Weihnachtserzählungen

Текст
Из серии: Literatur (Leinen)
Читать фрагмент
Отметить прочитанной
Как читать книгу после покупки
Шрифт:Меньше АаБольше Аа

Sie öffnete sich, und ein kleines Mädchen, weit jünger als der Knabe, hüpfte herein, schlang die Ärmchen um seinen Nacken, küßte ihn immer wieder und begrüßte ihn als »lieben, lieben Bruder«.

»Ich komme, um dich heimzuholen, lieber Bruder!« rief das Kind, schlug seine dünnen Händchen zusammen und schüttelte sich vor Lachen. »Dich heimzuholen, heim, heim!«

»Heim, Fannylein?« fragte der Knabe.

»Ei freilich!« erwiderte das Kind freudestrahlend, »für immer und ewig. Der Vater ist jetzt viel freundlicher, als er sonst zu sein pflegte, so daß es zu Hause ist wie im Himmel! Er redete so zärtlich mit mir, als ich neulich abends zu Bett ging, daß ich mich nicht fürchtete, ihn noch einmal zu fragen, ob du heimkommen darfst; und er sagte, ja, das solltest du, und schickte mich mit dem Wagen her, dich abzuholen. Du sollst jetzt ein Mann werden und nicht mehr hierher zurückkehren«, sprach das Kind mit großen Augen, »zuerst aber wollen wir alle miteinander den Weihnachtstag feiern und die fröhlichste Zeit von der Welt verbringen.«

»Du bist ein richtiges Frauenzimmer, Fannylein!« rief der Knabe. Sie klatschte in die Hände und lachte und versuchte seinen Kopf zu erreichen; weil sie jedoch zu klein war, lachte sie von neuem und stellte sich auf die Zehenspitzen, um ihn zu umarmen. Hierauf begann sie in ihrem kindischen Eifer ihn zur Tür zu zerren, und er folgte ihr gern.

Eine fürchterliche Stimme im Hausflur schrie: »Bringt Master Scrooges Koffer herunter!« und im Flur erschien der Schulmeister selbst. Er stierte Scrooge mit grimmiger Herablassung an und jagte ihm durch seinen Händedruck Angst ein. Dann führte er ihn und seine Schwester in das schauerlichste alte Loch von Besuchszimmer, das man sich denken kann, wo die Landkarten an der Wand und die Erd- und Himmelsgloben an den Fenstern vor Kälte glänzten. Hier zog er einen Krug unglaublich leichten Weins und ein Stück unglaublich schweren Kuchens hervor und teilte diese Leckerbissen dem jungen Volk ratenweise zu; gleichzeitig beauftragte er eine hagere Magd, dem Kutscher draußen »etwas« zu trinken anzubieten, worauf dieser antwortete, er lasse dem Herrn danken, wenn es aber das gleiche Getränk sei, das er schon früher versucht habe, nehme er’s für empfangen. Master Scrooges Koffer waren inzwischen auf dem Verdeck des Wagens festgebunden worden, und die Kinder sagten leichten Herzens dem Schulmeister Lebewohl, stiegen in den Wagen und fuhren vergnügt die Gartenallee hinunter, so daß die schnellen Räder den Reif und Schnee von den dunklen Blättern des Immergrüns wie Sprühregen abstreiften.

»Sie war immer ein zartes Wesen, das ein Hauch hätte versehren können; aber sie hatte ein großes Herz!« sagte das Gespenst.

»Ja«, rief Scrooge, »da hast du recht, Geist! Gott verhüte, daß ich das bestritte!«

»Sie starb als verheiratete Frau«, fuhr der Geist fort, »und hatte, glaube ich, Kinder.«

»Eines«, versetzte Scrooge.

