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Der Wahn und die Träume in W. Jensens »Gradiva«

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III

Im weiteren Verlaufe der Erzählung findet sich noch ein anderer Traum, der uns vielleicht noch mehr als der erste verlocken kann, seine Übersetzung und Einfügung in den Zusammenhang des seelischen Geschehens beim Helden zu versuchen. Aber wir ersparen wenig, wenn wir hier die Darstellung des Dichters verlassen, um direkt zu diesem zweiten Traum zu eilen, denn wer den Traum eines anderen deuten will, der kann nicht umhin, sich möglichst ausführlich um alles zu bekümmern, was der Träumer äußerlich und innerlich erlebt hat. Somit wäre es fast das beste, wenn wir beim Faden der Erzählung verblieben und diese fortlaufend mit unseren Glossen versähen.

Die Wahnneubildung vom Tode der Gradiva beim Untergang Pompejis im Jahre 79 ist nicht die einzige Nachwirkung des von uns analysierten ersten Traumes. Unmittelbar nachher entschließt sich Hanold zu einer Reise nach Italien, die ihn endlich nach Pompeji bringt. Vorher aber begibt sich noch etwas anderes mit ihm; aus dem Fenster lehnend, glaubt er auf der Straße eine Gestalt mit der Haltung und dem Gange seiner Gradiva zu bemerken, eilt ihr trotz seiner mangelhaften Bekleidung nach, erreicht sie aber nicht, sondern wird durch den Spott der Leute auf der Straße zurückgetrieben. Nachdem er wieder in sein Zimmer zurückgekehrt ist, ruft das Singen eines Kanarienvogels, dessen Käfig an einem Fenster des Hauses gegenüber hängt, eine Stimmung in ihm hervor, als ob auch er aus der Gefangenschaft in die Freiheit wollte, und die Frühjahrsreise ist ebenso schnell beschlossen wie ausgeführt.

Der Dichter hat diese Reise Hanolds in ganz besonders scharfes Licht gerückt und ihm selbst teilweise Klarheit über seine inneren Vorgänge gegönnt. Hanold hat sich selbstverständlich einen wissenschaftlichen Vorwand für sein Reisen angegeben, aber dieser hält nicht vor. Er weiß doch eigentlich, daß »ihm der Antrieb zur Reise aus einer unnennbaren Empfindung entsprungen war«. Eine eigentümliche Unruhe heißt ihn mit allem, was er antrifft, unzufrieden sein und treibt ihn von Rom nach Neapel, von dort nach Pompeji, ohne daß er sich, auch nicht in dieser letzten Station, in seiner Stimmung zurechtfände. Er ärgert sich über die Torheit der Hochzeitsreisenden und ist empört über die Frechheit der Stubenfliegen, die Pompejis Gasthäuser bevölkern. Aber endlich täuscht er sich nicht darüber, »daß seine Unbefriedigung wohl nicht allein durch das um ihn herum Befindliche verursacht werde, sondern etwas ihren Ursprung auch aus ihm selbst schöpfe«. Er hält sich für überreizt, fühlt, »daß er mißmutig sei, weil ihm etwas fehle, ohne daß er sich aufhellen könne, was. Und diese Mißstimmung bringt er überallhin mit sich«. In solcher Verfassung empört er sich sogar gegen seine Herrscherin, die Wissenschaft; wie er das erstemal in der Mittagssonnenglut durch Pompeji wandelt, »hatte seine ganze Wissenschaft ihn nicht allein verlassen, sondern ließ ihn auch ohne das geringste Begehren, sie wieder aufzufinden; er erinnerte sich ihrer nur wie aus einer weiten Ferne, und in seiner Empfindung war sie eine alte, eingetrocknete, langweilige Tante gewesen, das ledernste und überflüssigste Geschöpf auf der Welt«. (G. p. 55.)

In diesem unerquicklichen und verworrenen Gemütszustand löst sich ihm dann das eine der Rätsel, welche an dieser Reise hängen, in dem Moment, da er zuerst die Gradiva durch Pompeji schreiten sieht. Es kommt ihm »zum erstenmal zum Bewußtwerden: Er sei, ohne selbst von dem Antrieb in seinem Innern zu wissen, deshalb nach Italien und ohne Aufenthalt von Rom und Neapel bis Pompeji weitergefahren, um danach zu suchen, ob er hier Spuren von ihr auffinden könne. Und zwar im wörtlichen Sinne, denn bei ihrer besonderen Gangart mußte sie in der Asche einen von allen übrigen sich unterscheidenden Abdruck der Zehen hinterlassen haben«. (G. p. 58.)

