Der Zauberberg. Volume 2

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In Wirklichkeit war es noch etwas anderes, wodurch dies ge-reizte Beben in Joachims Stimme kam und weshalb er des bota-nischen Kollegs von neulich in fast höhnischem Tone erwähnt hatte. Von diesem Etwas wußte Hans Castorp nichts, oder viel-mehr, er wußte nicht, daß Joachim davon wußte, denn er selbst, dieser Durchgänger, dies Sorgenkind des Lebens und der Päd-agogik, er wußte nur zu gut davon. Mit einem Worte, Joachim war seinem Vetter auf gewisse Schliche gekommen, er hatte ihn unversehens bei einer Verräterei belauscht, ähnlich derjenigen, deren er sich am Faschingsdienstag schuldig gemacht, – einer neuen Treulosigkeit, verschärft durch den Umstand, an dem nicht zu zweifeln war, daß Hans Castorp sie dauernd verübte.

Zum ewig eintönigen Rhythmus des Zeitablaufs, zur kurz-weilig feststehenden Gliederung des Normaltages, der immer derselbe, der sich selbst zum Verwechseln und bis zur Verwir-rung ähnlich war, identisch mit sich, die stehende Ewigkeit, so daß schwer zu begreifen war, wie er Veränderung zu zeitigen vermochte, – zur unverbrüchlichen Alltagsordnung also gehörte, wie jedermann sich erinnert, der Rundgang Dr. Krokowskis zwischen halb vier und vier Uhr nachmittags durch alle Zim-mer, das ist über alle Balkons, von Liegestuhl zu Liegestuhl. Wie oft hatte nicht der Berghof-Normaltag sich erneut, seit damals, als Hans Castorp in seiner horizontalen Lebenslage sich geärgert hatte, weil der Assistent einen Bogen um ihn beschrieb und ihn nicht in Betracht zog! Längst war aus dem Gaste von damals ein Kamerad geworden, – Dr. Krokowski redete ihn sogar häufig mit diesem Namen an bei seiner Kontrollvisite, und wenn das militärische Wort, dessen R-Laut er auf exotische Weise durch nur einmaliges Anschlagen der Zunge am vorderen Gaumen hervorbrachte, ihm auch scheußlich zu Gesichte stand, wie Hans Castorp gegen Joachim geurteilt hatte, so paßte es doch nicht schlecht zu seiner stämmigen mannhaft-heiteren und zu fröhli-chem Vertrauen auffordernden Art, die freilich wiederum durch seine Schwarzbleichheit in gewisser Weise Lügen gestraft wur-de, und der denn doch etwas Bedenkliches jederzeit anhaftete.

"Nun, Kamerad, wie gehts, wie stehts!" sagte Dr. Krokowski, indem er, vom russischen Barbarenpaare kommend, an das Kopfende von Hans Castorps Lager trat; und der so frischerweise Angeredete, die Hände auf der Brust gefaltet, lächelte täglich wieder gepeinigt-freundlich über die scheußliche Anrede, indem er des Doktors gelbe Zähne betrachtete, die sich in seinem schwarzen Barte zeigten. "Recht wohl geruht?" fuhr Dr. Krokowski dann wohl fort. "Fallende Kurve? Steigende heut? Nun, hat nichts auf sich, kommt bis zur Hochzeit schon wieder in Ordnung. Ich grüße Sie." Und mit diesem Wort, das ebenfalls scheußlich klang, da er es wie "gdieße" sprach, ging er schon weiter, zu Joachim hinüber – es handelte sich um einen Rundgang, einen kurzen Blick nach dem Rechten und um nichts weiter.

