Altes Herz geht auf die Reise

Текст
0
Отзывы
Читать фрагмент
Отметить прочитанной
Как читать книгу после покупки
Altes Herz geht auf die Reise
Шрифт:Меньше АаБольше Аа

Hans Fallada ALTES HERZ GEHT AUF DIE REISE

1

Professor Gotthold Kittguß wird von einem Engel besucht und nach Unsadel gesandt

Es war einmal ein alter Professor namens Gotthold Kittguß, der hatte weder Weib noch Kind. Bis zu seinem fünfzigsten Lebensjahr war er schlecht und recht an einem Berliner Gymnasium Lehrer der christ-evangelischen Religion gewesen. Zudem hatte er die jüngeren Jahrgänge in die lateinische und griechische Sprache eingeführt, während er mit den älteren, soweit sie sich später der Gottesgelehrsamkeit widmen wollten, das Neue Testament im griechischen Text gelesen und das Hebräische exerziert hatte.

Diese fünfundzwanzig Jahre seines Lehrerdaseins hatte eine wahre Liebe zu den heranwachsenden Knaben erwärmt, und sein eifrigstes Bemühen war dahin gegangen, ihnen nicht nur die Schrift, sondern auch den Geist, der in dieser Schrift wohnt, recht faßlich zu machen. Viele Male schon hatte er den Jungen das Neue Testament erklärt und damit auch die Offenbarung Johannis, aber nie hatte er versucht, gerade an dieses letzte und ihm sehr liebe Buch der Heiligen Schrift mit eigenen Deutungen heranzugehen.

»Da aber ließ mir«, wie er in seinem Tagebuch niedergeschrieben, »der Herr mit einemmal ein Licht aufgehen, durch das mir die Pforte zum göttlichen Bau der Offenbarung aufgeschlossen ward. ›Wie‹, fragte ich mich, ›wenn zwar für die Herrlichkeit des vollendeten Reiches Gottes keine Zeitschranke gesetzt wäre, wohl aber für den vorangehenden Jammer, welcher der Weg zu dieser Herrlichkeit ist?‹ Mit der stärksten Klarheit und Überzeugung stellte sich diese Vermutung vor meine Seele, und ich ward so sehr von ihr eingenommen, daß ich nicht mehr imstande war, die Unterrichtung meiner Knaben fortzusetzen …«

Trotz mancher an ihn gerichteten Bitte von Mitlehrenden und Schülern suchte er um seine Pensionierung nach, die ihm schließlich auch gewährt wurde. Und nun zog er sich ganz in seine Berechnungen, Textvergleichungen und Schriftdeutungen zurück.

Nur einem Studienfreunde von ehemals, einem Geistlichen Thürke im Mecklenburger Lande, hatte er von den tieferen Gründen zur Veränderung seiner Lebensumstände Mitteilung gemacht, und zwar mit den Briefworten: »Es ist mir nicht möglich, Dir eine Nachricht vorzuenthalten, von der ich gleichwohl wünschen muß, daß Du sie vorerst ganz für Dich behältst … Unter dem Beistand des Herrn habe ich die Zahl des Tieres gefunden. Dieser apokalyptische Schlüssel ist von Wichtigkeit, denn diejenigen, welche jetzt geboren sind, kommen in wunderbare Zeiten hinein. Auch Du hast Dich darauf gefaßt zu machen, denn Weisheit wird nottun …«

Dies war im Dezember geschrieben, und es wurde März, ehe Professor Kittguß eine Antwort seines Freundes Thürke in Händen hielt: Es sei ihnen ein Töchterchen geboren, das in der Taufe den Namen Rosemarie erhalten habe, und als Taufpaten habe man auch den Herrn Professor Gotthold Kittguß in das Kirchenbuch eingetragen, weswegen man seine Zustimmung erhoffe. – Es freuten den Freund die wunderbaren Zeiten, denen dies Mägdlein entgegengehe! Indessen möge er, der Kittguß, seine Untersuchungen beschleunigen und sobald wie tunlich abreisen in die ländliche Pfarre, sich das Patenkind zu beschauen. Auch auf dem Lande fehle es nicht an Zeichen kommender guter Zeiten: in diesem Jahre sei der Frühling eher, denn je erhört, gekommen, auf dem Kirchgang seien die Schwalben schon über dem Täufling mit ihrem Zwi-Wit hingeschossen …

Professor Kittguß hatte einen Augenblick nachsinnend über diesem Brief gesessen, in seiner dunklen Wohnung war es für eine kurze Frist hell gewesen; er hatte den Brief auch beantworten wollen. Dann aber war er zwischen andere Papiere geraten, die Berechnungen, was eine halbe Zeit, ein Kairos, und eine gemessene Ewigkeit, ein Äon seien, hatten den Professor wieder ganz gefangengenommen. Und so blieb der Brief unbeantwortet und vergessen, durch sechzehn Jahre, wie die ganze Umwelt vergessen und ohne Lebenszeichen vom Professor blieb.