Da der Dichter so viel Sorgfalt auf die Darstellung dieser Reise verwendet, muß es auch uns der Mühe wert sein, deren Verhältnis zum Wahn Hanolds und deren Stellung im Zusammenhang der Begebenheiten zu erläutern. Die Reise ist ein Unternehmen aus Motiven, welche die Person zunächst nicht erkennt und erst später sich eingesteht, Motiven, welche der Dichter direkt als »unbewußte« bezeichnet. Dies ist gewiß dem Leben abgelauscht; man braucht nicht im Wahn zu sein, um so zu handeln; vielmehr ist es ein alltägliches Vorkommnis, selbst bei Gesunden, daß sie sich über die Motive ihres Handelns täuschen und ihrer erst nachträglich bewußt werden, wenn nur ein Konflikt mehrerer Gefühlsströmungen ihnen die Bedingung für solche Verworrenheit herstellt. Die Reise Hanolds war also von Anfang an darauf angelegt, dem Wahne zu dienen, und sollte ihn nach Pompeji bringen, um die Nachforschung nach der Gradiva dort fortzusetzen. Wir erinnern, daß vor und unmittelbar nach dem Traum diese Nachforschung ihn erfüllte, und daß der Traum selbst nur eine von seinem Bewußtsein erstickte Antwort auf die Frage nach dem Aufenthalt der Gradiva war. Irgend eine Macht, die wir nicht erkennen, hemmt aber zunächst auch das Bewußtwerden des wahnhaften Vorsatzes, so daß zur bewußten Motivierung der Reise nur unzulängliche, streckenweise zu erneuernde Vorwände erübrigen. Ein anderes Rätsel gibt uns der Dichter auf, indem er den Traum, die Entdeckung der vermeintlichen Gradiva auf der Straße und die Entschließung zur Reise durch den Einfluß des singenden Kanarienvogels wie Zufälligkeiten ohne innere Beziehung aufeinander folgen läßt.

Mit Hilfe der Aufklärungen, die wir den späteren Reden der Zoë Bertgang entnehmen, wird dieses dunkle Stück der Erzählung für unser Verständnis erhellt. Es war wirklich das Urbild der Gradiva, Fräulein Zoë selbst, das Hanold von seinem Fenster aus auf der Straße schreiten sah (G. p. 89) und das er bald eingeholt hätte. Die Mitteilung des Traumes: sie lebt ja am heutigen Tage in der nämlichen Stadt wie du, hätte so durch einen glücklichen Zufall eine unwiderstehliche Bekräftigung erfahren, vor welcher sein inneres Sträuben zusammengebrochen wäre. Der Kanarienvogel aber, dessen Gesang Hanold in die Ferne trieb, gehörte Zoë, und sein Käfig stand an ihrem Fenster, dem Hause Hanolds schräg gegenüber. (G. p. 135.) Hanold, der nach der Anklage des Mädchens die Gabe der »negativen Halluzination« besaß, die Kunst verstand, auch gegenwärtige Personen nicht zu sehen und nicht zu erkennen, muß von Anfang an die unbewußte Kenntnis dessen gehabt haben, was wir erst spät erfahren. Die Zeichen der Nähe Zoës, ihr Erscheinen auf der Straße und der Gesang ihres Vogels so nahe seinem Fenster, verstärken die Wirkung des Traumes, und in dieser für seinen Widerstand gegen die Erotik so gefährlichen Situation – ergreift er die Flucht. Die Reise entspringt einem Aufraffen des Widerstandes nach jenem Vorstoß der Liebessehnsucht im Traum, einem Fluchtversuch von der leibhaftigen und gegenwärtigen Geliebten weg. Sie bedeutet praktisch einen Sieg der Verdrängung, die diesmal im Wahne die Oberhand behält, wie bei seinem früheren Tun, den »pedestrischen Untersuchungen« an Frauen und Mädchen, die Erotik siegreich gewesen war. Überall aber ist in diesem Schwanken des Kampfes die Kompromißnatur der Entscheidungen gewahrt; die Reise nach Pompeji, die von der lebenden Zoë wegführen soll, führt wenigstens zu ihrem Ersatz, zur Gradiva. Die Reise, die den latenten Traumgedanken zum Trotze unternommen wird, folgt doch der Weisung des manifesten Trauminhaltes nach Pompeji. So triumphiert der Wahn von neuem, jedesmal wenn Erotik und Widerstand von neuem streiten.