»Ja«, sagte der Geist. »Dein Neffe!«

Scrooge schien verstimmt, und er antwortete kurz: »Ja.«

Obwohl sie kaum erst die Schule verlassen hatten, waren sie jetzt doch plötzlich in den geschäftigen Hauptstraßen einer Stadt, wo schattenhafte Menschen hin und her eilten, schattenhafte Kutschen und Karren einander den Weg streitig machten und das Gelärm und Getümmel einer wirklichen Stadt herrschte. An der Aufmachung der Läden erkannte man deutlich genug, daß auch hier Weihnachtszeit war, aber es war Abend, und die Straßen waren erleuchtet.

Das Gespenst machte an der Tür eines bestimmten Warenhauses halt und fragte Scrooge, ob er es kenne.

»Ei freilich«, meinte der, »ich war ja hier Lehrling.«

Sie traten ein, und beim Anblick eines alten Herrn mit französischer Perücke – er saß hinter einem so hohen Schreibpult, daß er sicherlich mit dem Kopf an die Zimmerdecke gestoßen hätte, wenn er nur um zwei Zoll größer gewesen wäre – rief Scrooge in großer Erregung: »Ei, das ist ja der alte Fezziwig! Bei Gott, Fezziwig, wie er leibt und lebt!« Der alte Fezziwig legte seine Feder nieder und blickte zur Wanduhr empor, die eben auf sieben zeigte. Er rieb sich die Hände, zupfte seine geräumige Weste zurecht, lachte am ganzen Leib, von den Zehen bis zu den Haarspitzen, und rief mit behäbiger, fetter, satter und gönnerhafter Stimme: »Heda! Ihr! Ebenezer! Dick!«

Scrooges früheres Ich, das inzwischen ein junger Mann geworden war, eilte mit seinem Lehrgenossen eifrig herein.

»Dick Wilkins, nicht wahr?« fragte Scrooge den Geist. »Meiner Treu! ja, er ist’s! War mir recht zugetan, der Dick! Armer Dick! Lieber, Guter!«

»Heda, meine Jungen!« rief Fezziwig. »Für heute ist Feierabend! Weihnachten ist, Dick! Weihnachten, Ebenezer! Schließt die Fensterladen, ehe einer sagen kann: Jack Robinson!« rief der alte Fezziwig und klatschte laut in die Hände.

Ihr könnt euch kaum vorstellen, wie schnell die beiden Jungen zupackten. Eins, zwei, drei – eilten sie mit den Läden auf die Straße hinaus; vier, fünf, sechs – rückten sie sie an ihre Stelle; sieben, acht, neun – stießen sie die Querstangen und Riegel hinein und waren zurück, ehe einer bis zwölf zu zählen vermochte, atemlos wie Rennpferde.

»Heißa!« rief der alte Fezziwig und sprang mit wunderbarer Behendigkeit von seinem hohen Pult herunter. »Räumt aus, Jungen, und laßt uns hier Platz machen! Hurra, Dick! Heißa, Ebenezer!«

Ausräumen! Es gab nichts, was sie nicht wegräumen wollten oder wegräumen konnten, wenn der alte Fezziwig zusah. In einer Minute war es geschehen: alles, was nicht niet- und nagelfest war, wurde weggeschafft, als sollte es für immer aus dem öffentlichen Leben verschwinden; der Hausflur ward reingekehrt und gespritzt, die Lampen wurden geputzt, Kohlen auf das Feuer gehäuft, und das Warenhaus war ein so behaglicher, warmer, trockener und strahlender Ballsaal, wie man ihn sich an einem Winterabend nur wünschen mag.