Wir haben ihn uns in all diesen fast nur hinter dem Schreibtisch verbrachten Jahren vorzustellen als einen immer noch ansehnlichen, großen Mann mit einem breiten, fleischigen, weißen Gesicht, festem Kinn, starken, dunklen Augenbrauen, braunen, freundlichen, aber etwas fremden Augen und sorgfältig gescheiteltem, weißem, etwas gewelltem Haar. Er gab viel auf Sauberkeit, stets war er glatt rasiert, seine weißen Halsbinden waren sorgfältig gestärkt und geplättet, seine weißen, sehr kleinen, etwas vollen Hände, an deren Handgelenken erst da und dort der erste gelbe Altersfleck auftauchte, trugen trotz aller Bücher und Schreibereien nie ein Spürchen Staub oder Tinte.

Betreut wurde der Professor von der Witwe Müller, die hinten in der Küchenregion lautlos wirtschaftete, lautlos ihm das Essen hinstellte, an jedem Sonnabend ungefragt die frische Wäsche über den Stuhl legte und nie ein überflüssiges Wort sprach.

Die beiden waren so ineinander eingelebt, daß sie oft viele Wochen nicht einmal miteinander sprachen. An jedem Morgen jedes Monatsletzten fand Professor Kittguß über seinen Schreibtischsessel gebreitet liegen: den Mantel, dazu den Hut und den Stock. Aus einer Lade hob er dann das Sparbuch, ging langsam durch die Straßen zu seiner Kasse, wartete bedächtig versonnen am Schalter, bis er angesprochen wurde, hob das – immer gleiche – Wirtschaftsgeld ab, ließ den Rest der Pension seinem Guthaben zuschreiben und ging langsam – jetzt schon wieder voll mit seiner Arbeit beschäftigt – nach Haus. Dort wartete bereits im Flur die Müllern – nahm Mantel, Hut, Stock und Wirtschaftsgeld wortlos entgegen, und Professor Kittguß setzte sich wieder für einen neuen Monat an seine geduldige, grüblerische Arbeit.

Zu Beginn seiner Studien hatte er in der Erleuchtung gemeint, dem Ziele ganz nahe zu sein. Aber je länger er arbeitete, um so ferner schien es zu rücken. Er saß und sann und grübelte über jedem Wort, und die Jahre rannen dahin. Aber wenn wir von ihrer sechzehn gesprochen haben, so muß bemerkt werden, daß Professor Kittguß von dieser Zahl nichts wußte, denn sie waren ihm alle wie ein Tag. Daß er selbst nun schon stark auf die siebziger Jahre seines Lebensalters losmarschierte, war ihm noch nie bewußt geworden über der Auslegung eines Briefes, wie dieser ist: »Und ich hörete eine Stimme in der Mitte der vier Tiere sagen: Ein Vierling Weizen um einen Zehner und drei Vierling Gersten um einen Zehner, und dem Öl und dem Wein tue kein Leid.«

Er saß und las und sann und schlug nach und bedachte dieses und jenes, und schließlich schrieb er nieder: »Hier ist die Rede von einer Zeit, die für das Öl und den Wein besser ist als für die Gerste und den Weizen. Alles miteinander aber zielt auf eine gemäßigte Teuerung. Weizen und Gerste, Öl und Wein sind die gemeinsten und nötigsten Lebensmittel. Also hält der hier gegebene Befehl gar viel in sich. Unter Trajans Regierung hat es, besonders im Süden, in Ägypten, das sonst ein fruchtbares Land und vieler Völker Kornboden war, eine namhafte Teuerung gegeben. Wenn der Nil sich nicht hoch genug, sondern unter vierzehn Schuh ergoß, gab es gewiß Teuerungen, wie Plinius Buch 5, Kapitel 9 bezeugt. Anno 110 im dreizehnten Jahre Trajans stieg der Nil nur auf sieben Schuh, wie Harduinus mit einer alten Münze beweist …«

So weit war Professor Kittguß mit seiner Auslegung der Offenbarung Johannis an diesem trüben Oktobernachmittag des Jahres 1912 gekommen, als ihm bewußt ward, daß es an seiner Tür gepocht hatte, daß jemand an seinem Schreibtisch stand. Langsam und ein wenig widerwillig blickte er hoch und sah in das Gesicht der Witwe Müller. Dieses Gesicht drückte so vielerlei aus, vom Unwillen über die Störung an, die sie verursachen mußte, bis zu einem gewissen, ziemlich deutlichen Ekel, daß er ganz unwillkürlich sein Schweigen brach und fragte: »Nun, Witwe Müller, was gibt es?«

»Ein Junge«, flüsterte die Witwe Müller unwillig.