Diese Auffassung der Reise Hanolds als Flucht vor der in ihm erwachenden Liebessehnsucht nach der so nahen Geliebten harmoniert allein mit den bei ihm geschilderten Gemütszuständen während seines Aufenthaltes in Italien. Die ihn beherrschende Ablehnung der Erotik drückt sich dort in seiner Verabscheuung der Hochzeitsreisenden aus. Ein kleiner Traum im Albergo in Rom, veranlaßt durch die Nachbarschaft eines deutschen Liebespaares, »August und Grete«, deren Abendgespräch er durch die dünne Zwischenwand belauschen muß, wirft wie nachträglich ein Licht auf die erotischen Tendenzen seines ersten großen Traumes. Der neue Traum versetzt ihn wieder nach Pompeji, wo eben wieder der Vesuv ausbricht, und knüpft so an den während der Reise fortwirkenden Traum an. Aber unter den gefährdeten Personen gewahrt er diesmal – nicht wie früher sich und die Gradiva –, sondern den Apoll von Belvedere und die kapitolinische Venus, wohl als ironische Erhöhungen des Paares im Nachbarraum. Apoll hebt die Venus auf, trägt sie fort und legt sie auf einen Gegenstand im Dunkeln hin, der ein Wagen oder Karren zu sein scheint, denn ein »knarrender Ton« schallt davon her. Der Traum bedarf sonst keiner besonderen Kunst zu seiner Deutung. (G. p. 31.)

Unser Dichter, dem wir längst zutrauen, daß er auch keinen einzelnen Zug müßig und absichtslos in seiner Schilderung aufträgt, hat uns noch ein anderes Zeugnis für die Hanold auf der Reise beherrschende asexuelle Strömung gegeben. Während des stundenlangen Umherwanderns in Pompeji kommt es ihm »merkwürdigerweise nicht ein einziges Mal in Erinnerung, daß er vor einiger Zeit einmal geträumt habe, bei der Verschüttung Pompejis durch den Kraterausbruch im Jahre 79 zugegen gewesen zu sein«. (G. p. 47.) Erst beim Anblick der Gradiva besinnt er sich plötzlich dieses Traumes, wie ihm auch gleichzeitig das wahnhafte Motiv seiner rätselhaften Reise bewußt wird. Was könnte nun dies Vergessen des Traumes, diese Verdrängungsschranke zwischen dem Traum und dem Seelenzustand auf der Reise anders bedeuten, als daß die Reise nicht auf direkte Anregung des Traumes erfolgt ist, sondern in der Auflehnung gegen denselben, als Ausfluß einer seelischen Macht, die vom geheimen Sinne des Traumes nichts wissen will?

Anderseits aber wird Hanold dieses Sieges über seine Erotik nicht froh. Die unterdrückte seelische Regung bleibt stark genug, um sich durch Mißbehagen und Hemmung an der unterdrückenden zu rächen. Seine Sehnsucht hat sich in Unruhe und Unbefriedigung verwandelt, die ihm die Reise sinnlos erscheinen läßt; gehemmt ist die Einsicht in die Motivierung der Reise im Dienste des Wahnes, gestört sein Verhältnis zu seiner Wissenschaft, die an solchem Orte all sein Interesse rege machen sollte. So zeigt uns der Dichter seinen Helden nach seiner Flucht vor der Liebe in einer Art von Krisis, in einem gänzlich verworrenen und zerfahrenen Zustand, in einer Zerrüttung, wie sie auf der Höhe der Krankheitszustände vorzukommen pflegt, wenn keine der beiden streitenden Mächte mehr um so viel stärker ist als die andere, daß die Differenz ein strammes, seelisches Regime begründen könnte. Hier greift dann der Dichter helfend und schlichtend ein, denn an dieser Stelle läßt er die Gradiva auftreten, welche die Heilung des Wahnes unternimmt. Mit seiner Macht, die Schicksale der von ihm geschaffenen Menschen zum Guten zu lenken, trotz all der Notwendigkeiten, denen er sie gehorchen läßt, versetzt er das Mädchen, vor dem Hanold nach Pompeji geflohen ist, ebendahin und korrigiert so die Torheit, die der Wahn den jungen Mann begehen ließ, sich von dem Wohnort der leibhaftigen Geliebten zur Todesstätte der sie in der Phantasie ersetzenden zu begeben.