Manchmal freilich auch verweilte Dr. Krokowski sich länger, plauderte, breitschultrig dastehend und immer mannhaft lä-chelnd, mit dem Kameraden über dies und jenes, über die Wit-terung, über Abreisen und Ankünfte, über des Patienten Stim-mung, seine gute oder schlechte Laune, seine persönlichen Ver-hältnisse auch wohl, seine Herkunft und seine Aussichten, bis er "ich gdieße Sie" sagte und weiterging; und Hans Castorp, die Hände zur Abwechslung hinter dem Kopf gefaltet, antwortete ihm, ebenfalls lächelnd, auf all das, – mit dem durchdringenden Gefühle der Scheußlichkeit, gewiß, aber er antwortete ihm. Sie plauderten gedämpft, – obgleich die gläserne Scheidewand die Loggien nicht völlig trennte, konnte Joachim die Unterhaltung nebenan nicht verstehen und machte übrigens auch nicht den leisesten Versuch dazu. Er hörte seinen Vetter sogar vom Liegestuhl aufstehen und mit Dr. Krokowski ins Zimmer gehen, ver-mutlich um ihm seine Fieberkurve zu zeigen; und dort setzte dann das Gespräch sich wohl noch eine längere Weile fort, der Verzögerung nach zu urteilen, womit der Assistent auf dem in-neren Wege bei Joachim eintraf Worüber plauderten die Kameraden? Joachim fragte nicht; aber sollte jemand aus unserer Mitte sich an ihm kein Beispiel nehmen und die Frage aufwerfen, so ist allgemein darauf hinzuweisen, wieviel Stoff und Anlaß zu geistigem Austausch vorhanden ist zwischen Männern und Kameraden, deren Grundanschauungen idealistisches Gepräge tragen, und von denen der eine auf seinem Bildungswege dazu gelangt ist, die Materie als den Sündenfall des Geistes, als eine schlimme Reizwucherung desselben aufzufassen, während der andere, als Arzt, den sekun-dären Charakter organischer Krankheit zu lehren gewohnt ist. Wie manches, meinen wir, ließ sich da nicht erörtern und aus-tauschen über die Materie als unehrbare Ausartung des Immate-riellen, über das Leben als Impudizität der Materie, über die Krankheit als unzüchtige Form des Lebens! Da konnte, unter Anlehnung an laufende Konferenzen, die Rede gehen von der Liebe als krankheitsbildender Macht, vom übersinnlichen We-sen des Merkmals, über "alte" und "frische" Stellen, über lösli-che Gifte und Liebestränke, über die Durchleuchtung des Un-bewußten, den Segen der Seelenzergliederung, die Rückver-wandlung des Symptoms – und was wissen wir, – von deren Seite dies alles nur Vorschläge und Vermutungen sind, wenn die Frage aufgeworfen wird, was Dr. Krokowski und der junge Hans Castorp miteinander zu plaudern hatten!

Übrigens plauderten sie nicht mehr, das lag zurück, nur eine Weile, einige Wochen lang war es so gewesen; in letzter Zeit hielt Dr. Krokowski sich bei diesem Patienten wieder nicht länger auf als bei allen anderen, –"Nun, Kamerad?" und "Ich gdieße Sie", darauf beschränkte sich nun die Visite meistens wieder. Dafür hatte Joachim eine andere Entdeckung gemacht, eben die, die er als Verräterei von Seiten Hans Castorps empfand, und gemacht hatte er sie völlig unwillkürlich, ohne in seiner militäri-schen Arglosigkeit im mindesten auf Späherwegen gegangen zu sein, das darf man glauben. Er war ganz einfach an einem Mitt-woch aus der ersten Liegekur abgerufen worden, hinunterbeor-dert ins Souterrain, um sich vom Bademeister wiegen zu lassen, – und da sah er es also. Er kam die Treppe hinunter, die reinlich linoleumbelegte Treppe mit Aussicht auf die Tür zum Ordinationszimmer, zu dessen beiden Seiten die Durchleuchtungskabinette gelegen waren, links das organische und rechts um die Ek-ke das um eine Stufe vertiefte psychische, mit Dr. Krokowskis Besuchskarte an der Tür. Auf halber Höhe der Treppe aber blieb Joachim stehen, denn eben verließ Hans Castorp, von der In-jektion kommend, das Ordinationszimmer. Mit beiden Händen schloß er die Tür, durch die er rasch getreten war, und wandte sich, ohne um sich zu blicken, nach rechts, gegen die Tür, an der die Karte auf Reißnägeln saß, und die er mit wenigen, lautlos vorwärtswiegenden Schritten erreichte. Er klopfte, neigte sich hin beim Klopfen und hielt das Ohr zu dem pochenden Finger. Und da des Bewohners baritonales "Herein!" mit dem exotisch anschlagenden R-Laut und dem verzerrten Diphthong aus dem Gelasse erschollen war, sah Joachim seinen Vetter im Halbdun-kel von Dr. Krokowskis analytischer Grube verschwinden.

Noch Jemand

Lange Tage, die längsten, sachlich gesprochen und mit Bezug auf die Anzahl ihrer Sonnenstunden, denn ihrer Kurzweiligkeit vermochte astronomische Ausdehnung nichts anzuhaben, weder was jeden einzelnen betraf, noch ihre einförmige Flucht. Frühlings-Nachtgleiche lag fast drei Monate zurück, Sommerson-nenwende war da. Aber das natürliche Jahr bei uns hier oben folgte dem Kalender zurückhaltend: erst jetzt, erst dieser Tage war endgültig Frühling geworden, ein Frühling noch ohne alle Sommerschwere, würzig, dünnluftig und leicht, mit silbrig strahlender Himmelsbläue und kindlich kunterbunter Wiesen-blüte.