»Also ein Junge«, antwortete der Professor beruhigend, und eine Erinnerung an seine Lehrerjahre kam ihm. Er sah zur Tür und meinte schon den Klassenprimus Porzig eintreten zu sehen, die rote Schülermütze mit dem weißen Band in der Hand. Manchmal hatte Porzig – oder auch ein anderer – ihn in solch dämmriger Stunde aufgesucht und hatte die eine oder andere Frage gestellt, die schließlich alle darauf hinausliefen: wenn ich gläubig bin, muß ich alles glauben?

Wie eine Vorahnung kommender Ereignisse rührte den alten Professor ein Erinnern an jenes holde, vertrauensvolle Ehemals an – er sah auf die Tür, die Müllern …

Er vergaß, daß der Klassenprimus Porzig jetzt ein Mann Mitte der Dreißiger sein mußte, daß ihm eine sehr lange Spanne Zeit über dem Papier zerronnen war, daß es unter den jetzt Jungen niemanden gab, der auch nur seinen Namen wußte.

Beinahe lächelnd sagte der alte Mann: »Und warum kommt der Junge nicht herein, Frau Müller?«

Die Müller wußte viel von ihrem Herrn, sie hatte ihn schon verstanden. »Nicht solch ein Junge«, murmelte sie unwillig.

»Nun, was es auch für ein Junge sei«, sagte der Professor fröhlich und stand groß und stattlich hinter seinem Schreibtisch auf, »lassen Sie ihn herein, Witwe Müller. Unsere Tür ist niemandem verschlossen.«

Er nickte ihr aufmunternd zu und ging selbst, das Deckenlicht einzuschalten. Dann blieb er stehen und sah auf die Tür.

Die Tür aber tat sich einen Spalt weit auf, und herein schob sich ein Geschöpf, ein Sohn Labans, ein trauriger Bengel, verdreckt und verkommen. Da stand er auf der Kokosmatte, eine alte Mütze in der Hand drehend, und sah nicht hoch und sprach kein Wort.

Nie in seinem ganzen behüteten Leben hatte der Professor Kittguß solch ein Geschöpf gesehen. Aber da stand es nun: überlang, mit schlottrigen Gliedern, die roten, unförmigen Hände waren geschwollen und aufgesprungen. Das Gesicht, sterbensbleich, mit einer riesigen, betrübten Nase, wulstigen Lippen, die halb offenstanden und gelbe große Pferdezähne sehen ließen, und dazu eine niedrige, weit vorgebuckelte Stirn, unter der die kleinen blicklosen Augen fast verschwanden –: so stand der Besucher da: ein armer Tölpel … Und es griff dem Professor ans Herz, daß auch dieser Schwachsinnige ein Geschöpf Gottes sei, mit weniger Gaben für dies Leben als die meisten, mit einem dafür um so schwereren Weg …

 

Kittguß sah zur Tür, die Müllern hatte sie nicht ganz geschlossen, sicher stand sie Wache auf dem Flur. Der Professor reichte an dem Jungen vorbei und zog die Tür sachte ins Schloß. Dann ging er zum Schreibtisch, aber er ging nicht an seinen Schreibplatz, er stellte sich vor ihn hin. Die Arbeit lag ihm im Rücken, Kittguß sah auf den Besucher.

Der stand noch immer wortlos, blicklos da, als wüßte er nicht, warum er hier stünde.

»Wie heißt du, mein Junge?« fragte der Professor sanft.

Die Antwort kam überraschend schnell, mit einer überraschend tiefen, rauhen Stimme: »Dat segg ick nich!«

Kittguß überdachte den Fall. Vielleicht war der Junge fehlgelaufen. »Ich heiße Gotthold Kittguß«, erklärte er.

»Dat weet ick!« sagte der Besucher wiederum rasch und rauh.

»Sprichst du nur plattdeutsch?« fragte der Professor.

»Joa!« antwortete der Junge.

»Von wo bist du denn?«

»Dat segg ick nich!« kam’s wieder, rauh und böse.

