Nur den Tapferen

Текст
0
Отзывы
Читать фрагмент
Отметить прочитанной
Как читать книгу после покупки
Шрифт:Меньше АаБольше Аа

Schmerz ergriff Royce, und Wut, und hundert andere Gefühle, die sich wie ein Knoten in ihm zusammenballten und sein Herz drohten, entzwei zu reißen. Er taumelte durch das Dorf, von Leiche zu Leiche, und konnte nicht fassen, dass, Menschen, wenn sie auch die Männer des Herzogs waren, zu so etwas im Stande waren.

Doch das waren sie gewesen, und es gab keine Möglichkeit, es ungeschehen zu machen.

„Mutter!“ rief Royce. „Vater!“

Er wagte es trotz des Schreckens, der ihn umgab, zu hoffen. Ein paar der Dorfeinwohner mussten es doch geschafft haben, sich in Sicherheit zu bringen. Plündernde Soldaten nahmen es für gewöhnlich nicht so genau, und so konnten einige Menschen stets entkommen, war es nicht so?

Royce erblickte einen weiteren Berg aus Leichen auf dem Boden. Diese sahen anders aus, denn keiner der Körper wies irgendwelche Schwertwunden auf. Sie sahen so aus als wären sie einfach… gestorben, mit bloßen Händen erwürgt vielleicht, doch schon auf der Roten Insel hatte er gelernt, welch schwieriges Unterfangen das war. Royce war das gerade egal, denn auch wenn er diese Menschen gekannt hatte, waren sie nicht die, die er versuchte, zu finden. Sie waren nicht seine Eltern.

„Mutter!“ rief Royce abermals. „Vater!“

Er wusste, dass Soldaten ihn so vielleicht hören konnten, wenn sie noch hier waren, doch das war ihm egal. Ein Teil von ihm hätte es sogar gutgeheißen, wenn sie noch hier gewesen wären, denn so hätte er die Gelegenheit bekommen, sie zu töten und Rache zu nehmen.

„Seid ihr da?“ rief Royce, und eine Gestalt, ganz ausgemergelt und von Asche bedeckt, stolperte aus einem der Gebäude. Royces Herzschlag setzte für den Bruchteil einer Sekunde aus, denn er dachte, dass seine Mutter ihn vielleicht gehört hatte, doch dann verstand er, dass es nicht sie war. Er erkannte in der Gestalt die Alte Lori wieder, die die Kinder immer mit ihren Schauermärchen erschreckt hatte und die manchmal behauptet hatte, seherische Fähigkeiten zu besitzen.

„Deine Eltern sind tot, Junge“, sagte sie, und in diesem Moment schien die Welt für Royce zusammenzubrechen. Die Zeit schien stillzustehen, gefangen in dem Moment zwischen zwei Herzschlägen.

„Das darf nicht wahr sein“, sagte Royce und schüttelte ungläubig den Kopf, denn er wollte nicht glauben, dass dies die Wahrheit war. „Das darf nicht sein.“

„Sie sind tot.“ Lori ließ sich vor den Überresten einer kleinen Mauer nieder. „So tot wie auch ich es bald sein werde.“

Als sie das ausgesprochen hatte, sah Royce das Blut auf ihrem grobgewebten Kleid, das Loch in ihrer Seite, im das ein Schwert gefahren war.

„Lass mich dir helfen“, sagte er, und trotz des frischen Schmerzes, der in ihm aufstieg nach dem, was sie ihm über seine Eltern gesagt hatte, lief er auf sie zu. Sich auf sie zu konzentrieren, erschien ihm der einzige Weg, den Schmerz in diesem Moment nicht zu spüren.

„Fass mich bloß nicht an!“ sagte sie und deutete mit dem Finger auf ihn. „Glaubst du, dass ich die Dunkelheit, die sich wie ein Umhang um dich legt, nicht sehen kann? Glaubst du, ich sehe nicht, wie Tod und Zerstörung alles heimsuchen, was du berührst?“

„Aber du stirbst“, sagte Royce in einem Versuch, sie doch noch zu überzeugen.

