederum ohne ein Wort, das Glas über den stumpfen Zink zu. Es machte sich wieder an sein Flüstern mit dem Maurerburschen, bisher hatte es mich noch nicht mit einem Blick angesehen.

Ich hob das Glas zum Munde und trank es bedächtig. Schluck für Schluck, ohne einmal abzusetzen, leer. Es schmeckte frisch, prickelnd und leicht bitter, und indem es meinen Mund passierte, schien es in ihm etwas von einer Helle und Leichtigkeit zu hinterlassen, die vorher nicht in ihm gewesen war.

›Geben Sie mir noch einmal von dem‹, wollte ich sagen, besann mich aber anders. Ich hatte vor dem jungen Menschen ein helles, kurzes, gedrungenes Glas stehen sehen, das man bei uns eine »Stange« nennt und in dem gewöhnlich Korn ausgeschenkt wird.

»Ich möchte auch solch eine Stange«, sagte ich plötzlich. Wie ich, der ich mein Lebtag keinen Schnaps getrunken, der ich immer eine tiefe Abneigung gegen den Geruch von Schnaps gehabt habe, dazu kam, weiß ich nicht zu sagen. In jenen Tagen änderten sich alle Gewohnheiten meines Lebens, geheimnisvollen Einflüssen war ich ausgeliefert, und genommen war mir die Kraft, ihnen zu widerstehen.

Zum ersten Male sah mich jetzt das Mädchen an. Langsam hob sie die etwas körnigen Lider und blickte mich mit hellen, wissenden Augen an.

»Mit Schnaps?« fragte es.

»Mit Schnaps«, sagte ich. Das Mädchen griff nach einer Flasche, und ich überlegte mir, ob mich je in meinem Leben ein weibliches Wesen schon einmal so schamlos wissend angeschaut hätte. Dieser Blick schien bis auf den Grund meines Mannestums dringen zu wollen, als möchte er erfahren, was ich als Mann gelte; ich empfand ihn wie etwas Körperliches, etwas schmerzlich süß Beleidigendes, als sei ich nackt ausgezogen worden vor diesen Augen.

Das Glas war gefüllt, es wurde zu mir über den Zink geschoben, die Lider hatten sich wieder gesenkt, das Mädchen wandte sich an den Burschen; mein Urteil war gesprochen. Ich hob das Glas, zögerte – und schüttete den Inhalt in einem plötzlichen Entschluss in die Mundhöhle. Es brannte atemraubend, dann verschluckte ich mich, zwang die Flüssigkeit aber doch die Kehle hinunter. Ich fühlte sie brennend und beizend hinunterrinnen – und in meinem Magen entstand ein plötzliches Gefühl von Wärme, einer wohltuenden, heiteren Wärme. Dann mußte ich mich am ganzen Leibe schütteln. Der Maurer sagte halblaut: »Die sich so schütteln, das sind die Schlimmsten«, und das Mädchen lachte kurz. Ich legte eine Mark auf den Zink und verließ ohne ein weiteres Wort die Gaststätte.

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