Eine Weile war Stille, der Professor sah sich zweifelnd in seinem Arbeitszimmer um. Das Deckenlicht beleuchtete friedlich die Regale, deren Bretter sich unter der Last der Bücher krumm gezogen hatten. Es warf seinen Schein auf den Berg beschriebenen, teils schon vergilbenden Papiers, der griffbereit neben dem Schreibtisch in einem Ständer lag. Es verklärte auch die heutige Tagesarbeit auf dem grünen Filztuch, die vorwurfsvoll das Ende der Unterbrechung abzuwarten schien.

»Man müßte«, dachte der Professor, »hierzu auch noch den jüngeren Plinius zitieren, der als ganz Ungewöhnliches gemeldet hat, daß Trajan Anno 98 den Ägyptern mit Brotfrucht aushelfen mußte …« Darüber fiel ihm etwas ein. Er ging hinter den Schreibtisch und öffnete ein Fach, in dem er zur Linderung seines Hustens einen braunen Malzzucker aufbewahrte. Er wählte ein großes Stück, machte einen Schritt nach dem Besucher hin, kehrte aber wieder um und nahm noch ein kleines Stück dazu. Das große gab er dem Jungen in die Hände, das kleine behielt er selbst. »Da, iß, Junge«, sagte er. »Es ist Zucker. Ich esse auch davon.«

Der Junge wollte das Stück Zucker zurückweisen, es wurde ihm schwer. In das arme, ausdrucklose Narrengesicht kam etwas wie Leben, in den Augen wurde etwas wach wie ein Blick …

»Du magst ruhig essen«, sagte der Professor sanft, »deswegen brauchst du mir doch nicht zu sagen, was du nicht willst.«

Der Junge aß gierig. Mittendrin deutete er mit dem Kopf nach dem Schreibtisch. »Se schriew’n? Jümmer?«

Der Professor erriet mehr, als er verstand. »Ja, ich schreibe«, antwortete er. »Meistens.«

»Setten Se sick dal«, sagte der Junge. »Un schriewen Se!«

»Was soll ich schreiben?«

»Wat Se süs (sonst) schriewen. Ick will sehn … Ick will sehn …«

»Was willst du sehen?«

Aber der Junge antwortete nicht. Er war mit seinem Zucker fertig und stand nun wieder blick- und bewegungslos auf der Kokosmatte. Der Professor betrachtete ihn aufmunternd. Vielleicht steckte doch ein Sinn hinter all dieser Hilflosigkeit und Blödheit. Er machte ein paar Schritte, zögerte, tat noch einen Blick – nichts war verändert – und setzte sich auf den Sessel.

Er sah in das Geschriebene …: »Wie Harduinus mit einer alten Münze beweist«, stand da.

»Richtig. Nun wollte ich noch den jüngeren Plinius anführen.« Und laut sprach er. »Setze dich doch hin, mein Junge, da auf den Stuhl, du siehst müde aus.« Und wieder zu sich: »Steht er noch da? Unverändert. Beinahe ist es wie ein Traum. Hätte ihn die Müllern nicht gebracht … Also, der jüngere Plinius. Er muß es in seiner Lobrede auf Trajan Anno 100 gesagt haben …«

Die rotgeschwollene Hand schob sich ihm zwischen Auge und Manuskript. Sie verschwand, und auf der Erklärten Offenbarung Johannis lag ein Zettel, ein Wisch, ein schmutziges Blatt, sichtlich aus einem Schulheft gerissen, aber ebenso sichtlich am rechten Platz, denn: »Herrn Professor Gotthold Kittguß« stand darauf zu lesen. Der Professor sah hoch, der Junge war lautlos auf den Platz an der Tür zurückgeglitten. Wieder hatte er sich nicht gesetzt, sondern stand dort mit einem Gesichtsausdruck, als grübele er etwa über dem Unterschied zwischen Schaf und Kuh.

»Herrn Professor Gotthold Kittguß« stand noch immer auf dem Schreiblappen. Für dieses Mal dachte der Professor nicht an das kostbare Manuskript, das darunter lag. Er entfaltete das nur ineinandergesteckte Blatt, las die Überschrift, stutzte, las noch einmal, sah zur Tür (der Junge stand) und machte sich endlich an den Brief.