Die Alte Lori zuckte die Schultern. „Alles stirbt… nun, fast alles“, sagte sie. „Auch du wirst irgendwann sterben, auch wenn du davor die Welt auf den Kopf stellen wirst. Wie viele Menschen werden noch für deine Träume sterben müssen?“

„Ich will nicht, dass irgendjemand stirbt“, sagte Royce.

„Und doch werden sie es“, erwiderte die alte Frau. „Deine Eltern sind gestorben.“

Frische Wut ergriff von Royce Besitz. „Die Soldaten. Ich werde – “

„Nicht die Soldaten, nicht im Fall deiner Eltern. Es scheint, als würde nicht nur ich die Gefahr sehen, die dir folgt, Junge. Ein Mann ist hierher gekommen, und ich habe den Tod an ihm so stark gespürt, dass ich mich vor ihm versteckt habe. Er tötete mühelos einige starke Männer, und als er in dein Haus ging…“

Royce konnte sich den Rest denken. Er verstand in diesem Moment etwas anderes, und die ganze furchtbare Wahrheit traf ihn wie ein Schlag.

„Ich habe ihn gesehen. Ich habe ihn auf dem Weg gesehen“, sagte Royce. Seine Hand umklammerte sein Schwert. „Ich hätte es mit ihm aufnehmen sollen. Ich hätte ihn an Ort und Stelle töten sollen.“

„Ich habe gesehen, was er getan hat“, sagte die Alte Lori. „Er hätte dich so sicher umgebracht, wie du uns just durch deine Geburt umgebracht hast. Ich werde dir einen Rat geben, Junge. Lauf. Lauf dorthin, wo niemand ist. Zeig niemandem jemals wieder dein Gesicht. Versteck dich wie ich mich einst versteckte bevor ich zu dem wurde, was ich heute bin.“

„Nach all dem?“ fragte Royce, und die Wut ergriff ihn abermals. Er spürte jetzt, wie heiße Tränen ihm über die Wangen liefen, und er wusste nicht, ob sie dem Kummer oder der Wut oder etwas anderem galten. „Du denkst, dass ich nach all dem hier weglaufe?“

Die alte Frau schloss ihre Augen und seufzte. „Nein, nein, das glaube ich nicht. Ich sehe… ich sehe, wie sich das gesamte Land bewegt, ein König sich erhebt, ein König stürzt. Ich kann Tod sehen und noch mehr Tod, nur weil du niemand anderes sein kannst als du selbst.“

„Lass mich dir helfen“, sagte Royce noch einmal. Er streckte seine Hand aus, um die Wunde in Loris Seite zusammenzudrücken. Etwas flackerte auf. Es glich dem unangenehmen Gefühl von Wolle, die man in die falsche Richtung strich. Lori keuchte.

„Was hast du getan?“ fragte sie. „Geh, Junge. Geh! Überlass eine alte Frau ihrem Tod. Ich bin zu müde. Jeder Schritt deines Weges wird noch voll von Toten sein.“

Dann schwieg sie und für einen Moment dachte Royce, dass sie sich vielleicht ein wenig ausruhen wollte, doch dafür war sie zu still geworden. Das Dorf um ihn war wieder totenstill. In dieser Stille erhob sich Royce wieder. Er hatte keine Ahnung, was er jetzt tun sollte.

Dann fiel es ihm ein, und er machte sich auf den Weg zu den Überresten seines elterlichen Zuhauses.

Kapitel vier

Raymond stöhnte bei jedem Ruck des Karrens, der ihn und seine Brüder zur Stätte ihrer Hinrichtung bringen sollte. Er konnte fühlen, wie jedes Rütteln und Schütteln des Wagens die Blutergüsse, die seinen Körper bedeckten, erschütterten. Er konnte das Rasseln seiner Ketten hören, die gegen das Holz des Wagens geworfen wurden.

Er konnte seine Angst spüren, auch wenn diese irgendwo jenseits des Schmerzes zu liegen schien; der Wächter hatte ihn so sehr geschlagen, dass sich sein Körper wie ein zerbrochenes Etwas mit scharfen Kanten anfühlte. Er hatte Mühe, sich im Angesicht des Todes auf irgendetwas zu konzentrieren.