Hans Castorp fand an den Hängen dieselben Blumen wieder, von denen Joachim freundlicherweise ihm einige letzte einst zur Begrüßung ins Zimmer gestellt: Schafgarbe und Glockenblumen, – ein Zeichen für ihn, daß das Jahr in sich selber lief. Allein was hatte sich nun nicht alles aus dem jungen, smaragde-nen Grase der Schrägen und Wiesengebreite des Grundes an or-ganischem Leben als Stern, Kelch und Glocke oder von unre-gelmäßigerer Gestalt, die sonnige Luft mit trockener Würze er-füllend, hervorgebildet: Pechnelken und wilde Stiefmütterchen in ganzen Massen, Gänseblümchen, Margueriten, Primeln in gelb und rot, viel schöner und größer, als Hans Castorp sie im Flachlande je erblickt zu haben meinte, soweit er dort unten darauf achtgegeben; dazu die nickenden Soldanellen mit ihren gewimperten Glöckchen, blau purpurn und rosig, eine Speziali-tät dieser Sphäre.

Er pflückte von all der Lieblichkeit, trug Sträuße heim, ern-sten Sinnes und nicht sowohl zum Schmuck seines Zimmers, als zur streng wissenschaftlichen Bearbeitung, wie er es sich vorge-setzt. Einiges floristische Rüstzeug war angeschafft, ein Lehr-buch der allgemeinen Botanik, ein handlicher kleiner Spaten zum Ausheben der Pflanzen, ein Herbarium, eine kräftige Lupe; und damit wirtschaftete der junge Mann in seiner Loggia, – sommerlich gekleidet nun wieder, in einen der Anzüge, die er damals gleich mit sich heraufgebracht, – auch dies ein Merkmal der Jahresrundung.

Frische Blumen standen in mehreren Wassergläsern auf den Möbelplatten des inneren Zimmers, auf dem Lampentischchen zur Seite seines vorzüglichen Liegestuhls. Blumen, halb welk, schon matt, aber noch in Saft, fanden sich lose auf der Balkon-brüstung, am Boden der Loggia verstreut, während andere, wohlausgebreitet, zwischen Löschpapierbogen, die ihre Feuch-tigkeit tranken, der Presse von Steinen unterlagen, damit Hans Castorp die flachen Trockenpräparate mit gummierten Papier-streifen in sein Album kleben könnte. Er lag, die Knie hochge-zogen, dazu noch eins über das andere geschlagen, und während der Rücken des offen umgelegten Leitfadens auf seiner Brust einen Dachfirst bildete, hielt er das dickgeschliffene Rund des Vergrößerungsglases zwischen seine einfachen blauen Augen und eine Blüte, deren Krone er teilweise mit dem Taschenmes-ser entfernt hatte, um besser den Fruchtboden studieren zu kön-nen, und die hinter der starken Linse zum abenteuerlich flei-schigen Gebilde schwoll. Da schütteten die Staubbeutel, an der Spitze der Filamente, ihren gelben Pollen aus, vom Ovarium starrte der narbige Griffel, und legte man einen Schnitt durch ihn, so konnte man den zarten Kanal betrachten, durch den die Pollenkörner und – schlauche von zuckriger Ausscheidung in die Fruchtknotenhöhle geschwemmt wurden. Hans Castorp zählte, prüfte und verglich; er untersuchte Bau und Stellung der Kelch-und Blumenblätter wie der männlichen und weiblichen Ge-schlechtsorgane, beaufsichtigte die Übereinstimmung dessen, was er sah, mit schematischen und natürlichen Abbildungen, stellte die wissenschaftliche Richtigkeit in dem Bau ihm be-kannter Pflanzen mit Befriedigung fest und ging dazu über, sol-che, die er nicht zu nennen gewußt hätte, an der Hand des Lin-né nach Abteilung, Gruppe, Ordnung, Art, Familie und Gattung zu bestimmen. Da er viel Zeit hatte, gelangen ihm einige Fort-schritte in botanischer Systematik auf Grund vergleichender Morphologie. Unter die getrocknete Pflanze ins Herbarium schrieb er kalligraphisch den lateinischen Namen, den die hu-manistische Wissenschaft ihr galanterweise beigelegt, schrieb ih-re kennzeichnenden Eigenschaften dazu und zeigte es dem gu-ten Joachim, der sich wunderte.