»Lieber Pate«, las er. »Bei uns in Unsadel geht die Rede: ein Gau ist rauh, aber ein Schlieker ist ein Betrüger. Erst bin ich bei den Gauens geschlagen, nun wollen die Schliekers mich um mein Erbteil bringen. Du hast meinem seligen Vater die wunderbaren Zeiten, in die ich hineingeboren sei, zugesagt – willst Du nicht einmal kommen und nach mir sehen? Es eilt sehr. Matthäus 7,7. Deine Rosemarie«

Eine Nachschrift: »Ob Du kommst oder nicht, gib dem Philipp Geld für Essen, er hat zwei Tage zurückzulaufen.«

Die zweite Nachschrift: »Er soll Dir den Brief nur geben, wenn Du der rechte Mann für uns bist.«

»Oh, mein Herr und mein Gott!« rief Professor Kittguß über diesem jämmerlich stolzen Brief zu sich und legte die Hände recht theatralisch an den Kopf: »Was soll dies?! Was soll mir dies?!«

Er starrte auf den Brief. Ihm war wie einem Schläfer, der, aus einem sanften Traum geweckt, in einen schlimmeren Traum verstrickt wird, der nicht mehr weiß: wacht er, schläft er, wo ist er?

»Ein Gau ist rauh, aber ein Schlieker ist ein Betrüger«, murmelte er. »Rosemarie – Philipp – zwei Tage Weg – Narren und Narrenstreiche«, dachte er unwillig. »Philipp!«

Etwas wie ein Geräusch ließ ihn hochsehen, er blickte zur Tür, der Platz an der Tür war leer. Mit einem völlig jugendlichen Ruck war der Professor hoch und lief, »Frau Müller! Frau Müller!« rufend, in den Flur.

Die Tür zum Treppenhaus stand offen, er meinte Poltern auf den unteren Stufen zu hören. »Der Junge, der arme, blödsinnige Junge – ich muß ihm Geld geben!« rief er aufgeregt zur Müllern.

Seine Versorgerin sah ihn wortlos an.

Er überwand sich. »Philipp!« rief er ins Treppenhaus hinab. »Philipp! Du bekommst noch Geld …«

Der Professor wurde ein wenig rot unter dem Blick der Müllern. »Er hat noch zwei Tage zu laufen«, versuchte er zu erklären. »Und er hat Hunger. Ich habe es gesehen, als er meinen Malzzucker aß …«

»Ihren bayerischen Malzzucker, Herr Professor«, sagte die Müllern voll Empörung. »Solche wie die«, erklärte sie mit all der Verachtung der Armen für die Ärmsten, »kommen nie um.«

»Frau Müller, Witwe Müller«, sagte der Professor mit erhobener Stimme, »was steht Matthäus 7,7?«

Sie antwortete nicht, aber sie lavierte den Aufgeregten, ohne daß er dessen achtete, in sein Zimmer zurück.

»Bittet, so wird euch gegeben; suchet, so werdet ihr finden; klopfet an, so wird euch aufgetan.«

Er stand an seinem Schreibtisch, in der stillen, geborgenen Helle des Arbeitszimmers, ein alter, noch stattlicher Mann, zur Stunde ein wenig erregt.

»Ich«, sagte er leise, »bin gebeten worden. Ich«, sagte er, »bin gesucht worden. Bei mir hat er angeklopft. Frau Müller, ich fahre morgen nach Unsadel.«

»Unsadel?« fragte die Müllern, »wo ist denn das?«

»Ich weiß es nicht«, sagte der Professor. »Aber auf der Eisenbahn werden sie es wissen. Dies zu wissen ist dort ihr Beruf.«

»Eisenbahn!« verwirrte sich Frau Müller und war sofort den Tränen nahe. »Herr Professor, ich bin siebenundzwanzig Jahre bei Ihnen, und Sie sind nie mit der Eisenbahn gefahren!«

»Das hat hiermit nichts zu tun«, antwortete der Professor milde. »Dies heißt den Fall zu weiblich betrachten.«

»Und Ihre Arbeit?« rief die Müllern, warf einen Blick auf den Schreibtisch und brach nun wirklich in Tränen aus. »Ihre Arbeit, Herr Professor?! Ich hatte mich so gefreut, Sie kamen in der letzten Zeit so gut voran.«

»Meine Arbeit?« fragte der Professor betroffen und sah mit ihr auf den Tisch voll Papier. »Ja freilich, meine Arbeit. Haben Sie mitgelesen? Ist sie gut?«

»Und ob sie gut ist!« rief die zu weiblich denkende Müllern. »Eine ganze Seite haben Sie in der letzten Woche jeden Tag geschrieben!«

»Meine Arbeit«, sagte der Professor noch einmal wehmütig. Er schwankte. Aber auf ihren Blättern lag der Brief, nicht mehr fortzudenken. Er hob ihn auf. Mit festerer Stimme sagte er: »Hier steht Matthäus 7,7. Das ist unverbrüchlich. Ich bin gerufen.«

»Von solchem Schmierian, Herr Professor!« widersprach die Witwe Müller.