Und herein trat ein Fiedler mit einem Notenbuch, bestieg das verlassene Schreibpult, machte ein Orchester daraus und stimmte, daß es nach ärgsten Magenschmerzen klang. Und herein trat Mrs. Fezziwig, ganz und gar zum breiten, vergnügten Lächeln geworden. Und herein traten die drei Misses Fezziwig, strahlend und liebenswürdig; ihnen folgten ihre sechs jungen Anbeter, denen sie fast das Herz brachen. Und herein traten alle die jungen Leute, die im Geschäft angestellt waren. Und herein traten die Hausmagd mit ihrem Vetter, dem Bäcker, die Köchin mit ihres Bruders Busenfreund, dem Milchmann, der Laufbube von gegenüber, der, wie man sagte, bei seinem Herrn nicht genug zu essen bekam und sich hinter der Hausmagd vom zweitnächsten Nachbar zu verbergen suchte, von der man wußte, daß ihre Herrin sie manchmal bei den Ohren nahm. Sie alle kamen hintereinander herein, die einen schüchtern, die anderen verwegen, die einen anmutig, andere tölpelhaft, einige stießen, andere zerrten einander; aber alle kamen auf irgendeine Art herein. Und nun ging es ans Tanzen, zwanzig Paare zugleich. Eine halbe Runde hin, eine halbe zurück, dann hinauf durch den ganzen Saal und wieder hinunter, und dann walzten sie, sich bald so, bald so zärtlich zusammenfindend. Das Paar, das zuerst die Spitze hielt, blieb immer an der unrechten Stelle stehen; das neue anführende Paar fing immer wieder an, wenn es stehenbleiben sollte, so daß es zum Schluß nur erste und keine letzten Paare gab! Als sie so weit waren, klatschte der alte Fezziwig in die Hände, um dem Tanz Einhalt zu gebieten, rief »Bravo!« und der Fiedler vergrub sein heißes Gesicht in einem Krug Porter, der ausschließlich zu diesem Zweck herbeigeschafft worden war. Da er aber nach seinem Wiederauftauchen jedes Ausruhen verabscheute, setzte er sofort wieder ein, obwohl noch keine Tänzer da waren, gerade als hätte man den früheren Fiedler erschöpft auf einer Tragbahre heimgeschafft, und er wäre ein ganz neuer Mann, der ihn ausstechen oder sterben wollte.

Dann folgten wieder Tänze, dann Pfänderspiele und nochmals Tänze, dann gab es Kuchen und Gewürzpunsch und dann ein großes Stück kalten Braten, dann ein großes Stück kaltes Sudfleisch, dann Fleischpasteten und eine Unmenge Bier. Aber der Gipfel des Abends kam nach dem Braten und dem Sudfleisch, als der Fiedler – ein Schlaukopf, eine Sorte Mensch, der sein Handwerk besser verstand, als du oder ich es ihn hätten lehren können! – »Sir Roger de Coverley« aufspielte. Da stand der alte Fezziwig auf, um mit Mrs. Fezziwig zu tanzen, noch dazu als erstes Paar, und das war ein hübsches Stück Arbeit für sie! Drei- oder vierundzwanzig Paare nahmen teil – Leute, mit denen im Tanzen nicht zu spaßen war, und Leute, die tanzen wollten, ohne recht gehen zu können.

Aber wenn ihrer doppelt so viele, nein, viermal so viele gewesen wären, der alte Fezziwig hätte es mit ihnen aufgenommen und ebenso Mrs. Fezziwig. Was diese anbelangt, so war sie ihres Partners würdig in jeglichem Sinn des Wortes. Wenn das kein hohes Lob ist, so sagt mir ein höheres, und ich will es gebrauchen. Ein wahres Leuchten schien von Fezziwigs Waden auszugehen, die bei jedem Teil des Tanzes wie Monde schienen: man konnte zu keinem Zeitpunkt voraussagen, was im nächsten aus ihnen werden würde. Und als der alte Fezziwig und Mrs. Fezziwig den ganzen Tanz durchgetanzt hatten, vorwärts und rückwärts, beide Hände dem Partner reichend, mit Verbeugung und Knicks, mit »Korkziehen« und »Nadeleinfädeln« und Rückkehr an den alten Platz, machte der alte Fezziwig noch einen Luftsprung, so geschickt, daß er mit den Füßen zu winken schien und doch ohne Straucheln wieder auf die Füße kam.