 

Am Abend betrachtete er die Gestirne. Ein Interesse für das in sich laufende Jahr hatte ihn überkommen, – der doch schon einige zwanzig Sonnenumläufe auf Erden verbracht und sich noch niemals um dergleichen gekümmert hatte. Wenn wir selbst uns unwillkürlich in Ausdrücken wie "Frühlings-Nachtgleiche" bewegten, so geschah es in seinem Geist und schon in Hinsicht auf Gegenwärtiges. Denn dieser Art waren die Termini, die er neuerdings um sich zu streuen liebte, und auch durch hier einschlagende Kenntnisse setzte er seinen Vetter in Erstau-nen.

"Jetzt ist die Sonne nahe daran, ins Zeichen des Krebses zu treten", mochte er auf einem Spaziergang beginnen, "bist du dir darüber im klaren? Das ist das erste Sommerzeichen des Tier-kreises, verstehst du? Es geht nun über den Löwen und die Jungfrau auf den Herbstpunkt zu, den einen Äquinoktialpunkt, gegen Ende September, wenn wieder der Sonnenort auf den Himmelsäquator fällt, wie neulich im März, als die Sonne in den Widderpunkt trat."

"Das ist mir entgangen", sagte Joachim mürrisch. "Was redest denn du dir da so geläufig zusammen? Widderpunkt? Tier-kreis?"

"Allerdings, der Tierkreis; zodiacus. Die uralten Himmelszeichen, – Skorpion, Schütze, Steinbock, aquarius und wie sie hei-ßen, wie soll man sich dafür nicht interessieren! Es sind zwölf, das wirst du wenigstens wissen, drei für jede Jahreszeit, die auf-steigenden und die niedersteigenden, der Kreis der Sternbilder, durch die die Sonne wandert, – großartig meiner Ansicht nach! Stelle dir vor, daß man sie in einem ägyptischen Tempel als Deckenbild gefunden hat, – einem Tempel der Aphrodite noch dazu, nicht weit von Theben. Die Chaldäer kannten sie auch schon, – die Chaldäer, ich bitte dich, dies alte Zauberervolk, arabischsemitisch, hochgelehrt in Astrologie und Wahrsagerei. Die haben auch schon den Himmelsgürtel studiert, in dem die Planeten laufen, und ihn in die zwölf Sternbildzeichen einge-teilt, die Dodekatemoria, wie sie auf uns gekommen sind. Das ist großartig. Es ist die Menschheit!"

"Nun sagst du 'Menschheit', wie Settembrini."

"Ja, wie er, oder etwas anders. Man muß sie nehmen, wie sie ist, aber großartig ist es schon damit. Ich denke viel mit Sympa-thie an die Chaldäer, wenn ich so liege und den Planeten zuse-he, die sie auch schon kannten, denn alle kannten sie nicht, so gescheit sie waren. Aber die sie nicht kannten, kann ich auch nicht sehen, Uranus ist ja erst neulich mit dem Fernrohr ent-deckt worden, vor hundertzwanzig Jahren."

"Neulich?"

"Das nenne ich 'neulich', wenn du erlaubst, im Vergleich mit den dreitausend Jahren bis damals. Aber wenn ich so liege und mir die Planeten besehe, dann werden die dreitausend Jahre auch zu 'neulich', und ich denke intim an die Chaldäer, die sie auch sahen und sich ihren Vers darauf machten, und das ist die Menschheit."

"Na gut; du hast ja großzügige Entwürfe in deinem Kopf."

"Du sagst 'großzügig', und ich sage 'intim', – wie man es nun nennen will. Aber wenn nun also die Sonne in die Waage tritt, in zirka drei Monaten, dann haben die Tage wieder so weit abgenommen, daß Tag und Nacht gleich sind, und dann nehmen sie weiter ab bis gegen Weihnachten, das ist dir bekannt. Willst du aber, bitte, bedenken, daß, während die Sonne durch die Winterzeichen geht, den Steinbock, den Wassermann und die Fische, die Tage schon wieder zunehmen! Denn dann kommt neuerdings der Frühlingspunkt zum dreitausendstenmal seit den Chaldäern, und die Tage wachsen weiter bis übers Jahr, wenn wieder Sommeranfang ist."

"Selbstverständlich."