»Liebe Witwe Müller«, sagte der Professor Gotthold Kittguß und war nun wieder ganz daheim in seiner milden Ferne. »Es ist ausgemacht und mit vielen Stellen der Heiligen Schrift belegt, daß Gott seine Boten und Engel durchaus nicht immer in der seligen weißen Flügelgestalt auf diese Erde sendet, wie wir als einfältige Kinder wähnten.«

Und als die Müllern noch weiter widersprechen wollte: »Genug und übergenug, es ist endgültig beschlossen: ich folge dem Ruf. Morgen in der Frühe fahre ich nach Unsadel.«

2

Professor Kittguß sieht einen fetten Bauern am Baum hängen und ein Mädchen am Zaun weinen

Der frühe Oktobernachmittag war sonnig und windstill. Dennoch – wenn Professor Kittguß bei seinem Marsch auf dem sandigen Heckenweg einen Vogel im Geäst aufscheuchte, glitten lautlos von der flügelschlagenden Flucht des Tieres viele goldene, rote und braune Blätter zur Erde.

Langsam und bedächtig wandelte der alte Lehrer den Sandweg. Ab und zu blieb er stehen, setzte die Reisetasche ab, trocknete die Stirn vom Schweiß der ungewohnten Anstrengung und zog die Uhr zu Rate. Nun ging er schon fast zwei Stunden, auf der Station aber hatten sie gesagt, es sei nur eine knappe Stunde bis Unsadel. Doch soviel er auch nach Haus und Mensch aussah, es waren nur die Hecken da und hinter den Hecktoren herbstlich stille Äcker.

»Ja, ja«, seufzte der Professor, aber er war nicht unzufrieden, nein, die weite Stille mit dem hohen, blaßblauen Himmel darüber tat ihm wohl. »Den Abendzug heute werde ich freilich nicht mehr erreichen. Nun – es wird sich Gelegenheit finden, im Dorf zu übernachten. Und um so gründlicher kann ich dann bis morgen abend alles regeln.«

Was dies »Alles-Regeln« eigentlich hieß, davon hatte er nur eine sehr unklare, nein, gar keine Vorstellung aber –: »Die Rosemarie wird mir schon sagen, was ich zu tun habe. Irgendwie wird es sich um ihr Erbteil handeln.«

Er seufzte wieder »Ja, ja«, nahm die Tasche und wandelte weiter. Die Hecken schienen kein Ende zu nehmen, der einsame Sandweg schlängelte sich bald nach rechts, bald nach links. Manchmal stand auch eine hohe Pappel oder eine Weide da, dann betrachtete der Professor den Baum, beifällig nickend, »Ja, ja«, und setzte sich langsam wieder in Gang.

Eben stellte er fest, daß er nun schon zweiundeinehalbe Stunde unterwegs war, als er wie eine Frucht zwischen den Heckenzweigen das Gesicht eines Jungen über sich entdeckte, ein derbes, rotes Gesicht, mit einem blonden, gänzlich ungekämmten Schopf darüber. Dies Gesicht betrachtete den Professor scharf.

»Lieber Sohn«, fragte der. »Wie lange gehe ich noch bis Unsadel?«

»Sie sollen nicht nach Rosemarie fragen, sondern bei Päule Schlieker ein Zimmer mieten«, flüsterte der Junge eindringlich.

»Lieber Sohn!« rief der Professor. »Lieber Junge, warte doch …«

Aber die Zweige rauschten auf, und die Hecke war ohne Gesicht.

Der Junge, lieb oder nicht, war fort. Der Professor trabte beinahe zum nächsten Hecktor, doch auf der Koppel hinter der Hecke sah er nur Rinder und einen wolligen Schäferspitz, der wütend zu bellen anfing. Kein Junge – soviel auch der Professor gegen das Gebell anlocken mochte.

So ging er denn schließlich weiter, verwundert, verdrossen. »Nicht fragen soll ich, sondern einfach bei Päule Schlieker mieten … Aber ein Schlieker ist ein Betrüger … Man sollte solch bösen, ehrabschneiderischen Reim nicht einmal im Scherz sagen …: Päule … was das nun wieder soll? Paul?«

 

Plötzlich hörten die Hecken auf. Licht und weit wurde das Land, Felder und Wiesen flossen sanft zu einem großen, grünen See hinab. Drüben, am jenseitigen Ufer, stieg in allen lodernden Herbstfarben ein Wald uferan, aber auf dieser Seeseite lag mit roten Ziegeldächern und altersschwarzen Strohhauben das Dorf. Der Professor schritt rascher aus.