Die Angst, die er jetzt spürte, galt hauptsächlich seinen Brüdern.

„Wie lange noch, was glaubst du?“ fragte Garet. Raymonds jüngstem Bruder war es gelungen, sich in dem Karren aufzusetzen, und so konnte Raymond die Blutergüsse in seinem Gesicht sehen.

Lofen brauchte mehr Zeit, sich aufzusetzen. Er war nach der Zeit im Kerker ganz ausgemergelt. „Wie lange es auch dauern mag, es wird nicht lang genug dauern.“

„Wo glaubt ihr werden sie uns hinbringen?“ fragte Garet.

Raymond konnte verstehen, warum sein kleiner Bruder das wissen wollte. Die Vorstellung, hingerichtet zu werden, war schon schlimm genug, doch nicht zu wissen, wie das Ganze genau vonstatten ging, wo es geschehen würde oder wie, war noch viel schlimmer.

„Ich weiß es nicht“, brachte Raymond heraus. Selbst das Sprechen bereitete ihm Schmerzen. „Wir müssen tapfer sein, Garet.“

Er sah seinen Bruder nicken. Er sah entschlossen aus ungeachtet der Lage, in der die drei sich befanden. Um sie herum zog auf beiden Seiten die Landschaft mitsamt ihren Höfen und Feldern an ihnen vorbei. In der Ferne stand der Wald. Sie kamen auch an einigen Hügeln und Häuschen vorbei, die Stadt schien jetzt in weiter Ferne zu sein. Ihr Karren wurde von einem Wächter gefahren während ein zweiter mit Armbrust bei Fuß neben diesem saß. Zwei weitere ritten neben ihrem Karren. Sie blickten sich um, als würden sie jeden Moment mit Ärger rechnen.

„Klappe halten da hinten!“ schrie derjenige mit der Armbrust ihnen zu.

„Was habt ihr mit uns vor?“ fragte Lofen. „Mehr als nur hinrichten?“

„Eure Großmäuler haben euch wahrscheinlich diese Spezialbehandlung eingebracht“, sagte der Wächter. „Die meisten Kerkerinsassen erledigen wir gleich an Ort und Stelle, so wie der Herzog das will, kein Problem. Ihr seid allerdings gerade auf dem Weg dorthin, wo man diejenigen hinbringt, die ihn wirklich verärgert haben.“

„Und wo soll das sein?“ fragte Raymond.

Der Wächter grinste widerlich als er antwortete. „Hört ihr das, Jungs?“ sagte er. „Sie wollen wissen, wo sie hinfahren.“

„Das werden sie noch früh genug erfahren“, sagte der Fahrer und ließ die Zügel schnalzen, um das Pferd ein wenig schneller voranzutreiben. „Ich wüsste nicht, warum wir Kriminellen irgendetwas sagen sollten, außer dass sie all das kriegen, was sie verdient haben.“

„Verdienen?“ fragte Garet vom hinteren Teil des Karrens. „Wir verdienen das hier sicherlich nicht. Wir haben nichts Falsches getan!“

Raymond hörte seinen Bruder aufschreien, als die Peitsche eines der Reiter neben ihnen seine Schultern traf.

„Denkst du irgendjemand will hören, was du zu sagen hast?“ knurrte der Mann. „Stell dir vor, jeder den wir auf diesen Weg geschickt haben, hat versucht, seine Unschuld zu beteuern. Der Herzog hat euch zu Verrätern erklärt, also werdet ihr den Tod eines Verräter sterben!“

Raymond wollte nachsehen, ob es seinem Bruder gut ging, doch die Ketten ließen das nicht zu. Er dachte darüber nach, ob er einfach weiter darauf bestehen sollte, dass sie nichts weiter getan hatten als sich gegen ein Regime zu stellen, das versuchte, ihnen alles zu nehmen. Doch genau das war der Punkt. Der Herzog und sein Adel taten, was immer ihnen beliebte; das hatten sie immer schon. Natürlich konnte der Herzog sie hinrichten lassen, denn genau so liefen die Dinge hier.