"Nein, das ist eine Eulenspiegelei! Im Winter wachsen die Tage, und wenn der längste kommt, 21. Juni, Sommersanfang, dann geht es schon wieder bergab, sie werden schon wieder kürzer, und es geht gegen den Winter. Du nennst das selbstverständlich, aber wenn man einmal davon absieht, daß es selbst-verständlich ist, dann kann einem angst und bange werden, momentweise, und man möchte krampfhaft nach etwas greifen. Es ist, als ob Eulenspiegel es so eingerichtet hätte, daß zu Win-tersanfang eigentlich der Frühling beginnt und zu Sommersanfang eigentlich der Herbst … Man wird ja an der Nase herum-gezogen, im Kreise herumgelockt mit der Aussicht auf etwas, was schon wieder Wendepunkt ist… Wendepunkt im Kreise. Denn das sind lauter ausdehnungslose Wendepunkte, woraus der Kreis besteht, die Biegung ist unmeßbar, es gibt keine Rich-tungsdauer, und die Ewigkeit ist nicht 'geradeaus, geradeaus', sondern 'Karussell, Karussell'."

"Hör' auf!"

"Sonnwendfeier!" sagte Hans Castorp, "Sommersonnenwende! Bergfeuer und Ringelreihn rund um die lodernde Flamme herum mit angefaßten Händen! Ich habe es nie gesehen, aber ich höre, so wird es gemacht von urwüchsigen Menschen, so feiern sie die erste Sommernacht, mit der der Herbst beginnt, die Mittagsstunde und Scheitelhöhe des Jahres, von wo es ab-wärts geht, – sie tanzen und drehen sich und jauchzen. Worüber jauchzen sie in ihrer Urwüchsigkeit, – kannst du dir das be-greiflich machen? Worüber sind sie so ausgelassen lustig? Weil es nun abwärts geht ins Dunkel, oder vielleicht, weil es bisher aufwärts ging und nun die Wende gekommen ist, der unhaltba-re Wendepunkt, Mittsommernacht, die volle Höhe, mit Weh-mut im Übermut? Ich sage es, wie es ist, mit den Worten, die mir dafür einfallen. Es ist melancholischer Übermut und über-mütige Melancholie, weshalb die Urwüchsigen jauchzen und um die Flammen tanzen, sie tun es aus positiver Verzweiflung, wenn du so sagen willst, zu Ehren der Eulenspiegelei des Krei-ses und der Ewigkeit ohne Richtungsdauer, in der alles wieder-kehrt."

"Ich will nicht so sagen", murmelte Joachim, "bitte, schiebe es nicht auf mich. Es sind ja weitläufige Dinge, mit denen du dich beschäftigst des Abends, wenn du liegst."

"Ja, ich will nicht leugnen, daß du dich nützlicher beschäftigst mit deiner russischen Grammatik. Du mußt die Sprache nächstens ja fließend beherrschen. Mensch, natürlich ein großer Vorteil für dich, wenn es Krieg gibt, was Gott verhüte."

"Verhüte? Du sprichst wie ein Zivilist. Krieg ist notwendig. Ohne Kriege würde bald die Welt verfaulen, hat Moltke gesagt."

"Ja, dazu hat sie wohl eine Neigung. Und so viel kann ich dir zugeben", setzte Hans Castorp an und wollte eben auf die Chaldäer zurückkommen, die ebenfalls Krieg geführt und Ba-bylonien erobert hätten, obgleich sie Semiten und also beinahe Juden gewesen seien, – als beide gleichzeitig gewahr wurden, daß zwei Herren, die dicht vor ihnen gingen, die Köpfe nach ihnen wandten, aufmerksam gemacht durch ihre Reden, gestört in eigener Unterhaltung.

Es war auf der Hauptstraße, zwischen dem Kurhaus und dem Hotel Belvedere, auf dem Rückweg nach Davos-Dorf Das Tal lag im Festkleide, in zarten, lichten und frohen Farben. Die Luft war köstlich. Eine Symphonie von heiteren Wiesenblumendüften erfüllte die reine, trockene, klar durchsonnte Atmosphäre.

Sie erkannten Lodovico Settembrini zur Seite eines Frem-den; doch schien es, als erkenne er seinerseits sie nicht oder als wünsche er kein Zusammentreffen, denn er wandte rasch den Kopf wieder ab und vertiefte sich gestikulierend in die Unterhaltung mit seinem Begleiter, wobei er sogar rascher vorwärts zu kommen suchte. Als freilich die Vettern, rechts neben ihm, durch heitere Verbeugung grüßten, stellte er sich wunder wie angenehm überrascht, mit "Sapristi!" und "Teufel noch ein-mal!", wollte aber nun wieder zurückhalten, die beiden vor-über – und vorangehen lassen, was sie jedoch nicht verstanden, das heißt: nicht bemerkten, weil sie keine Vernunft darin sahen. Ehrlich erfreut vielmehr, ihm nach längerer Trennung wieder zu begegnen, hielten sie sich bei ihm und schüttelten ihm die Hand, indem sie nach seinem Ergehen fragten und in höflicher Erwartung dabei zu seinem Gefährten hinüberblickten. So zwangen sie ihn, zu tun, was er offenbar lieber nicht getan hätte, was aber ihnen als die natürlichste und zu gewärtigendste Sache von der Welt erschien: nämlich sie mit jenem bekannt zu machen, – was denn also im Gehen und halben Stehenbleiben derart geschah, daß Settembrini, mit verbindenden Handbewegun-gen und lustigen Reden die Herren miteinander in Beziehung setzte, sie vor seiner Brust sich die Hände reichen ließ.