Am Eingang des Dorfs stand feierlich, mit ruhenden Flügeln, eine große Windmühle. Hühner suchten verloren, ohne sich um den Wanderer zu kümmern, auf der Straße ihr Futter; eine Schar Gänse kreuzte, eifrig schnatternd, seinen Weg; eine Katze sah, regungslos auf den Latten eines Zauns hockend, wie verzaubert den Professor an.

Aber kein Mensch – Professor Kittguß sah in jedes Fenster, spähte in jeden Hofraum –: nein, kein Mensch. Er hörte die Pferde im Stall scharren, Kühe rasselten mit ihren Ketten – aber an diesem gesegneten Wochentagnachmittag war kein Mensch sichtbar in Haus, Hof, Straße, Dorf.

Nun stand da eine stattliche Wirtschaft mit breiten, einladenden Steinstufen am Wege. »Krug von Otto Beier« war zu lesen über der Haustür.

Erleichtert trat Professor Kittguß auf den dämmrigen Hausflur, an einer Tür entzifferte er die Inschrift »Gaststube«, er klopfte, er trat ein. Ein paar Tische, eine Theke, die Flaschen hinter der Theke, die Gläser auf der Theke, ein Strickstrumpf mit dem Knäuel daneben im grünen Sofa – aber kein Mensch.

Professor Kittguß wartete, er ging hin und her, er scharrte mit den Füßen, er räusperte sich, er hustete, er rief mit schwacher, dann mit starker Stimme: »Ach, bitte!«

Aber kein Mensch.

Er klopfte gegen eine Tür, er klopfte noch einmal, er klinkte sie vorsichtig auf – und sah in den weiten, leeren, staubigen Tanzsaal. Verschmutzt und zerknittert hingen von der Decke grüne Papiergirlanden, auf der Bühne lagen umgeworfene Stühle – aber kein Mensch.

Kopfschüttelnd klopfte der Professor an eine zweite Tür und kam in ein kleines, düsteres Zimmer. Auf dem ungedeckten, fleckigen Holztisch stand eine Terrine, benutzte Teller und Löffel, als seien sie von den Essern hastig aus der Hand gelegt. Professor Kittguß sah sich um, sah sich wieder um, rief: kein Mensch. Er beugte sich über die Terrine, der Suppengeruch erinnerte ihn daran, daß er seit dem frühen Morgen, seit seinem Abschied von der Müllern nichts gegessen hatte. Ihm wurde ein wenig schwach.

Eiliger ging er, nach hastigem Anklopfen, in den vierten Raum. Bei seinem Eintritt lief das Heer der Schaben, leise rasselnd und knitternd, über Herd und schmutzigen Backsteinboden in die bergenden Ritzen.

Noch eine Tür – und von der Steinschwelle sah Professor Kittguß in einen herbstlichen, verliederten Garten, mit zerscharrtem, vertrampeltem Gras, zusammengeklappten Eisentischen, traurig verkommenen Bäumen. Unten aber an seinem Ende leuchtete der grüne, große, reine See, golden lodernd stieg feierlich schweigend der Buchenwald uferan. Eine Weile sah der Professor still auf das schöne Bild, seufzte »Ja, ja« und ging durch den verlassenen Gasthof auf die verlassene Dorfstraße zurück, weiter hinein in dies verlassene Dorf.

Zum erstenmal auf seiner abenteuerlichen Fahrt, zum erstenmal seit vielen, vielen Jahren hatte ihn ein seltsames Gefühl angerührt, ein Gefühl aus seinen Jugendjahren. Im Anblick des schweigenden Landes, hinter sich den verkommenen Gasthof, hatte er zu sich gesprochen: »Welch wunderbare Wege führst du deine Kinder, Herr!« Und an die Stille seines Studierzimmers hatte er dabei gedacht, das er nun, am Rande des Greisenalters, auf die Botschaft welch seltsamen Engels verlassen hatte, um einer Ungewißheit entgegenzugehen, der er sich längst entrückt glaubte.

Aufatmend hörte er plötzlich Geschwirr von vielen Stimmen, Gelächter, Zurufe, Schreie. Rascher schritt er aus. Ein offenes Tor führte ihn zu einer großen Hofstatt, auf der das ganze Dorf versammelt schien. Was irgend gehen, was nur kriechen konnte, stand hier, lachend, schwatzend oder stumm wartend: alte Bauern und junge Arbeitsleute, Frauen, unter der bedruckten blauen Schürze die Hände, junge, derbe Burschen in hohen Stiefeln. Schulkinder drängten sich überall durch das Gewimmel, die jungen Mädchen hatten die Köpfe zusammengesteckt und flüsterten. Und alle, alle sahen sie so gespannt nach der breitästigen, uralten Linde in der Mitte des Hofs, daß sie nicht einmal den näher tretenden Fremden, den Professor Kittguß, beachteten.