 

Mit dem Erscheinen der Zoë Bertgang als Gradiva, welches den Höhepunkt der Spannung in der Erzählung bezeichnet, tritt bald auch eine Wendung in unserem Interesse ein. Haben wir bisher die Entwicklung eines Wahnes miterlebt, so sollen wir jetzt Zeugen seiner Heilung werden und dürfen uns fragen, ob der Dichter den Hergang dieser Heilung bloß fabuliert oder im Anschluß an wirklich vorhandene Möglichkeiten gebildet hat. Nach Zoës eigenen Worten in der Unterhaltung mit der Freundin haben wir entschieden das Recht, ihr solche Heilungsabsicht zuzuschreiben. (G. p. 124.) Wie schickt sie sich aber dazu an? Nachdem sie die Entrüstung zurückgedrängt, welche die Zumutung, sich wieder wie »damals« zum Schlafen hinzulegen, bei ihr hervorgerufen, findet sie sich zur gleichen Mittagsstunde des nächsten Tages am nämlichen Orte ein und entlockt nun Hanold all das geheime Wissen, das ihr zum Verständnis seines Benehmens am Vortage gefehlt hat. Sie erfährt von seinem Traum, vom Reliefbild der Gradiva und von der Eigentümlichkeit des Ganges, welche sie mit diesem Bilde teilt. Sie akzeptiert die Rolle des für eine kurze Stunde zum Leben erwachten Gespenstes, welche, wie sie merkt, sein Wahn ihr zugeteilt, und weist ihm leise in mehrdeutigen Worten eine neue Stellung an, indem sie die Gräberblume von ihm annimmt, die er ohne bewußte Absicht mitgebracht, und das Bedauern ausspricht, daß er ihr nicht Rosen gegeben hat. (G. p. 90.)

Unser Interesse für das Benehmen des überlegen klugen Mädchens, welches beschlossen hat, sich den Jugendgeliebten zum Manne zu gewinnen, nachdem sie hinter seinem Wahn seine Liebe als treibende Kraft erkannt, wird aber an dieser Stelle wahrscheinlich von dem Befremden zurückgedrängt, welches dieser Wahn selbst bei uns erregen kann. Dessen letzte Ausgestaltung, daß die im Jahre 79 verschüttete Gradiva nun als Mittagsgespenst für eine Stunde mit ihm Rede tauschen könne, nach deren Ablauf sie versinke oder ihre Gruft wieder aufsuche, dieses Hirngespinst, welches weder durch die Wahrnehmung ihrer modernen Fußbekleidung noch durch ihre Unkenntnis der alten Sprachen und ihre Beherrschung des damals nicht existierenden Deutschen beirrt wird, scheint wohl die Bezeichnung des Dichters »Ein pompejanisches Phantasiestück« zu rechtfertigen, aber jedes Messen an der klinischen Wirklichkeit auszuschließen. Und doch scheint mir bei näherer Erwägung die Unwahrscheinlichkeit dieses Wahnes zum größeren Teile zu zergehen. Einen Teil der Verschuldung hat ja der Dichter auf sich genommen und in der Voraussetzung der Erzählung, daß Zoë in allen Zügen das Ebenbild des Steinreliefs sei, mitgebracht. Man muß sich also hüten, die Unwahrscheinlichkeit von dieser Voraussetzung auf deren Konsequenz, daß Hanold das Mädchen für die belebte Gradiva hält, zu verschieben. Die wahnhafte Erklärung wird hier dadurch im Wert gehoben, daß auch der Dichter uns keine rationelle zur Verfügung gestellt hat. In der Sonnenglut Kampaniens und in der verwirrenden Zauberkraft des Weines, der am Vesuv wächst, hat der Dichter ferner andere helfende und mildernde Umstände für die Ausschreitung des Helden herangezogen. Das wichtigste aller erklärenden und entschuldigenden Momente bleibt aber die Leichtigkeit, mit welcher unser Denkvermögen sich zur Annahme eines absurden Inhaltes entschließt, wenn stark affektbetonte Regungen dabei ihre Befriedigung finden, Es ist erstaunlich und findet meist viel zu geringe Würdigung, wie leicht und häufig selbst intelligenzstarke Personen unter solchen psychologischen Konstellationen die Reaktionen partiellen Schwachsinnes geben, und wer nicht allzu eingebildet ist, mag dies auch beliebig oft an sich selbst beobachten. Und nun erst dann, wenn ein Teil der in Betracht kommenden Denkvorgänge an unbewußten oder verdrängten Motiven haftet! Ich zitiere dabei gern die Worte eines Philosophen, der mir schreibt: »Ich habe auch angefangen, mir selbsterlebte Fälle von frappanten Irrtümern zu notieren, gedankenloser Handlungen, die man sich nachträglich motiviert (in sehr unvernünftiger Weise). Es ist erschreckend, aber typisch, wieviel Dummheit dabei zu Tage kommt.« Und nun nehme man dazu, daß der Glaube an Geister und Gespenster und wiederkehrende Seelen, der so viel Anlehnungen in den Religionen findet, denen wir alle wenigstens als Kinder angehängt haben, keineswegs bei allen Gebildeten untergegangen ist, daß so viele sonst Vernünftige die Beschäftigung mit dem Spiritismus mit der Vernunft vereinbar finden. Ja selbst der nüchtern und ungläubig Gewordene mag mit Beschämung wahrnehmen, wie leicht er sich für einen Moment zum Geisterglauben zurückwendet, wenn Ergriffenheit und Ratlosigkeit bei ihm zusammentreffen. Ich weiß von einem Arzt, der einmal eine seiner Patientinnen an der Basedowschen Krankheit verloren hatte und einen leisen Verdacht nicht bannen konnte, daß er durch unvorsichtige Medikation vielleicht zum unglücklichen Ausgange beigetragen habe. Eines Tages, mehrere Jahre später, trat ein Mädchen in sein ärztliches Zimmer, in dem er, trotz alles Sträubens, die Verstorbene erkennen mußte. Er konnte keinen anderen Gedanken fassen als, es sei doch wahr, daß die Toten wiederkommen können, und sein Schaudern wich erst der Scham, als die Besucherin sich als die Schwester jener an der gleichen Krankheit Verstorbenen vorstellte. Die Basedowsche Krankheit verleiht den von ihr Befallenen eine oft bemerkte, weitgehende Ähnlichkeit der Gesichtszüge, und in diesem Falle war die typische Ähnlichkeit über der schwesterlichen aufgetragen. Der Arzt aber, dem sich dies ereignet, war ich selbst, und darum bin gerade ich nicht geneigt, dem Norbert Hanold die klinische Möglichkeit seines kurzen Wahnes von der ins Leben zurückgekehrten Gradiva zu bestreiten. Daß in ernsten Fällen chronischer Wahnbildung (Paranoia) das Äußerste an geistreich ausgesponnenen und gut vertretenen Absurditäten geleistet wird, ist endlich jedem Psychiater wohlbekannt. –