Es stellte sich heraus, daß der Fremde, der Settembrinis Jahre haben mochte, dessen Hausgenosse war: der andere Aftermieter Lukaçeks, des Damenschneiders, Naphta mit Namen, soviel die jungen Leute verstanden. Er war ein kleiner, magerer Mann, ra-siert und von so scharfer, man möchte sagen: ätzender Häßlich-keit, daß die Vettern sich geradezu wunderten. Alles war scharf an ihm: die gebogene Nase, die sein Gesicht beherrschte, der schmal zusammengenommene Mund, die dick geschliffenen Gläser der im übrigen leicht gebauten Brille, die er vor seinen hellgrauen Augen trug, und selbst das Schweigen, das er be-wahrte, und dem zu entnehmen war, daß seine Rede scharf und folgerecht sein werde. Er war barhaupt, wie es sich gehörte, und im bloßen Anzug, – sehr wohlgekleidet dabei: sein dunkelblau-er Flanellanzug mit weißen Streifen zeigte guten, gehalten mo-dischen Schnitt, wie der weltkindlich prüfende Blick der Vettern feststellte, die übrigens einem ebensolchen, nur rascheren und schärferen, an ihren Personen hinabgleitenden Blick von seiner, des kleinen Naphta Seite, begegneten. Hätte Lodovico Settembrini seinen faserigen Flaus und seine gewürfelten Hosen nicht mit so viel Anmut und Würde zu tragen gewußt, – seine Erscheinung hätte unvorteilhaft abstechen müssen von der fei-nen Gesellschaft. Sie tat esjedoch um so weniger, als die Gewürfelten frisch aufgebügelt waren, so daß man sie auf den er-sten Blick fast für neu hätte halten können, – ein Werk seines Quartiergebers zweifellos, nach beiläufiger Überlegung der jungen Leute. Wenn aber der häßliche Naphta nach der Güte und Weltlichkeit seiner Kleidung den Vettern näher stand als seinem Hausgenossen, so ordneten doch nicht alleine seine vor-gerückteren Jahre ihn mit diesem gegen die Jünglinge zusam-men, sondern entschieden noch etwas anderes, was sich am be-quemsten auf die Gesichtsfarbe der beiden Paare zurückführen ließ, nämlich darauf, daß die einen braun und rotgebrannt, die anderen aber bleich waren: Joachims Gesicht war im Laufe des Winters noch bronzefarbener nachgedunkelt, und dasjenige Hans Castorps glühte rosenrot unter seinem blonden Scheitel; aber Herrn Settembrinis welscher Blässe, die gar edel zu seinem schwarzen Schnurrbart stand, hatte die Strahlung nichts anzuhaben vermocht, und sein Genosse, obgleich blonden Haares – es war übrigens aschblond, metallisch-farblos, und er trug es glatt aus der fliegenden Stirn über den ganzen Kopf zurückgestrichen – , zeigte gleichfalls die mattweiße Gesichtshaut brünetter Rassen. Zwei von den vieren trugen Spazierstöcke, nämlich Hans Castorp und Settembrini; denn Joachim ging aus militäri-schen Gründen ohne einen solchen, und Naphta legte nach er-folgter Vorstellung sogleich wieder die Hände auf dem Rücken zusammen. Sie waren klein und zart, wie auch seine Füße sehr zierlich waren, übrigens seiner Figur entsprechend. Daß er er-kältet wirkte und auf eine gewisse schwächliche und unförderli-che Art hustete, fiel nicht auf.