 

Bei diesem Gedanken zerrte Raymond an seinen Ketten als wäre es möglich, sich mit bloßer Kraft von ihnen loszureißen. Das Metall hielt seinen Versuchen mühelos stand und nahm ihm das letzte bisschen Kraft, das ihm noch geblieben war. Schließlich brach er auf dem Holzkarren zusammen.

„Schaut euch den an. Er versucht, sich zu befreien“, sagte der Mann mit Armbrust lachend.

Raymond sah, wie der Fahrer die Schultern zuckte. „Besser sie wehren sich jetzt als nachher, wenn die Zeit gekommen ist.“

Raymond wollte fragen, was der Mann damit meinte, doch er wusste, dass er keine Antwort kriegen würde höchstens ein paar Schläge so wie sein Bruder. Ihm blieb nichts anderes übrig als still dazusitzen, während der Wagen seine wacklige Fahrt über die schlammige Straße fortsetzte. Das, so vermutete er, war bereits Teil der Folter: das Nicht-Wissen und das Bewusstsein für die eigene Hilflosigkeit sowie die vollständige Unfähigkeit, irgendetwas zu unternehmen oder herauszufinden, wohin sie fuhren oder gar den Karren von seinem Kurs abzubringen.

Er fuhr durch die Felder, an Bäumen und stillen Dörfern vorbei. Der Weg schien jetzt anzusteigen. Sie fuhren hinauf in Richtung eines Forts, das auf einem Hügel thronte und das beinahe so alt wie das Königreich selbst sein musste. Seine Ruinen ragten wie das Testament eines längst vergangenen Königreichs in den Himmel.

„Wir sind gleich da, Jungs“, sagte der Karrenfahrer mit einem Grinsen, das verriet, wie sehr er das gerade genoss. „Seid ihr bereit, zu sehen, was sich Herzog Altfor für euch ausgedacht hat?“

„Herzog Altfor?“ fragte Raymond ungläubig.

„Euer Bruder hat den alten Herzog getötet“, sagte der Mann mit Armbrust. „Hat dem Herzog im Graben einen Speer ins Herz gejagt und ist dann wie der Feigling, der er nun einmal ist, davongerannt. Jetzt werdet ihr für seine Tat büßen.“

Nachdem er das gesagt hatte begannen Raymonds Gefühle und Gedanken zu rasen. Wenn Royce das wirklich getan hatte, dann hatte ihr Bruder etwas Großes für die Freiheit aller erreicht, und er war ihnen entkommen; beide Tatsachen waren ein Grund zum Feiern. Gleichzeitig konnte Raymond sich leibhaftig vorstellen, was der Sohn des ehemaligen Herzogs tun würde, um Rache zu nehmen, und da Royce ihnen entwischt war, waren sie das nächste logische Ziel.

Er verfluchte Genoveva dafür. Wenn sein Bruder sie nie kennengelernt hätte, dann wäre nichts von alldem geschehen, und schließlich war Royce ihr offenbar ja vollkommen egal, oder?

„Aha“, sagte der Mann mit Armbrust. „Ich glaube, sie fangen an, es zu verstehen.“

Die Pferde, die den Karren zogen, trabten weiter. Sie bewegten sich mit der Gleichmütigkeit von Tieren, die eins mit ihrer Aufgabe geworden waren und die wussten, dass sie zumindest dorthin zurückkehren würden, wo sie hergekommen waren.

Sie fuhren den Hügel hinauf, und Raymond konnte spüren, wie die Anspannung unter seinen Brüdern zunahm. Garet wippte vor und zurück als würde er so einen Weg finden, sich von seinen Ketten zu befreien und vom Wagen zu springen. Sollte ihm das gelingen, so hoffte Raymond, dass er seine Chance nutzen und davonlaufen würde ohne sich noch einmal umzublicken, auch wenn die Wachen ihn wahrscheinlich niedermetzeln würden noch bevor er die ersten zehn Schritte getan hatte. Lofen ballte seine Hände zusammen und ließ sie dann wieder locker. Er flüsterte etwas, das wie ein Gebet klang. Raymond bezweifelte, dass das irgendetwas ausrichten würde.