Nach der ersten Begegnung mit der Gradiva hatte Norbert Hanold zuerst in dem einen und dann im anderen der ihm bekannten Speisehäuser Pompejis seinen Wein getrunken, während die anderen Besucher mit der Hauptmahlzeit beschäftigt waren. »Selbstverständlich war ihm mit keinem Gedanken die widersinnige Annahme in den Sinn gekommen«, er tue so, um zu erfahren, in welchem Gasthof die Gradiva wohne und ihre Mahlzeiten einnehme, aber es ist schwer zu sagen, welchen anderen Sinn dies sein Tun sonst hätte haben können. Am Tage nach dem zweiten Beisammensein im Hause des Meleager erlebt er allerlei merkwürdige und scheinbar unzusammenhängende Dinge: er findet einen engen Spalt in der Mauer des Portikus, dort, wo die Gradiva verschwunden war, begegnet einem närrischen Eidechsenfänger, der ihn wie einen Bekannten anredet, entdeckt ein drittes, versteckt gelegenes Wirtshaus, den »Albergo del Sole«, dessen Besitzer ihm eine grünpatinierte Metallspange als Fundstück bei den Überresten eines pompejanischen Mädchens aufschwatzt, und wird endlich in seinem eigenen Gasthof auf ein neu angekommenes junges Menschenpaar aufmerksam, welches er als Geschwisterpaar diagnostiziert, und dem er seine Sympathie schenkt. Alle diese Eindrücke verweben sich dann zu einem »merkwürdig unsinnigen« Traum, der folgenden Wortlaut hat:

»Irgendwo in der Sonne sitzt die Gradiva, macht aus einem Grashalm eine Schlinge, um eine Eidechse darin zu fangen, und sagt dazu: ›Bitte, halte dich ganz ruhig – die Kollegin hat recht, das Mittel ist wirklich gut, und sie hat es mit bestem Erfolge angewendet‹.«

Gegen diesen Traum wehrt er sich noch im Schlafe mit der Kritik, das sei in der Tat vollständige Verrücktheit, und wirft sich herum, um von ihm loszukommen. Dies gelingt ihm auch mit Beihilfe eines unsichtbaren Vogels, der einen kurzen, lachenden Ruf ausstößt und die Lacerte im Schnabel fortträgt.

Wollen wir den Versuch wagen, auch diesen Traum zu deuten, d. h. ihn durch die latenten Gedanken zu ersetzen, aus deren Entstellung er hervorgegangen sein muß? Er ist so unsinnig, wie man es nur von einem Traume erwarten kann, und diese Absurdität der Träume ist ja die Hauptstütze der Anschauung, welche dem Traum den Charakter eines vollgiltigen psychischen Aktes verweigert und ihn aus einer planlosen Erregung der psychischen Elemente hervorgehen läßt.