Jenen Anflug von Betroffenheit oder Verstimmung beim Gewahrwerden der jungen Leute hatte Settembrini sofort mit Eleganz überwunden. Er zeigte sich in der besten Laune und machte die drei unter Scherzreden bekannt, – zum Beispiel be-zeichnete er Naphta als "Princeps scholasticorum". Die Fröh-lichkeit, sagte er, "halte glanzvoll Hof im Saale seiner Brust", wie Aretino sich ausgedrückt habe, und das sei des Frühlings Verdienst, eines Frühlings, den er sich lobe. Die Herren wüßten, daß er gegen die Welt hier oben manches auf dem Herzen habe, sooft er es sich bereits davon heruntergeredet. Ehre jedoch dem Hochgebirgsfrühling! – vorübergehend vermöge er ihn mit allen Greueln dieser Sphäre zu versöhnen. Da fehle alles Verwir-rende und Aufreizende des Frühlings der Ebene. Kein Gebrodel in der Tiefe! Keine feuchten Düfte, kein schwüler Dunst! Sondern Klarheit, Trockenheit, Heiterkeit und derbe Anmut. Es sei nach seinem Herzen, es sei süperb!

 

Sie gingen in unregelmäßiger Reihe, nebeneinander alle vier, so weit es möglich war, aber bald, wenn Entgegenkommende vorbeigingen, mußte Settembrini, der den rechten Flügel hielt, auf die Fahrstraße treten, bald löste ihre Front durch das Zu-rückbleiben und Einlenken einzelner Glieder, Naphtas etwa, linkerseits, oder Hans Castorps, der den Platz zwischen dem Humanisten und Vetter Joachim hatte, sich vorübergehend auf. Naphta lachte kurz, mit einer vom Schnupfen sordinierten Stimme, die beim Sprechen an den Klang eines gesprungenen Tellers erinnerte, an den man mit dem Knöchel klopft. Indem er mit dem Kopf seitlich zu dem Italiener hinüberwies, sagte er mit schleppendem Akzent:

"Man höre den Voltairianer, den Rationalisten. Er lobt die Natur, weil sie uns auch bei fertilster Gelegenheit nicht mit my-stischen Dämpfen verwirrt, sondern klassische Trockenheit wahrt. Wie hieß doch die Feuchtigkeit auf lateinisch?"

"Der Humor", rief Settembrini über die linke Schulter, "der Humor in der Naturbetrachtung unseres Professors besteht dar-in, daß er, wie die heilige Katharina von Siena, an die Wunden Christi denkt, wenn er rote Primeln sieht."

Naphta erwiderte:

"Das wäre eher witzig als humoristisch. Aber es hieße im-merhin Geist in die Natur tragen. Sie hat es nötig."

"Die Natur", sagte Settembrini mit gesenkter Stimme und nicht mehr völlig über die Schulter hinweg, sondern nur noch an ihr hinunter, "hat Ihren Geist durchaus nicht nötig. Sie ist selber Geist."

"Sie langweilen sich nicht mit Ihrem Monismus?"

"Ah, Sie geben also zu, daß es Vergnügungssucht ist, wenn Sie die Welt feindlich entzweien, Gott und Natur auseinanderreißen!"

"Es interessiert mich, daß Sie Vergnügungssucht nennen, was ich im Sinne habe, wenn ich Passion und Geist sage."

"Zu denken, daß Sie, der große Worte für so frivole Bedürfnisse setzt, mich manchmal einen Redner nennen!"

"Sie bleiben dabei, daß Geist Frivolität bedeutet. Aber er kann nichts dafür, daß er von Hause aus dualistisch ist. Der Dualismus, die Antithese, das ist das bewegende, das leidenschaftliche, das dialektische, das geistreiche Prinzip. Die Welt feindlich gespalten sehen, das ist Geist. Aller Monismus ist langweilig. Solet Aristoteles quaerere pugnam."

"Aristoteles? Aristoteles hat die Wirklichkeit der allgemeinen Ideen in die Individuen verlegt. Das ist Pantheismus."

"Falsch. Geben Sie den Individuen substantiellen Charakter, denken Sie das Wesen der Dinge aus dem Allgemeinen fort in die Einzelerscheinung, wie Thomas und Bonaventura es als Ari-stoteliker taten, so haben Sie die Welt aus jeder Einheit mit der höchsten Idee gelöst, sie ist außergöttlich und Gott transzen-dent. Das ist klassisches Mittelalter, mein Herr."

"Klassisches Mittelalter ist eine köstliche Wortverbindung!"

"Ich bitte um Entschuldigung, aber ich lasse den Begriff des Klassischen statthaben, wo er am Platze ist, das heißt, wo immer eine Idee auf ihren Gipfel kommt. Die Antike war nicht immer klassisch. Ich stelle eine Abneigung gegen die … Freizügigkeit der Kategorien bei Ihnen fest, gegen das Absolute. Sie wollen auch nicht den absoluten Geist. Sie wollen, der Geist, das sei der demokratische Fortschritt."

"Ich hoffe uns einig in der Überzeugung, daß der Geist, so absolut er sei, niemals den Anwalt der Reaktion wird machen können."