Schließlich erreichten sie den Kamm des kleinen Berges, und Raymond erblickte nun das, was sie dort erwartete. Es war genug, als dass er in dem Wagen zurückwich und wie angewurzelt sitzen blieb.

Auf dem Kamm des Berges hatte man zahllose Käfige aufgehängt, die im Schatten der Turmruine an Ketten baumelnd im Wind quietschten. Körper befanden sich in ihnen. Von einigen war kaum mehr als das Skelett übrig, andere waren unversehrt genug, dass Raymond die schrecklichen Wunden und Bisse erkennen konnte, die ihre Körper überzogen und die Verbrennungen und Stellen, an denen die Haut wohl mit langen Messern weggeschnitten worden war. Zeichen waren in das Fleisch geschnitten worden, und Raymond erkannte unter ihnen eine Frau wieder, die man zuvor aus ihrem Kerker gezerrt hatte und der man Kreise und Runen in die Haut geritzt hatte.

„Picti“, flüsterte Lofen entsetzt, doch konnte Raymond sehen, dass das längst nicht das schlimmste war. Die Menschen in den Käfigen wiesen Wunden auf, die darauf hindeuteten, dass sie gefoltert und ermordet worden waren und dass sie dem Zorn irgendwelcher Völker, die vielleicht zufällig hier vorbeigekommen waren, ausgesetzt worden waren. Doch das, was auf dem Stein in der Mitte der Bergkuppe lag war schlimmer, weitaus schlimmer.

Der Stein selbst war eine Platte, die sowohl die Symbole eines fremden Volkes enthielt als auch Zeichen, die man magisch genannt hätte, wenn derlei Dinge in ihrer Zeit noch irgendeine Rolle gespielt hätten. Die Überreste eines Mannes lagen angekettet auf der Platte, und das schlimmste, das schlimmste daran war die Tatsache, dass er stöhnte als litt er Todesqualen, auch wenn er kein Recht dazu hatte. Sein Körper war mit Schnitten und Brandmalen, Bisswunden und tiefen Kratzern übersät, und doch war er noch am Leben.

„Sie nennen es Lebensstein“, sagte der Fahrer mit einem Grinsen, das besagte, dass er genau wusste, wie Raymond jetzt zumute sein musste. „Man sagt, dass früher Heiler sie benutzt haben, um Menschen am Leben zu halten während sie sie nähten oder operierten. Wir haben einen besseren Nutzen für den hier gefunden.“

„Besser?“ fragte Raymond. „Das ist…“ Er hatte nicht einmal Worte für das, was er da vor sich sah. Böse würde es nicht ausreichend beschreiben. Das hier war kein Verbrechen gegen die menschlichen Gesetze, sondern etwas, das im Gegensatz zu dem stand, was es schon immer in der Natur gegeben hatte. Es war falsch, weil es gegen alles war, das Leben, Verstand und Ordnung bedeutete.

„Das blüht Verrätern, außer sie haben Glück und sterben sofort“, sagte der Fahrer. Er nickte den beiden Wachen zu, die ihren Karren flankiert hatten. „Macht den Käfig dort leer. Was immer er getan hat, jetzt ist er nicht mehr sein Käfig. Lasst seinen Körper für die Tiere auf dem Boden liegen.“

Die zwei Wächter machten sich murrend an die Arbeit. Raymond hätte in diesem Moment davonrennen können, wenn er dazu in der Lage gewesen wäre. Doch seine Ketten waren zu stark. Er konnte sich kaum über den Rand des Karrens beugen geschweige denn sich darüber hinweg ziehen. Die Wachen schienen das zu wissen. Sie bewegten sich lässig von Käfig zu Käfig und zogen die Leichen von Männern und Frauen aus ihnen hinaus, um sie auf den Boden fallen zu lassen. Einige zerbarsten sobald sie auf den Boden trafen. Einzelne Körperteile verteilten sich so über den Boden des Berges, bereit, von was auch immer da kommen mochte, verschlungen zu werden.