Als die Glocke elf schlug, war der Hausball zu Ende. Mr. und Mrs. Fezziwig stellten sich zu beiden Seiten der Tür auf und drückten jedem einzeln die Hand, wenn er oder sie hinausging, und wünschten ihm oder ihr fröhliche Weihnachten. Als alle bis auf die beiden Lehrlinge gegangen waren, verabschiedeten sie sich von diesen ebenso, der fröhliche Lärm erstarb allmählich, und die Burschen konnten ihre Betten aufsuchen, die sich unter einem Zahltisch im hinteren Teil des Ladens befanden.

 

Während dieser ganzen Zeit hatte sich Scrooge wie außer sich gebärdet. Mit Herz und Seele war er bei der Unterhaltung und bei seinem einstigen Selbst. Er bestätigte alles als getreu der ehemaligen Wirklichkeit, erinnerte sich an alles, freute sich an allem und geriet in die seltsamste Aufregung. Erst jetzt, als die strahlenden Gesichter seines früheren Ichs und Dicks verschwunden waren, erinnerte er sich wieder des Gespenstes und fühlte, daß es ihn voll ins Auge faßte, während das Licht auf seinem Kopf besonders hell strahlte.

»Es gehört wenig dazu, diese dummen Leute dankbar zu machen«, sagte das Gespenst.

»Wenig?« fragte Scrooge.

Der Geist winkte ihm, auf die beiden Lehrlinge zu hören, die sich in Fezziwigs herzlichem Lob erschöpften; und als Scrooge das getan hatte, fuhr das Gespenst fort: »Nun, ist’s nicht wahr? Er hat nur ein paar Pfund von eurem vergänglichen Gold geopfert, drei oder vier vielleicht. Ist es das wert, daß man ihm solches Lob zollt?«

»Es ist nicht das«, sagte Scrooge, gereizt durch diese Bemerkung und unwillkürlich im Tonfall seines früheren, nicht seines jetzigen Ichs. »Es ist nicht das, Geist! Fezziwig hat es in der Hand, uns glücklich oder unglücklich, unsern Dienst leicht oder mühsam, zur Freude oder zur Pein zu machen. Du kannst sagen, seine Macht liege in Worten und Blicken, in Dingen, die so gering und unbedeutend sind, daß man sie kaum aufzählen und zusammenrechnen kann – was schadet das? Das Glück, das er uns verschafft, ist ebenso groß, wie wenn es ein Vermögen kostete.«

Er fühlte den Blick des Geistes und schwieg.

»Was hast du?« fragte das Gespenst.

»Hm – nichts Besonderes«, gab Scrooge zurück.

»Etwas doch, glaube ich?« beharrte das Gespenst.

»O nein«, versetzte Scrooge, »nein. Ich möchte nur gern gerade jetzt meinem Schreiber ein oder zwei Worte sagen können. Sonst nichts.«

Sein früheres Selbst löschte gerade die Lampe, als er diesen Wunsch äußerte, und Scrooge und der Geist standen wieder nebeneinander unter freiem Himmel.

»Meine Frist ist bald um«, meinte die Erscheinung. »Rasch!«

Dieser Befehl galt weder Scrooge noch irgendeinem, den er sah, tat aber sofort seine Wirkung. Denn wieder sah Scrooge sich selbst. Er war jetzt älter, ein Mann in der Blüte seiner Jahre. Sein Gesicht zeigte nicht die schroffen, scharfen Züge späterer Jahre, aber es trug bereits den Stempel der Sorge und der Habsucht. In seinem Auge brannte ein unstetes, gieriges Feuer, das verriet, welche Leidenschaft Wurzel gefaßt hatte und wohin der Schatten des heranwachsenden Baumes fallen würde.

Er war nicht allein, sondern saß an der Seite eines hübschen jungen Mädchens in Trauer. In ihren Augen standen Tränen, und sie schimmerten in dem Licht, das der Geist der vergangenen Weihnacht ausströmte.

»Es liegt dir nichts daran«, sprach das Mädchen leise, »dir liegt gar nichts daran. Ein fremdes Götzenbild hat mich verdrängt, und wenn es dir in Zukunft Trost und Stütze sein kann, die ich dir werden wollte, so habe ich keine gerechte Ursache, zu klagen.«

»Was für ein Götzenbild sollte dich verdrängt haben?« fragte er.