"Er ist jedoch immer der Anwalt der Freiheit!"

"Jedoch? Freiheit ist das Gesetz der Menschenliebe, nicht Nihilismus und Bosheit."

"Wovor Sie offenbar Angst haben."

Settembrini warf den Arm über den Kopf Das Geplänkel brach ab. Joachim blickte verwundert von einem zum andern, während Hans Castorp mit hochgezogenen Brauen auf seinen Weg niedersah. Naphta hatte scharf und apodiktisch gesprochen, wiewohl er es gewesen war, der die weitere Freiheit verfochten hatte. Besonders seine Art, mit "Falsch!" zu widersprechen, beim "Sch"-Laut die Lippen vorzuschieben und dann den Mund zu verkneifen, war unangenehm. Settembrini hatte ihm teils auf heitere Weise Widerpart gehalten, teils auch eine schö-ne Wärme in seine Worte gelegt, etwa dort, wo er zur Einigkeit in gewissen Grundgesinnungen gemahnt hatte. Jetzt, während Naphta schwieg, begann er, den Vettern die Existenz des ihnen Fremden zu erläutern, womit er dem Bedürfnis nach Aufklä-rung entgegenkam, das er nach seinem Wortwechsel mit Naphta bei ihnen voraussetzte. Dieser ließ es geschehen, ohne sich dar-um zu kümmern. Er sei Professor der alten Sprachen in den obersten Klassen des Fridericianums, erklärte Settembrini, in-dem er den Stand des Vorzustellenden nach italienischer Art möglichst pomphaft herausstrich. Sein Schicksal sei dem seinen, Settembrinis eigenem, gleich. Durch seinen Gesundheitszustand vor fünf Jahren heraufgeführt, habe er sich überzeugen müssen, daß er des Aufenthaltes für lange Frist bedürftig sei, habe sein Sanatorium verlassen und sich privat-ansässig gemacht, bei Luka-çek, dem Damenschneider. Des hervorragenden Latinisten, Zöglings einer Ordensschule, wie er sich etwas unbestimmt ausdrückte, habe sich klugerweise die höhere Lehranstalt des Ortes als eines Dozenten versichert, der ihr zur Zierde gerei-che … Kurz, Settembrini erhob den häßlichen Naphta nicht wenig, obgleich er doch eben noch etwas wie einen abstrakten Streit mit ihm gehabt, und obgleich dieser streitähnliche Wort-wechsel sich sogleich fortsetzen sollte.

Settembrini ging nämlich jetzt dazu über, Herrn Naphta Er-läuterungen über die Vettern zu geben, 'wobei sich übrigens zeigte, daß er ihm schon früher von ihnen erzählt hatte. Dies sei also der junge Ingenieur mit den drei Wochen, bei dem Hofrat Behrens eine feuchte Stelle gefunden habe, sagte er, und dies hier jene Hoffnung der preußischen Heeresorganisation, Leut-nant Ziemßen. Und er sprach von Joachims Gemütsempörung und Reiseplänen, um hinzuzufügen, daß man dem Ingenieur zweifellos zu nahe treten würde, wenn man ihm nicht dieselbe Ungeduld zuschiebe, zur Arbeit zurückzukehren.

Naphta verzog das Gesicht. Er sagte:

"Die Herren haben da einen beredten Vormund. Ich hüte mich, zu bezweifeln, daß er Ihre Gedanken und Wünsche zu-treffend verdolmetscht. Arbeit, Arbeit – , ich bitte, gleich wird er mich einen Feind der Menschheit schelten, einen inimicus hu-manae naturae, wenn ich es wage, an Zeiten zu erinnern, wo er mit dieser Fanfare den gewohnten Effekt durchaus nicht erzielt hätte, nämlich an Zeiten, wo das Gegenteil seines Ideals in un-vergleichlich höheren Ehren stand. Bernhard von Clairvaux et-wa lehrte eine andere Stufenfolge der Vollkommenheit, als Herr Lodovico sie sich je hat träumen lassen. Wollen Sie wis-sen, welche? Sein unterster Stand befindet sich in der 'Mühle', der zweite auf dem 'Acker', der dritte und lobenswerteste aber – hören Sie nicht zu, Settembrini – , 'auf dem Ruhebett'. Die Mühle, das ist das Sinnbild des Weltlebens, – nicht schlecht ge-wählt. Der Acker bedeutet die Seele des weltlichen Menschen, darauf der Prediger und geistliche Lehrer wirkt. Diese Stufe ist schon würdiger. Auf dem Bette aber –"

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