Als sie die Leiche der Frau, mit der sie im Kerker gesessen hatten, davonschleppten, streifte diese die Steinplatte in der Mitte der Bergkuppe. Beim Kontakt mit der Platte riss die Frau ihre Augen weit auf und stieß einen Schrei aus, der so markerschütternd und voll von Schmerzen war, dass Raymond nur vermuten konnte, welche Höllenqualen sie erlitten haben musste. Er war sich sicher, dass dieser Schrei ihn bis zum Ende seines Lebens verfolgen würde.

„Sie muss noch gelebt haben“, sagte derjenige mit der Armbrust während die anderen sie von der Steinplatte zogen. Sie verstummte augenblicklich als der Körper die Platte nicht mehr berührte, und, nur um ganz sicher zu sein, feuerte der Armbrustmann einen Pfeil in ihre Brust bevor sie sie zur Seite schafften.

Sie zerrten den Mann von der Steinplatte, und für Raymond war das schlimmste daran, dass der Mann ihnen dankte als sie das taten. Er danke ihnen, dass sie ihn sterben ließen. Raymond sah, wie aus dem kämpfenden und schreienden Mann ein lebloser Fleischklumpen wurde sobald der Körper des Mannes keinen Kontakt mehr mit der Platte hatte. Sein Körper war so leblos, dass es ihm beinahe überflüssig erschien, dass die Wachen ihm den Hals durchschnitten, nur um sicher zu sein, dass er wirklich tot war.

Auf dem Berg war es jetzt ganz still geworden, nur der Ruf der Aasvögel und das Rascheln größerer Raubtiere weiter draußen waren zu hören. Vielleicht gab es dort draußen auch menschliche Jäger, die sie beobachteten, denn Raymond hatte gehört, dass zivilisierte Menschen die Picti in ihrer natürlichen Umgebung nicht sehen konnten, wenn diese nicht gesehen werden wollten. Das Nicht-Wissen machte es jedoch fast noch schlimmer.

„Der Herzog sagt, dass ihr sterben sollt“, sagte der Fahrer, „doch hat er nicht gesagt, wie ihr sterben sollt. Mit Verrätern spielen wir immer ein kleines Spiel. Ihr wandert in die Käfige, und vielleicht überlebt ihr sie, vielleicht aber auch nicht. In ein oder zwei Tagen kommen wir dann zurück und wählen einen von euch für den Stein aus.“

Er blickte geradewegs zu Raymond. „Vielleicht wählen wir sich aus. Dann kannst du deinen Brüdern beim Sterben zusehen während ein paar Tiere an dir knabbern oder die Picti etwas in dein Fleisch ritzen. Sie hassen das Volk des Königreichs. Sie können die Stadt nicht angreifen, aber du… du wärest Freiwild.“

Er lachte daraufhin. Die Wachen lösten Raymonds Ketten von der Halterung in dem Wagen und zerrten ihn gewaltsam hinunter. Sie liefen kurz in Richtung der Steinplatte, und Raymond wollte sie schon anflehen, ihn nicht dorthin zu schaffen, weil er dachte, dass sie es sich anders überlegt hatten und ihn gleich dorthin bringen wollten. Doch dann führten sie ihn zu einem der in der Luft baumelnden Käfige und warfen ihn hinein. Sie schlossen die Tür hinter ihm mit einem Schloss ab, für das man Hammer und Meißel geraucht hätte, um es zu brechen.

In dem Käfig war es eng, sodass Raymond kaum richtig sitzen geschweige denn liegen konnte. Der Käfig quietschte und schwang mit jeder Bewegung des Windes so laut, dass allein das schon einer Folterstrafe gleichkam. Unfähig irgendetwas dagegen zu unternehmen, blieb Raymond nichts anderes übrig, als dort hocken zu bleiben und dabei zuzusehen, wie die Männer seine Brüder in zwei andere Käfige sperrten.

Garet wehrte sich, weil Garet sich immer wehrte. Er erntete einen Schlag in den Magen bevor sie ihn hochhoben und ihn in einen der Käfige stopften als wäre er ein Schaf, das sich weigerte, von seinem Bauern in sein Gehege gesperrt zu werden. Ohne große Anstrengung warfen sie daraufhin auch Lofen in einen der Käfige. Umgeben vom Gestank des Todes, den die anderen auf dem Berg zurückgelassenen Leichen verströmten, hingen sie so nun in ihren Käfigen.