Wir können auf diesen Traum die Technik anwenden, welche als das reguläre Verfahren der Traumdeutung bezeichnet werden kann. Es besteht darin, sich um den scheinbaren Zusammenhang im manifesten Traum nicht zu bekümmern, sondern jedes Stück des Inhaltes für sich ins Auge zu fassen und in den Eindrücken, Erinnerungen und freien Einfällen des Träumers die Ableitung desselben zu suchen. Da wir aber Hanold nicht examinieren können, werden wir uns mit der Beziehung auf seine Eindrücke zufrieden geben müssen, und nur ganz schüchtern unsere eigenen Einfälle an die Stelle der seinigen setzen dürfen.

»Irgendwo in der Sonne sitzt die Gradiva, fängt Eidechsen und spricht dazu« – an welchen Eindruck des Tages klingt dieser Teil des Traumes an? Unzweifelhaft an die Begegnung mit dem älteren Herrn, dem Eidechsenfänger, der also im Traum durch die Gradiva ersetzt ist. Der saß oder lag an »einem heißbesonnten« Abhang und sprach auch Hanold an. Auch die Reden der Gradiva im Traum sind nach der Rede jenes Mannes kopiert. Man vergleiche: »Das vom Kollegen Eimer angegebene Mittel ist wirklich gut, ich habe es schon mehrmals mit bestem Erfolg angewendet. Bitte, halten Sie sich ganz ruhig –.« Ganz ähnlich spricht die Gradiva im Traum, nur daß der Kollege Eimer durch eine unbenannte Kollegin ersetzt ist; auch ist das »mehrmals« aus der Rede des Zoologen im Traume weggeblieben und die Bindung der Sätze etwas geändert worden. Es scheint also, daß dieses Erlebnis des Tages durch einige Abänderungen und Entstellungen zum Traume umgewandelt worden ist. Warum gerade dieses, und was bedeuten die Entstellungen, der Ersatz des alten Herrn durch die Gradiva und die Einführung der rätselhaften »Kollegin«?

Es gibt eine Regel der Traumdeutung, welche lautet: Eine im Traum gehörte Rede stammt immer von einer im Wachen gehörten oder selbst gehaltenen Rede ab. Nun, diese Regel scheint hier befolgt, die Rede der Gradiva ist nur eine Modifikation der bei Tag gehörten Rede des alten Zoologen. Eine andere Regel der Traumdeutung würde uns sagen, die Ersetzung einer Person durch eine andere oder die Vermengung zweier Personen, indem etwa die eine in einer Situation gezeigt wird, welche die andere charakterisiert, bedeutet eine Gleichstellung der beiden Personen, eine Übereinstimmung zwischen denselben. Wagen wir es, auch diese Regel auf unseren Traum anzuwenden, so ergäbe sich die Übersetzung: die Gradiva fängt Eidechsen wie jener Alte, versteht sich auf den Eidechsenfang wie er. Verständlich ist dieses Ergebnis gerade noch nicht, aber wir haben ja noch ein anderes Rätsel vor uns. Auf welchen Eindruck des Tages sollen wir die »Kollegin« beziehen, die im Traum den berühmten Zoologen Eimer ersetzt? Wir haben da zum Glück nicht viel Auswahl, es kann nur ein anderes Mädchen als Kollegin gemeint sein, also jene sympathische junge Dame, in der Hanold eine in Gesellschaft ihres Bruders reisende Schwester erkannt hatte. »Sie trug eine rote Sorrentiner Rose am Kleid, deren Anblick an etwas im Gedächtnis des aus seiner Stubenecke Hinüberschauenden rührte, ohne daß er sich darauf besinnen konnte, was es sei.« Diese Bemerkung des Dichters gibt uns wohl das Recht, sie für die »Kollegin« im Traume in Anspruch zu nehmen. Das, was Hanold nicht erinnern konnte, war gewiß nichts anderes als das Wort der vermeintlichen Gradiva, glücklicheren Mädchen bringe man im Frühling Rosen, als sie die weiße Gräberblume von ihm verlangte. In dieser Rede lag aber eine Werbung verborgen. Was mag das nun für ein Eidechsenfang sein, der dieser glücklicheren Kollegin so gut gelungen?