»Ein goldenes.«

»Das ist der Gerechtigkeitssinn der Welt!« sagte er. »Nichts verabscheut sie so sehr wie die Armut, und nichts verdammt sie so streng wie das Trachten nach Wohlstand!«

»Du fürchtest die Welt zu sehr!« antwortete sie bescheiden. »All deine anderen Hoffnungen sind aufgegangen in der einen, ihrem herben Tadel zu entgehen. Ich habe alle deine edleren Regungen eine nach der andern erlöschen sehen, bis dich deine Hauptleidenschaft beherrschte: Gewinnsucht. Ist’s nicht so?«

»Und was weiter?« entgegnete er. »Auch wenn ich um so vieles klüger geworden bin, was weiter? Gegen dich bin ich unverändert.«

Sie schüttelte den Kopf.

»Oder nicht?«

»Unser Verlöbnis ist alt. Es wurde geschlossen, als wir beide noch arm waren und bereit, es zu sein, bis wir zu guter Stunde unsere Lebenslage durch geduldigen Fleiß gebessert haben würden. Du hast dich geändert. Als wir uns verlobten, warst du anders.«

»Ich war noch ein Knabe«, warf er ungeduldig ein.

»Dein eigenes Gefühl sagt dir, daß du nicht warst, wie du jetzt bist«, versetzte sie. »Ich bin dieselbe. Was uns einst Glück versprach, als wir noch ein Herz und eine Seele waren, ist nun mit Kummer belastet, da wir nicht mehr eins sind. Wie oft und wie bitter ich diesem Gedanken nachhing, will ich nicht sagen; es ist genug, daß ich es getan habe und daß ich dich freigeben kann.«

»Habe ich je frei zu werden gesucht?«

»In Worten – nein! Nie!«

»Wodurch denn?«

»Durch dein verändertes Wesen, deine andere Sinnesart, durch andere Gewohnheiten, andere Lebenserwartungen. Alles hat sich geändert, was meine Liebe in deinen Augen wertvoll oder erwünscht machte. Wenn nie etwas zwischen uns gewesen wäre«, fuhr das Mädchen fort, indem sie ihm mild, aber fest ins Auge sah, »sag selbst, würdest du mich jetzt noch erwählen und dir Mühe geben, mich zu gewinnen? Nein!«

Wider Willen schien er die Richtigkeit ihrer Annahme zuzugeben; er sagte aber krampfhaft: »Das glaubst du selbst nicht.«

»Ich dächte gern anders, wenn ich könnte«, erwiderte sie. »Gott weiß es. Aber wenn sogar ich eine Wahrheit wie diese begriffen habe, dann weiß ich, wie stark und unumstößlich sie sein muß. Wärst du gestern, heute, morgen frei – soll ausgerechnet ich glauben, daß du ein armes Mädchen wählen würdest, du, der du sogar in deinem vertrautesten Umgang mit mir alles nach dem Gewinn abschätzt? Und wenn du für kurze Zeit deinem einzigen Leitgedanken untreu genug wärst, um sie zu wählen – weiß ich denn nicht, daß dich Reue und Bedauern erfassen würden? Ich weiß es, und daher gebe ich dich frei. Mit einem Herzen voll Liebe für den, der du einst warst.«

Er wollte etwas entgegnen, aber sie fuhr mit abgewandtem Gesicht fort: »Es wird dir vielleicht weh tun – die Erinnerung an das Vergangene läßt es mich fast hoffen. Aber nur sehr, sehr kurze Zeit – und dann wirst du froh die Erinnerung als nutzlosen Traum verscheuchen, aus dem du zum Glück erwacht bist. Mögest du glücklich sein in dem Leben, das du erwählt hast.«

Sie verließ ihn, und sie verschwanden beide. »Geist!« rief Scrooge, »zeige mir nichts mehr! Führe mich heim. Warum macht es dir Freude, mich zu foltern?«

»Nur einen Schatten noch!« versetzte der Geist.