„Wie konntet ihr drei nur jemals glauben, dass ihr es mit dem Herzog aufnehmen könntet?“ fragte der Fahrer. „Herzog Altfor hat gesagt, dass ihr für die Tat eures Bruders bezahlen werdet, und das werdet ihr. Ihr bleibt hier und könnt jetzt darüber nachdenken, und leiden. Wir kommen zurück.“

Ohne ein weiteres Wort drehte der Karren um und fuhr von dannen. Raymond und seine Brüder blieben in ihren in der Luft hängenden Käfigen zurück.

„Wenn ich nur…“ sagte Garet und versuchte, das Schloss an seinem Käfig zu erreichen.

„Du hast doch keine Ahnung, wie man so ein Schloss knackt“, sagte Lofen.

„Ich kann es zumindest probieren, oder?“ schoss Garet zurück. „Irgendetwas müssen wir doch tun. Wir müssen – “

„Wir können nichts tun“, sagte Lofen. „Vielleicht schaffen wir es, die Wachen zu töten, wenn sie zurückkommen, aber die Schlösser aufzubrechen, das können wir vergessen.“

Raymond schüttelte den Kopf. „Es reicht“, sagte er. „Jetzt ist nicht die Zeit zu streiten. Wir können nirgends hin, wir können nichts machen, also lasst uns wenigstens nicht streiten.“

Er wusste, was solche Orte bedeuteten, und das es eigentlich keine Chance gab, zu entkommen.

„Nicht mehr lange“, sagte er, „und es werden Tiere hierher kommen, oder schlimmeres. Vielleicht werde ich dann nicht mehr mit euch sprechen können. Vielleicht werde ich… vielleicht werde ich dann tot sein.“

„Nein“, sagte Garet und schüttelte den Kopf. „Nein, nein, nein.“

„Doch“, sagte Raymond. „Darauf haben wir keinen Einfluss, aber wir können unserem Tod mit erhobenem Haupt entgegensehen. Wir können ihnen zeigen, wie aufrichtige Menschen sterben. Wir können uns weigern, ihnen die Angst zu geben, die sie in uns sehen wollen.“

Er sah, wie Garet erbleichte und dann nickte.

„In Ordnung“, sagte sein Bruder. „Das kann ich tun.“

„Ich weiß, dass du das kannst“, sagte Raymond. „Ihr könnt alles schaffen, beide von euch. Ich will damit sagen…“ Wie konnte er all das nur in Worte fassen? „Ich liebe euch beide, und ich bin so dankbar, euer Bruder zu sein. Falls ich sterben muss, dann bin ich froh, es zumindest mit den besten Menschen in dieser Welt zu tun.“

 

„Falls“, sagte Lofen. „Noch ist es nicht so weit.“

„Falls“, stimmte Raymond zu, „doch sollte es so weit kommen, dann will ich, dass ihr das wisst.“

„Ja“, sagte Lofen. „So geht es mir auch.“

„Mir auch“, sagte Garet.

Raymond saß in seinem Käfig und versuchte, tapfer dreinzuschauen, für seine Bruder und all jene, die ihnen zusahen, denn, da war er sich sicher, es musste etwas oder jemanden geben, der sie von den Ruinen des Turms aus beobachtete. Er versuchte, nicht an die Wahrheit zu denken: Es gab kein „falls“ hier. Raymond konnte schon jetzt sehen, wie die ersten Aasgeier sich in den Bäumen sammelten. Sie würden sterben. Es war nur die Frage, wie lange es dauern würde und wie schrecklich dazu.

Бесплатный фрагмент закончился. Хотите читать дальше?
Купите 3 книги одновременно и выберите четвёртую в подарок!

Чтобы воспользоваться акцией, добавьте нужные книги в корзину. Сделать это можно на странице каждой книги, либо в общем списке:

  1. Нажмите на многоточие
    рядом с книгой
  2. Выберите пункт
    «Добавить в корзину»