 

Am nächsten Tage überrascht Hanold das vermeintliche Geschwisterpaar in zärtlicher Umarmung und kann so seinen Irrtum vom Vortage berichtigen. Es ist wirklich ein Liebespaar, und zwar auf der Hochzeitsreise begriffen, wie wir später erfahren, als die beiden das dritte Beisammensein Hanolds mit der Zoë so unvermutet stören. Wenn wir nun annehmen wollen, daß Hanold, der sie bewußt für Geschwister hält, in seinem Unbewußten sogleich ihre wirkliche Beziehung erkannt hat, die sich tags darauf so unzweideutig verrät, so ergibt sich allerdings ein guter Sinn für die Rede der Gradiva im Traume. Die rote Rose wird dann zum Symbol der Liebesbeziehung; Hanold versteht, daß die beiden das sind, wozu er und die Gradiva erst werden sollen, der Eidechsenfang bekommt die Bedeutung des Männerfanges, und die Rede der Gradiva heißt etwa: Laß mich nur machen, ich verstehe es ebenso gut, mir einen Mann zu gewinnen wie dieses andere Mädchen.

Warum mußte aber dieses Durchschauen der Absichten der Zoë durchaus in der Form der Rede des alten Zoologen im Traume erscheinen? Warum die Geschicklichkeit Zoës im Männerfang durch die des alten Herrn im Eidechsenfang dargestellt werden? Nun, wir haben es leicht, diese Frage zu beantworten: wir haben längst erraten, daß der Eidechsenfänger kein anderer ist als der Zoologieprofessor Bertgang, Zoës Vater, der ja auch Hanold kennen muß, so daß sich verstehen läßt, daß er Hanold wie einen Bekannten anredet. Nehmen wir von neuem an, daß Hanold im Unbewußten den Professor gleichfalls sofort erkannt habe, – »Ihm war's dunkel, das Gesicht des Lacertenjägers sei schon einmal, wahrscheinlich in einem der beiden Gasthöfe, an seinen Augen vorübergegangen –«, so erklärt sich die sonderbare Einkleidung des der Zoë beigelegten Vorsatzes. Sie ist die Tochter des Eidechsenfängers, sie hat diese Geschicklichkeit von ihm.

Die Ersetzung des Eidechsenfängers durch die Gradiva im Trauminhalt ist also die Darstellung für die im Unbewußten erkannte Beziehung der beiden Personen; die Einführung der »Kollegin« an Stelle des Kollegen Eimer gestattet es dem Traum, das Verständnis ihrer Werbung um den Mann zum Ausdruck zu bringen. Der Traum hat bisher zwei der Erlebnisse des Tages zu einer Situation zusammengeschweißt, »verdichtet«, wie wir sagen, um zwei Einsichten, die nicht bewußt werden durften, einen allerdings sehr unkenntlichen Ausdruck zu verschaffen. Wir können aber weiter gehen, die Sonderbarkeit des Traumes noch mehr verringern und den Einfluß auch der anderen Tageserlebnisse auf die Gestaltung des manifesten Traumes nachweisen.

Wir könnten uns unbefriedigt durch die bisherige Auskunft erklären, weshalb gerade die Szene des Eidechsenfanges zum Kern des Traumes gemacht worden ist, und vermuten, daß noch andere Elemente in den Traumgedanken für die Auszeichnung der »Eidechse« im manifesten Traum mit ihrem Einfluß eingetreten sind. Es könnte wirklich leicht so sein. Erinnern wir uns, daß Hanold einen Spalt in der Mauer entdeckt hatte, an der Stelle, wo ihm die Gradiva zu verschwinden schien, der »immerhin breit genug war, um eine Gestalt von ungewöhnlicher Schlankheit« durchschlüpfen zu lassen. Durch diese Wahrnehmung wurde er bei Tag zu einer Abänderung in seinem Wahn veranlaßt, die Gradiva versinke nicht im Boden, wenn sie seinen Blicken entschwinde, sondern begebe sich auf diesem Wege in ihre Gruft zurück. In seinem unbewußten Denken mochte er sich sagen, er habe jetzt die natürliche Erklärung für das überraschende Verschwinden des Mädchens gefunden. Muß aber nicht das sich durch enge Spalten Zwängen und das Verschwinden in solchen Spalten an das Benehmen von Lacerten erinnern? Verhält sich die Gradiva dabei nicht selbst wie ein flinkes Eidechslein? Wir meinen also, diese Entdeckung des Spaltes in der Mauer habe mitbestimmend auf die Auswahl des Elementes »Eidechse« für den manifesten Trauminhalt gewirkt, die Eidechsensituation des Traumes vertrete ebensowohl diesen Eindruck des Tages wie die Begegnung mit dem Zoologen, Zoës Vater.