»Nein, keinen mehr!« rief Scrooge, »ich will nichts mehr sehen! Zeige mir nichts mehr!«

Allein das unerbittliche Gespenst umfaßte ihn mit beiden Armen und nötigte ihn, mit anzusehen, was sich jetzt abspielte.

Sie standen wieder auf einem andern Schauplatz: in einem Zimmer, das weder sehr groß noch hübsch, aber behaglich ausgestattet war. Nahe dem winterlichen Feuer saß ein schönes junges Mädchen, dem vorigen so ähnlich, daß Scrooge es für dasselbe hielt, bis er jene, jetzt als stattliche Matrone, ihrer Tochter gegenübersitzen sah. Wilder Lärm herrschte in diesem Gemach, denn es waren mehr Kinder da, als Scrooge in seinem aufgeregten Gemütszustand zählen konnte, und anders als bei der Herde, die das Gedicht feiert, betrugen sich nicht vierzig Kinder wie eines, sondern jedes wie vierzig. Die Folge war ein unglaublicher Tumult, aber niemand schien sich darum zu kümmern; im Gegenteil: Mutter und Tochter lachten herzlich und schienen Gefallen daran zu finden; ja, die Tochter begann bald an dem Umtrieb teilzunehmen und wurde von den jungen Spitzbuben unbarmherzig ausgeplündert. Was hätte ich nicht darum gegeben, einer von ihnen zu sein – obwohl ich nie so roh hätte sein können, gewiß nicht! Für alle Schätze der Welt hätte ich dieses schön gescheitelte Haar nicht verwirren und herabzerren mögen, und den zierlich kleinen Schuh hätte ich ihr nicht weggerissen, Gott bewahre, und wäre es um mein Leben gegangen. Auch ihre Taille im Spaß zu messen, wie die freche junge Brut es tat, hätte ich nicht fertiggebracht: ich hätte gefürchtet, mein Arm werde zur Strafe krumm wachsen und nie wieder gerade werden. Und doch hätte ich brennend gern ihre Lippen berührt, sie etwas gefragt, damit sie den Mund öffne, hätte gern die Wimpern ihrer niedergeschlagenen Augen betrachtet, ohne sie erröten zu machen; hätte gern ihr Haar gelöst, von dem mir eine einzige Locke ein über alle Maßen kostbares Andenken gewesen wäre; kurz, ich gestehe, ich hätte gern das kleinste Vorrecht eines Kindes gehabt und wäre dabei doch gern Manns genug gewesen, um seinen Wert richtig einzuschätzen.

Aber nun ließ sich ein Klopfen an der Tür vernehmen, und das rief sogleich ein fürchterliches Gedränge hervor. Die junge Dame wurde mit lachendem Gesicht und zerzausten Kleidern inmitten einer lärmenden, mutwilligen Gruppe der Tür zugeschoben, gerade rechtzeitig, um den Vater zu begrüßen, der in Begleitung eines mit Weihnachtsspielzeug und Geschenken beladenen Mannes nach Hause kam. Da hätte einer das Kreischen und das Drängen und den Angriff sehen sollen, der auf den wehrlosen Lastträger eröffnet wurde. Auf Stühlen statt der Leitern kletterten sie an ihm empor, um in seine Taschen zu greifen, ihn der braunen Papierpaketchen zu berauben, sich an sein Halstuch zu klammern, ihn um den Nacken zu fassen und in hemmungsloser Aufwallung ihm auf den Rücken zu trommeln und ihn in die Waden zu zwicken! Die Ausrufe des Staunens und des Jubels, die das Öffnen jedes Pakets begleiteten, die Schreckensbotschaft, das Kleinste sei dabei ertappt worden, wie es die Schmorpfanne der Puppe in den Mund steckte, und stehe stark im Verdacht, einen Truthahn, der auf ein hölzernes Blöckchen festgeleimt war, verschluckt zu haben, die grenzenlose Erleichterung, als man fand, daß dies nur ein blinder Alarm gewesen war, die Freude, die Dankbarkeit, das Entzücken – das alles läßt sich nicht wahrheitsgetreu beschreiben. Es genügt zu wissen, daß sich die Kinder samt ihrer Aufgeregtheit allmählich aus der Wohnstube entfernten und, von Stufe zu Stufe springend, in die Mansarde gelangten, wo sie zu Bett gingen und so zur Ruhe kamen.