Der aber sah staunend hängen an einem hohen Ast der Linde einen starken Balken wie einen Wiegebalken. Und an dem Wiegebalken hingen zwei Schalen, groß und kräftig. Aus festen Brettern gefertigt. In der einen Schale aber schwebte ein ungeheurer, dicker Bauersmann mit fröhlich lachendem, rotem Gesicht, in der anderen aber, noch leichteren Schale, türmte es sich hoch von geräucherten braunen Würsten, fast schwarzen, derben Schinken, langen, goldbraunen Speckseiten.

»Seht ihr, es reicht nicht, es reicht immer noch nicht!« rief der fette Bauer, vor fröhlichem Lachen prustend. »Ich hab’s dir längst gesagt, Lowising, deine ganze Räucherkammer wird dieses Jahr leer!« Er sah sich triumphierend um: »Habt ihr das gedacht?! Klugschnacker! Im vorigen Jahr habt ihr schon gesagt, ich könnte nicht mehr dicker werden – und nun bin ich doch noch wieder dicker geworden!« Er lachte triumphierend, und alle lachten mit. »Lauf, Lowising, hilf ihr, Maxe, min Söning. Holt noch den Schinken von der Fünfzentnersau! Dann wird es reichen!«

Von seiner unbekümmerten Fröhlichkeit angesteckt, liefen eine große, derbknochige Bauersfrau und ein starker Bengel ins Haus.

»Ihr da! Fritze, mein Gerhardchen, komm auch du, Elli, haltet meine Schaukel ein wenig fest, sie schwankt so! Heute mittag hab ich gesulzten Aal mit Bratkartoffeln gegessen, der wird mir wieder lebendig von der Schaukelei. Ich fühl’s, wie er sich schlängelt …« Er lachte. »So ist es besser, Kinder. – Wirst du ruhig sein, Aal!« schrie er plötzlich. »Es schaukelt jetzt gar nicht mehr, nichts hast du noch zu krabbeln in mir!«

»Oh, bitte!« flüsterte Professor Kittguß zu seinem Nachbarn. »Was geschieht hier?«

Der fragte erstaunt: »Haben Sie noch nie von dem lustigen Bauern Tamm in Unsadel gehört?«

»Nein«, sagte der Professor gehorsam.

»Dann kommen Sie von weit her«, entschied der Mann. »Hier im Lande weiß vom dicken Tamm jeder.«

»Ich nicht«, sagte der Professor sanft.

»Dies ist so einer von seinen Narrenstreichen. Jeden Herbst vor dem ersten Schlachten schenkt er sein volles Gewicht in Geräuchertem den Dorfarmen. Damit seine Räucherkammer leer wird und er was lachen kann. – Da – das wird reichen!«

Aus dem Haus waren Frau und Bursche gekommen, einen ungeheuren Schinken schleppend. Sie legten ihn auf die Schale. Der große Wiegebalken bewegte sich seufzend in den Stricken, Fritze, Elli, Gerhardchen ließen den Bauern los. Der stieg und stieg in die Krone hinauf »Der Aal! Der Aal!« jammerte er und stieg schwankend weiter, indes die Schale mit dem Geräucherten zur Erde sank.

Viele jubelten: »Es reicht! Es reicht!«

»Es ist zuviel«, rief die Bauersfrau und wollte wenigstens eine Mettwurst retten.

»Laß sein, Lowising, immer sinnig! Was einmal auf der Schale liegt, bleibt. – Ist es reell mein Gewicht?« rief er gegen die Stallwand, wo die Alten standen.

»In Ordnung, Tamm!« – »Hat seinen Schick, Tamm!« riefen die zurück.

»Dann runter mit euch vom Hof!« befahl der Bauer, und während die Alten eilfertig fortzogen, Maxe hinter ihnen das Tor schloß, kletterte der Bauer unter Hilfe vieler ächzend von seinem Sitz. »Los, Kinder, lauft, Mädchen! Macht es ihnen schwer! Los! Los!«

Купите 3 книги одновременно и выберите четвёртую в подарок!

Чтобы воспользоваться акцией, добавьте нужные книги в корзину. Сделать это можно на странице каждой книги, либо в общем списке:

  1. Нажмите на многоточие
    рядом с книгой
  2. Выберите пункт
    «Добавить в корзину»