Und wenn wir nun, kühn geworden, versuchen wollten, auch für das eine, noch nicht verwertete Erlebnis des Tages, die Entdeckung des dritten Albergo »del Sole«, eine Vertretung im Trauminhalt zu finden? Der Dichter hat diese Episode so ausführlich behandelt und so vielerlei an sie geknüpft, daß wir uns verwundern müßten, wenn sie allein keinen Beitrag zur Traumbildung abgegeben hätte. Hanold tritt in dieses Wirtshaus, welches ihm wegen seiner abgelegenen Lage und Entfernung vom Bahnhofe unbekannt geblieben war, um sich eine Flasche kohlensauren Wassers gegen seinen Blutandrang geben zu lassen. Der Wirt benützt diese Gelegenheit, um seine Antiquitäten anzupreisen, und zeigt ihm eine Spange, die angeblich jenem pompejanischen Mädchen angehört hatte, das in der Nähe des Forums in inniger Umschlingung mit seinem Geliebten aufgefunden wurde. Hanold, der diese oft wiederholte Erzählung bisher niemals geglaubt, wird jetzt durch eine ihm unbekannte Macht genötigt, an die Wahrheit dieser rührenden Geschichte und an die Echtheit des Fundstückes zu glauben, erwirbt die Fibula und verläßt mit seinem Erwerb den Gasthof. Im Fortgehen sieht er an einem der Fenster einen in ein Wasserglas gestellten, mit weißen Blüten behängten Asphodelosschaft herabnicken und empfindet diesen Anblick als eine Beglaubigung der Echtheit seines neuen Besitztums. Die wahrhafte Überzeugung durchdringt ihn jetzt, die grüne Spange habe der Gradiva angehört, und sie sei das Mädchen gewesen, das in der Umarmung ihres Geliebten gestorben sei. Die quälende Eifersucht, die ihn dabei erfaßt, beschwichtigt er durch den Vorsatz, sich am nächsten Tage bei der Gradiva selbst durch das Vorzeigen der Spange Sicherheit wegen seines Argwohnes zu holen. Dies ist doch ein sonderbares Stück neuer Wahnbildung, und es sollte keine Spur im Traume der nächstfolgenden Nacht darauf hinweisen!

Es wird uns wohl der Mühe wert sein, uns die Entstehung dieses Wahnzuwachses verständlich zu machen, das neue Stück unbewußter Einsicht aufzusuchen, das sich durch das neue Stück Wahn ersetzt. Der Wahn entsteht unter dem Einfluß des Wirtes vom Sonnenwirtshaus, gegen den sich Hanold so merkwürdig leichtgläubig benimmt, als hätte er eine Suggestion von ihm empfangen. Der Wirt zeigt ihm eine metallene Gewandfibel als echt und als Besitztum jenes Mädchens, das in den Armen seines Geliebten verschüttet aufgefunden wurde, und Hanold, der kritisch genug sein könnte, um die Wahrheit der Geschichte sowie die Echtheit der Spange zu bezweifeln, ist sofort gläubig gefangen und erwirbt die mehr als zweifelhafte Antiquität. Es ist ganz unverständlich, warum er sich so benehmen sollte, und es deutet nichts darauf, daß die Persönlichkeit des Wirtes selbst uns dieses Rätsel lösen könnte. Es ist aber noch ein anderes Rätsel in dem Vorfall, und zwei Rätsel lösen sich gern miteinander. Beim Verlassen des Albergo erblickt er einen Asphodelosschaft im Glase an einem Fenster und findet in ihm eine Beglaubigung für die Echtheit der Metallspange. Wie kann das nur zugehen? Dieser letzte Zug ist zum Glück der Lösung leicht zugänglich. Die weiße Blume ist wohl dieselbe, die er zu Mittag der Gradiva geschenkt, und es ist ganz richtig, daß durch ihren Anblick an einem der Fenster dieses Gasthofes etwas bekräftigt wird. Freilich nicht die Echtheit der Spange, aber etwas anderes, was ihm schon bei der Entdeckung dieses bisher übersehenen Albergo klar geworden. Er hatte bereits am Vortage sich so benommen, als suchte er in den beiden Gasthöfen Pompejis, wo die Person wohne, die ihm als Gradiva erscheine. Nun, da er so unvermuteterweise auf einen dritten stößt, muß er sich im Unbewußten sagen: Also hier wohnt sie; und dann beim Weggehen: Richtig, da ist ja die Asphodelosblume, die ich ihr gegeben; das ist also ihr Fenster. Dies wäre also die neue Einsicht, die sich durch den Wahn ersetzt, die nicht bewußt werden kann, weil ihre Voraussetzung, die Gradiva sei eine Lebende, von ihm einst gekannte Person, nicht bewußt werden konnte.

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