Nun verfolgte Scrooge mit größter Aufmerksamkeit, wie sich der Herr des Hauses, an den sich seine Tochter liebkosend anschmiegte, mit dieser und ihrer Mutter zum Kamin setzte; und als er sich vorstellte, daß ein ebenso liebliches und verheißungsvolles Wesen ihn hätte Vater nennen, daß es ihm ein Frühling in den rauhen Wintertagen des Lebens hätte sein können, da wurden seine Augen trüb.

»Bella«, sprach der Hausherr lächelnd zu seinem Weib, »ich sah heute nachmittag einen deiner alten Anbeter!«

»Wen denn?«

»Rate!«

»Wie kann ich! Gott, als ob ich’s nicht wüßte«, fügte sie noch im selben Atemzug hinzu und stimmte in sein Lachen ein. »Mr. Scrooge.«

»Ja, den! Ich ging unter dem Fenster seines Kontors vorüber, und da die Läden noch nicht geschlossen waren und drinnen eine Kerze brannte, mußte ich ihn notgedrungen sehen. Sein Partner liegt auf den Tod krank, wie ich höre, und da saß er nun allein. Ich glaube, ganz allein in der Welt.«

»Geist!« hub Scrooge mit gebrochener Stimme an, »führ mich weg von hier.«

»Ich sagte dir ja«, gab die Erscheinung zur Antwort, »dies sind nur Schatten von Dingen, die gewesen sind. Daß sie sind, was sie sind, darfst du mir nicht zum Vorwurf machen!«

»Führ mich weg!« rief Scrooge. »Ich kann es nicht ertragen!«

Er drehte sich nach dem Gespenst um. Da sah er, daß es ihn mit einem Gesicht anblickte, in dem sich seltsamerweise Bruchstücke aller der Gesichter vereinigten, die Scrooge zu sehen bekommen hatte, und er begann mit ihm zu ringen.

»Verlaß mich! Bring mich zurück. Verfolge mich nicht länger!«

In dem Kampf – wenn es ein Kampf genannt werden kann, da der Geist, ohne sichtbaren Widerstand zu leisten, doch durch den Angriff seines Gegners nicht berührt wurde – bemerkte Scrooge, daß das Licht des Geistes hoch und hell brannte, und da er das mit seiner Macht über ihn in eine unklare Verbindung brachte, ergriff er die Mütze, die wie ein Lichtauslöscher aussah, und drückte sie ihm mit einer raschen Bewegung auf den Kopf.

Der Geist verschwand darunter, so daß die Kappe seine ganze Gestalt überdeckte; aber obwohl Scrooge sie mit aller Kraft niederdrückte, konnte er doch das Licht nicht auslöschen, das sich darunter hervor über den ganzen Boden ergoß.

Scrooge fühlte sich erschöpft und von unwiderstehlicher Schläfrigkeit übermannt und war sich zugleich bewußt, in seinem Schlafzimmer zu sein. Er gab der Mütze noch einen letzten Druck, indes seine Hand erlahmte, und hatte sich kaum ins Bett gelegt, als er auch schon in tiefen Schlaf sank.

 
Купите 3 книги одновременно и выберите четвёртую в подарок!

Чтобы воспользоваться акцией, добавьте нужные книги в корзину. Сделать это можно на странице каждой книги, либо в общем списке:

  1. Нажмите на многоточие
    рядом с книгой
  2. Выберите пункт
    «Добавить в корзину»